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Übergänge angemessen begleiten
ОглавлениеÜbergänge gibt es viele in einem Leben. Doch sie werden bei uns nur noch selten und nicht mehr ausreichend oder angemessen begleitet, ausgenommen vielleicht die Heirat.
Aber auch dies sind Übergänge: das Geborenwerden, der Übergang vom Kind zur/zum Jugendlichen, die erste Menstruation, das Erwachsenwerden, das Ende der Schulzeit, der Auszug aus dem Elternhaus, der Beginn der eigenen Lebensgestaltung, eigene Projekte, Umzug, (Lohn-)Arbeitsplatzwechsel, eventuell das Elternwerden, die Wechseljahre, das Älterwerden, der Auszug der eigenen Kinder, eventuell das Großelternwerden, der Eintritt in den sogenannten Ruhestand … Immer wieder beginnt ein neuer Lebensabschnitt, das Alte will verabschiedet werden, große Veränderungen begleiten uns … All dies braucht eigentlich gute Begleitung: die Übergangsbegleitung.
Vor allem Jugendlichen an der Schwelle zum Erwachsenwerden und Frauen in den Wechseljahren mangelt es heutzutage meist daran. Ich halte dies für einen der Gründe, warum Jugendliche aller Gesellschaftsschichten sich so häufig in Alkoholexzesse stürzen – und sich und andere dadurch leider immer wieder in lebensgefährliche Situationen bringen. Sie spüren die Grenze, wollen sie erfahren und wissen nicht, wie. Es gibt keinen Halt, keine gesellschaftliche Übereinkunft und keine wirklich tragenden Traditionen mehr, wie junge Menschen diesen Übergang durchleben können und willkommen geheißen werden in ihrer neuen Verantwortlichkeit, an ihrem neuen Platz in der Gemeinschaft.
Übergänge sind immer sehr besondere und sehr verletzliche Zeiten in unserem Leben. Nach dem Tod einer engen Freundin, eines geliebten Partners, einer sehr nahen oder sehr wichtigen Person in unserem Leben brauchen wir eine entsprechende Unterstützung, damit wir in einem gut geschützten und einfühlsam begleiteten Raum durch den Schmerz gehen, trauern und den Gefühlen Ausdruck geben können … erleben, erfahren, mit allen Sinnen versuchen zu begreifen, was das bedeutet, dass die Geliebte, der liebe Mensch nun tot ist. Unwiderruflich.
Was bedeutet Übergangsbegleitung? Dies wird vielleicht am besten am Beispiel des Rituals der Hochzeit deutlich: Die Heirat ist derzeit das größte, bedeutungsvollste und fast das einzig übrig gebliebene überkonfessionelle Übergangsritual zu Lebzeiten in dieser Gesellschaft. Die wesentlichen Merkmale dieses Rituals sind: die Vorbereitung darauf, ein besonderer festlicher Rahmen, spezielle Kleidung, ein genau festgelegter Zeitraum und Ablauf, meist werden viele Menschen dazu eingeladen und nehmen aktiv daran teil. Sie bezeugen dieses große Ritual, bei dem zwei Menschen ihre Verbindung öffentlich feiern und würdigen, dass sie gemeinsam ihr Leben miteinander teilen, füreinander da sein wollen in guten wie in schlechten Zeiten. Ein Versprechen, das, wie die meisten hoffen, ein Leben lang gehalten wird oder eben so lange, bis die Wege sich wieder trennen. Zum Ritual gehört zum Beispiel das Aussuchen des Brautkleids: ein Raum, in den die zukünftige Braut meist ihre allernächsten Lieben mitnimmt und in welchem sie, vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben, als Frau wahrgenommen und willkommen geheißen wird. Die BegleiterInnen, meist Frauen, spiegeln ihr und sagen ihr: Wie schön, dass es dich gibt! Wir sehen deine Freude und deine Angst, deine Tränen und deine Schönheit als Frau, deine Berührbarkeit und dein Hoffen auf ein glückliches Leben an der Seite deines Partners oder deiner Partnerin! Oft wird geweint und viele sind berührt von diesem Moment, in dem etwas sehr Wesentliches geschieht: Bewusst und mit offenem Herzen wird diese Frau bei einem für sie wichtigen Schritt in ihrem Leben wahrgenommen und gewürdigt.
Hört sich ganz einfach an, passiert aber leider sonst viel zu selten im Leben der meisten Menschen, obwohl solch ein Ritual nicht nur auf die Paarbeziehung beschränkt sein sollte. In der Einfachheit liegt übrigens oft ein großer Zauber, eine tiefe Weisheit und Kraft.
Bei der Trauung gibt es sogar Trauzeugen, selbst im Standesamt. In diesem bedeutungsvollen Ritual wollen zwei Menschen ihrer Verbindung einen offiziellen „Segen“ geben, egal, ob konfessionell oder nicht. Sie wollen von anderen gute Wünsche für ihren gemeinsamen Weg und sie wollen für diesen Schritt die Würdigung ihrer Familien, Freundinnen und Freunde sowie der gesamten Gesellschaft – und dies bekommen sie auch in aller Regel, vor allem dann, wenn sie heterosexuell sind. Aber auch lesbische und schwule Verbindungen bekommen durch die Heirat inzwischen eine größere gesellschaftliche Akzeptanz und Würdigung als noch vor ein paar Jahren und das ist für alle Menschen sehr wichtig.
Das Bezeugen dieses Schrittes bei diesem Übergang ist ein sehr wichtiger Akt und macht das Geschehen in vieler Hinsicht erst real für diejenigen, die diesen Schritt nun wagen. Es verankert diesen großen Schritt, diesen Beginn in der Wirklichkeit ihres Lebens. Diese ZeugInnenschaft hat in vielen Lebenssituationen eine sehr entscheidende Bedeutung. Auch das Bezeugen von schlimmen Dingen, wie zum Beispiel Gewalterfahrungen, ist sehr wichtig …
Kritisch anzumerken ist bei der Heirat natürlich, dass noch immer zu oft ein starker gesellschaftlicher Druck zwei Menschen zur Heirat nötigt, dass Frauen mehr geachtet sind, wenn sie „ordentlich“ verheiratet sind, und leider noch immer dadurch stärker von der Gesellschaft akzeptiert werden als unverheiratete Frauen, die von vielen Seiten damit genervt werden, wann sie den „Richtigen“ denn nun finden. Ebenso kritisch sehe ich, dass andere Lebensformen weder gesetzlich noch gesellschaftlich gleichwertig anerkannt sind: unverheiratete Paare, Menschen in selbst gewählten und für sie bedeutsamen Lebens- und Wohngemeinschaften, Menschen, die sich gemeinsam um Kinder und/oder pflegebedürftige Menschen kümmern, ohne deshalb in Paarbeziehungen zu leben, Menschen, die sich ohne PartnerIn um Kinder kümmern (sogenannte Alleinerziehende) usw.
Aber am Beispiel des Rituals der Heirat wird sehr deutlich, was wirklich im Übergang wichtig ist: eine bestimmte Vorbereitung, ein besonderer Zeitraum, der sehr bewusst gestaltet und begangen wird – und ganz wichtig: andere, die bezeugen und spiegeln, dass es real ist, dass jetzt ein neuer Lebensabschnitt beginnt, dass alle Gefühle da sein dürfen und willkommen sind. BegleiterInnen, die diesen Raum und diese Zeit schützen, die im vollen Umfang und ganz ohne Wertung anerkennen, wissen und sich davon berühren lassen, was es bedeutet, diesen Schritt zu wagen, der immer auch ein Schritt ins Unbekannte ist und deswegen Mut erfordert: entweder die Verbindung mit einer anderen Person öffentlich zu würdigen und zu feiern – oder wahrhaftig und ganz in Berührung damit zu gehen, dass ein geliebter Mensch gestorben ist. Und das bedeutet für die BegleiterInnen immer: mit dem Herzen in Berührung zu gehen – im Falle einer Bestattung mit der Trauer und dieser/diesem Toten. Denn nur dann können sie wirklich angemessen begleiten. Es bedeutet auch, die Menschen zu bestärken, in der Situation des Übergangs ihren eigenen Weg zu gehen, herauszufinden, was für ein Weg das ist, ihre Wahrnehmung dafür zu stärken, was für sie in dieser Situation stimmig ist, und sie zu unterstützen, einen Ausdruck dafür zu finden. Es bedeutet, jedes Mal von Neuem offen zu sein für den Weg der Begleiteten, nicht zu werten und die eigenen Erfahrungen nie als allgemeingültige Prognosewerkzeuge zu benutzen für das „richtige Ergebnis“ eines Überganges. Eine ganz klassische Trauerkarte kann ein ebenso stimmiger Ausdruck sein wie ein Sarg, bunt beschrieben mit guten Wünschen aller Abschiednehmenden. Mit erdigen Gummistiefeln vom Acker und nur mit den TrauzeugInnen zum Standesamt zu gehen kann genauso stimmig sein wie die Hochzeit im Wasserschloss mit Smoking, Brautkleid und 200 GästInnen.
Übergangsbegleitung28
Wir nehmen die Toten wieder in unsere Mitte
und heben für diesen Moment
die zerstörerische Trennung von Leben und Tod auf.
Leben und Tod – Geburt und Sterben gehören zusammen,
gehören zu unserem Leben,
gehören in unsere Mitte.
Jeder Tod macht uns die kostbare Einmaligkeit unseres Lebens bewusst
und jede Geburt lässt uns das Wunder des Lebens neu erfahren.
Die Ehrfurcht vor Leben und Tod lehrt uns Respekt vor der Natur, der Erde,
die uns nährt,
und den Frauen, durch die alle Menschen geboren werden,
die ein tiefes Wissen über Geburt und Tod – über die Lebensübergänge – in sich tragen.
Trennung, Abschied und Trauer gehören zu unserem Leben, wie der stetige
Wandel,
der das Einzige ist, dessen wir uns wirklich sicher sein können.
Ein endgültiger Abschied beim Tod von einer uns nahestehenden Person kann nur dann wirklich gut in das Leben integriert werden, wenn auch die Verstorbenen wieder einen Raum in unserem Leben bekommen – wenn möglich noch bevor wir sie zu Grabe tragen, in diesen so wesentlichen und wichtigen Tagen zwischen Tod und Bestattung, in denen die wichtigsten Trittsteine für den Weg der Trauernden gelegt werden können.
BegleiterInnen können hier wesentlich zur Heilung des tiefen Schmerzes und des Schocks beitragen, wenn sie ohne Angst oder Ekel in Berührung mit den Toten gehen, die Verstorbenen mit Liebe und Respekt behandeln und selbstverständlich
die Angehörigen ermutigen,
mit ihren Toten zu sein.
Berührung auf allen Ebenen geht nur mit bedingungsloser, allumfassender Liebe, die alle Menschen, alle Lebendigkeit mit einbezieht – und Tod als eine Seite des
Lebens begreift.
Da sein. Sich einlassen. Sich berühren lassen,
von allem, was in diesem Moment ist.
Das ist Begleitung, die von Herzen kommt
und einen heilsamen Raum für den Abschied schafft.