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Alfred der Große – Nemesis der Wikinger
Оглавление»Das Unglück, das jetzt über England kam, war größer und härter als alle anderen. Die Römer haben Britannien unterjocht, aber sie haben mit Glanz zu herrschen gewusst. Die Pikten und Scotten sind oft ins Land eingefallen, aber nur an einer Stelle, und wurden sie einmal geschlagen, so kamen sie lange nicht wieder. Die Sachsen haben das Land erobert, aber nachher haben sie es bebaut und nach Gesetzen regiert. Die Dänen aber greifen von allen Seiten an und wollen das Land nicht behalten, sondern plündern, nicht beherrschen, sondern nur verwüsten.«44
Das Jahr 875 sah das Kloster auf der Nordostengland vorgelagerten Insel Lindisfarne in Angst und Schrecken. Mönche liefen in Panik kopflos hin und her. Hastig wurden wertvolle Monstranzen, kostbare liturgische Gewänder, goldene, mit Edelsteinen besetzte Messkelche geborgen und in Sicherheit gebracht.
Jetzt kam die schwierigste Aufgabe, eine Arbeit, die viel Fingerspitzengefühl erforderte. Es war an den Brüdern, die Gebeine des Heiligen Cuthbert zu bergen, eines der größten Wundertäter der angelsächsischen Kirche und des Schutzpatrons Northumbrias.
Unter der persönlichen Aufsicht von Bischof Eardulf wurde die kostbare Reliquie vorsichtig aus dem Sarkophag gehoben und in einen grob gezimmerten Holzsarg umgebettet, in dem noch der Totenschädel des Klosterstifters Aidan und andere Heiligenknochen Platz fanden. Behutsam, fast ehrfurchtsvoll legten die Mönche den Sarg auf einen Karren. Nur eine falsche Bewegung, nur ein Ruck – so dachten sie zumindest –, und das Fleisch des am 20. März 687 verstorbenen St. Cuthbert fiele ihm von den Knochen.
Denn mit den sterblichen Resten des Heiligen hatte es eine besondere Bewandtnis: Nur elf Jahre nach seinem Tod war der Leichnam anlässlich einer Umbettung vom Klosterfriedhof in die Klosterkapelle unverwest vorgefunden worden, was von den Gläubigen als Beweis von Cuthberts Wunderkraft gedeutet wurde. Seitdem war aus der einsam gelegenen Klosterabtei auf Lindisfarne ein Wallfahrtsort geworden. Eine solch kostbare Reliquie durfte den skrupellosen und grausamen Seeräubern, deren Scharen seit Jahrzehnten England verheerten, nicht in die Hände fallen.
793 hatten schon einmal Wikinger das Kloster überfallen, die Brüder massakriert und das Kloster eingeäschert. Das durfte sich nicht wiederholen. Nur, wohin sollten die Mönche fliehen? Bischof Eardulf wusste die Lösung. Um nicht Opfer der Wikinger zu werden, mussten sie tief nach Northumbria ziehen. Eine andere Möglichkeit gab es nicht.
Seit eine riesige, aus 350 Schiffen bestehende Flotte dänischer Wikinger 865 in Ost-Anglia eingefallen war, war nichts mehr wie zuvor. In einem Sturmlauf sondergleichen hatten die Dänen 867 das Königreich Northumbria überrannt und dessen Hauptstadt York erobert, dann 869 das Reich Ost-Anglia vernichtet, dessen König sie bestialisch ermordeten. 870 war das keltische Königreich von Strathclyde (heutiges Westschottland) von Wikingerhorden überflutet worden, bevor die Seeräuber 874 endgültig das Königreich Mercia bezwangen, wo sie einen Schattenkönig einsetzten.
Der Feldzug war der vorläufige Abschluss einer Entwicklung, die 787 in Dorset in der Bucht von Portland begonnen hatte.
»In diesen Tagen kamen die Dänen in drei Schiffen nach Britannien, um zu plündern. Als der königliche Beamte jener Gegend dies wahrnahm, ging er ihnen mit mehr Zuversicht als er hegen sollte entgegen, um sie festzunehmen und vor den König zu führen. Er wusste nicht, wer sie waren und woher sie kamen. Kaum war er bei ihnen, so machten sie ihn nieder. Er ist der erste der Angeln, den die Dänen erschlugen, nach ihm sind viele tausendmal Tausende von ihnen erschlagen worden, und die Schiffe sind die ersten dänischen, welche in England anlandeten.«45
So weit der Bericht des Mönches Heinrich von Huntingdon, der uns eine der Völkerschaften genau beschreibt, die an jenem Raubzug teilnahmen. Die Angelsächsische Chronik geht sogar noch weiter: Im Eintrag für das Jahr 787 nennt sie die Mörder des königlichen Beamten Piraten.
Diese Seeräuber, von den Zeitgenossen manchmal auch »Dänen« oder »Normannen« genannt, gingen als »Wikinger« in die Geschichte ein. Über die Bedeutung des Wortes ist viel gerätselt worden. Es gibt Erklärungsvarianten, die das Wort vom germanischen Wort »Vig« (Kampf, Streit), vom lateinischen »Vicus« (Siedlung) oder von »Vik« (Bucht) ableiten, da die Wikinger angeblich mit Vorliebe in Buchten landeten.46 Einigkeit besteht in der Forschung darin, in der Bezeichnung keinen ethnischen Begriff zu sehen.
Die wahrscheinlichste Variante ist die Deutung des Wortes als »Kämpfer, die über die See fahren«. Auf alle Fälle wurde der Begriff »Wikinger« zum Synonym für »Seeräuber«, wobei nicht die klassische Beraubung von Fahrzeugen zur See, sondern Küstenraub gemeint war. In dieser Hinsicht glichen die Wikinger den Sarazenen. Vielleicht offenbart der Begriff das Selbstverständnis der Wikinger, sich selbst als Krieger zu sehen, die auf Beutefahrt gingen. Im Prinzip waren sie mörderische Raubtouristen mit einem ausgeprägten Hang zur saisonalen Piraterie.
Zu Beginn der Wikingerzeit begann die klassische Heerfahrt grundsätzlich im Frühling und endete rechtzeitig vor den Herbststürmen. Dann fuhren die Wikinger in ihre Heimat zurück. Bei allen Wikingerzügen war der eigentliche Seeraub, die Beraubung fremder Schiffe, nur ein Nebeneffekt. Das erklärte Ziel der Wikinger war der Raubzug an Land.
Dabei sah die Vorgehensweise fast immer gleich aus. Nach mehrtägiger Seefahrt landeten die Wikinger völlig überraschend an der Zielküste, um entweder direkt Städte und Siedlungen am Meeresufer auszuplündern oder flussaufwärts zu fahren, wo sie im Hinterland Beute machten. Dabei gingen sie mit äußerster Brutalität vor und hieben alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellte.
In der Anfangsphase plünderten sie entlegene Gehöfte, Dörfer, Klöster oder Kirchen, später griffen sie selbst befestigte Städte an. Ziel ihrer Raubzüge waren Menschen, Vieh, Kirchenschätze und andere bewegliche Habe. Hatten sie sich mit Beute eingedeckt, folgte dem blitzartigen Angriff ein ebenso schnell angeordneter Rückzug zu den Schiffen. Noch bevor die Überfallenen sich zur Gegenwehr rüsten konnten, stachen sie schon wieder in See.
Diese Hit-and-Rob-Taktik war nur so erfolgreich, weil die Wikinger über eine Allzweckwaffe verfügten: das Langschiff. Geeignet für eine Überfahrt, gering im Tiefgang, eignete es sich perfekt dazu, nicht nur das Meer zu überqueren, sondern auch auf Flüssen und in seichten Küstengewässern zu operieren.
Mehrere essenzielle Neuerungen machten die Langschiffe besonders seetüchtig. Der Schiffsrumpf war lang und schmal, der Steven vorn und hinten gleich hoch und stark nach oben gezogen. Dies nahm der Schlagsee die Kraft. Des Weiteren stabilisierte ein mittschiffs verlaufender Kiel die Lage des Wikingerschiffs, was es den Wikingern besser ermöglichte, gegen den Wind zu kreuzen. Außerdem wirkte es einer Abdrift entgegen.
Dadurch, dass die Schiffe der Wikinger besonders leicht, lang und schmal waren – manche hatten eine Länge von 25 Metern –, konnten sie Geschwindigkeiten von 6 bis 12 Knoten erreichen. Bei Flauten, widrigen Winden, im Gefecht und bei der Flucht wurden die Schiffe von ihren Mannschaften gerudert. Ein weiterer Vorteil des Langschiffs war, dass der Mast abklappbar war, was die Durchfahrt unter Brücken landeinwärts ermöglichte. Die Besatzungszahl richtete sich nach der Schiffsgröße: Die »Snekkja« konnte bis zu 40 Mann fassen, die »Skaid« bis zu 60, der »Drachen« zwischen 60 und 100 an Bord nehmen.
Die hohe Flexibilität der Langschiffe hatte Auswirkungen auf die Angriffstaktik der Wikinger. Das Langschiff ermöglichte es ihnen, an seichten Stellen zu landen, wo Angeln und Sachsen dies nicht erwarteten, oder Flüsse landeinwärts hochzufahren. Dabei kamen verschiedene Antriebstechniken zum Einsatz. Mal wurde gerudert, mal gegen die Flussströmung getreidelt. Oft wurden die Schiffe über Landengen hinweggetragen oder über Holzbohlen gezogen, um sie im nächsten See oder Flusslauf wieder zu Wasser zu lassen. Somit konnten die Wikinger überall, wo Wasser war, mühelos angreifen.
Das hieß für die Verteidiger: Wer die Wikinger bekämpfen wollte, musste entweder über eine starke Flotte oder über ein intaktes Frühwarnsystem verfügen. War dies nicht vorhanden, so blieb nur die Bekämpfung der Piraten durch ein starkes Landheer übrig. Im Fall des Frankenreiches und der angelsächsischen Königreiche führte dieser Umstand zu der absurden Situation, dass die Abwehrschlachten gegen die Seeräuber nicht zu Wasser, sondern fast ausschließlich zu Lande geschlagen wurden.
Das war ein unermesslicher Vorteil für die Wikinger, ermöglichte er ihnen doch nach Belieben, Zeit und Ort der Kampfhandlung zu bestimmen. In nur kurzer Zeit wurden die Raubzüge in Übersee aufgrund der gemachten Beute äußerst populär. Abteien, Klöster und Kirchen zogen die Wikinger aufgrund ihres Reichtums in Scharen an. Hier war es leicht, große Beute zu machen und schnell reich zu werden.
Die Wikingerüberfälle im Westen trafen das Frankenreich genauso hart wie Irland, Schottland und die angelsächsischen Königreiche. 795 raubten die Wikinger Vieh in Wales und Irland, das sie noch am Strand schlachteten. Drei Jahre später plünderten sie die Insel Man in der Irischen See. 802 überfielen sie an Schottlands Westküste Jona, eine Insel der kleinen Hebriden, wo sich das Zentrum der schottisch-irischen Kirche befand, das Kloster des Heiligen Colomban. Es ging in Flammen auf. Ein vier Jahre später erfolgter Überfall auf die Klosterinsel war noch verheerender. Diesmal plünderten die Seeräuber nicht nur, sie erschlugen auch 68 Mönche. Kein Wunder, dass die Mönche überall die Wikinger fürchteten. Ab 807 fielen sie in Scharen über Irland her, das sich nur mit Mühe ihrer Angriffe erwehrte.
In dieser ersten Phase der Wikingerzüge dominierten noch die Angriffe kleiner Seeräuberflotillen. Dabei blieb es nicht. Ab 834 begannen die Überfälle aggressiver zu werden. Zwischen 834 und 837 griffen die Wikinger allein das friesische Dorestad, einen internationalen Handelsplatz an der Rheinmündung, dreimal an.
Zur selben Zeit kreuzte eine Wikingerflotte vor der Ostküste des Königreichs von Wessex. 835 verheerte es die Insel Sheppey vor der Themsemündung. Ein Jahr später schlugen die Wikinger ein Aufgebot der Westsachsen bei Carhampton.
Ab jetzt wurden die britischen Inseln und die angelsächsischen Königreiche von Wikingerscharen überflutet. 839 eroberten die Nordmannen Ostirland, 845 plünderten sie Hamburg und Paris. 851 griffen Wikinger mit 350 Schiffen Canterbury und London an. Kurz darauf wurden sie von König Aethelwulf von Wessex bei Aclea vernichtend geschlagen.
Es sollte nur ein kurzer Rückschlag sein.
Knapp 14 Jahre später segelte eine riesige Flotte von 350 Langschiffen nach Kent. Es war der Angriff der legendären großen Heidenflotte. Sie machte auf die angelsächsischen Chronisten einen derartigen Eindruck, dass sie jene nur ehrfurchtsvoll mit »The Force« bezeichneten. In der Tat war die Größe der Armee, die anscheinend hauptsächlich aus Dänen bestand, für damalige Verhältnisse gewaltig.
Mit der Ankunft der Dänen traten die Züge der Wikinger aus der Phase purer Seeräuberei ins Stadium des Eroberungszugs und der Landnahme.
Zwischen 867 und 870 brachen nacheinander die Königreiche Northumbria und Ost-Anglia unter den Hammerschlägen der Wikingerinvasion zusammen, was ihre Könige nicht nur die Herrschaft, sondern auch das Leben kostete. Einzig Wessex gelang es noch, sich unter König Alfred zu behaupten. Dieses Königreich umfasste die sächsischen Bezirke Kent, Essex, Sussex und Wessex. Es grenzte im Westen an das keltisch besetzte Cornwall, im Osten an die Nordsee. Die Nordostgrenze verlief nördlich des Flusses Stour, die Nordwestgrenze verlief südlich von Wales.
Trotz heftiger Gegenwehr musste sich Alfred nach einer schweren Niederlage bei Wilton 872 den Frieden in Form von Tributzahlungen erkaufen. Damit hatte Alfred faktisch seine Niederlage bestätigt, obwohl er tapfer bis zum Schluss gekämpft hatte. Die andauernden Angriffe der Wikinger hatten jedoch die Kräfte seines Königreichs verzehrt und von seinem Heer einen hohen Aderlass gefordert.
Die größte Katastrophe war jedoch, dass Alfred hilflos zusehen musste, wie sein treuester Bündnispartner, das Königreich von Mercia, 874 im Kampf gegen die Wikinger unterging und zu einem machtlosen Vasallenstaat der Nordmänner wurde.
Jetzt konnte der junge König von Wessex nur noch auf sich zählen. Zum Glück war Alfred ein tatkräftiger und hochgebildeter Monarch. In jungen Jahren war der erst 26-jährige König mit seinem Vater in Rom gewesen. Auf seiner fast zweijährigen Reise durch Europa hatte er viel von der Welt gesehen. Er besaß den Vorzug, tief gläubig und sehr gebildet zu sein, hatte jedoch eine Schwachstelle: seine Gesundheit.
Alfred war kränklich und litt an plötzlich wiederkehrenden krampfartigen Anfällen und Fieberschüben, die ihn tagelang außer Gefecht setzten. War es Epilepsie oder die göttliche Strafe für sündhafte Ausschweifungen, wie sein Biograf, der walisische Mönch Asser, Bischof von Sherborne, vermutete? Den Symptomen nach könnte es sich um das sogenannte Sumpffieber, eine europäische Abart der afrikanischen Malaria gehandelt haben, die sich Alfred vielleicht auf seinen Reisen zuzog.
Dies alles ist Spekulation und wird nie herausgefunden werden. Das Schicksal Wessex’ – und damit des späteren Englands – hing demnach von Alfreds Wohlergehen ab und somit an einem seidenen Faden. Trotzdem gab Alfred nicht auf. Wessex brauchte ihn. Der Friede mit den Wikingern erwies sich als trügerisch. Immer wieder kam es zu kleineren Raubzügen der unverbesserlichen Piraten. Dies durfte Alfred nicht zulassen.
Schenken wir den dürftigen Quellen Glauben, versuchte Alfred schon 875, eine Seemacht aufzubauen. Wie der walisische Mönch Asser vermerkt, war sich der junge Sachsenkönig in Ermangelung einer Flotte nicht zu schade dafür, sogar Seeräuber in seine Dienste zu nehmen.47 Durch die Piraten verstärkt, griff er sechs Wikingerschiffe an, von denen er eines enterte. Es war der erste Seesieg, den Alfred persönlich im Kampf gegen dänische Seeräuber erfocht.
Leider blieb er vorerst nur eine Episode. Mitten im tiefsten Frieden brach im selben Jahr eine Abteilung des Großen Heeres von Repton in Mercia auf und marschierte nach Cambridge, an die Nordgrenze von Wessex.
Hier überwinterten die Dänen, wobei sie das Land restlos ausplünderten. Als das Jahr 876 anbrach, überrumpelten sie Alfred vollständig. In unerwarteter Schnelligkeit stießen sie nach Wareham im Süden Wessex’ vor und schlugen dort ihr Lager auf. Damit befanden sie sich im tiefsten Süden des Landes, westlich der Isle of Wight und im Rücken Alfreds. Wie immer nutzten die Dänen ihren augenblicklichen Vorteil. Hemmungslos begannen sie, das Umland der unglücklichen Stadt zu verheeren.
König Alfred reagierte sofort. Kaum, dass er die Nachricht vernommen hatte, rückte er mit seinem Heer nach Wareham, um das Wikingerlager zu erstürmen. Doch die Stellung der Wikinger erwies sich als zu stark. Alfred blieb einzig übrig, zu verhandeln und die Wikinger gegen Zahlung eines Tributs zum Abzug zu bewegen. Der Frieden wurde beschlossen, dann unter mehrfachem Eid besiegelt und später durch Geiseln abgesichert.
Es war ein fauler Frieden.
Noch in derselben Nacht brachen die Dänen alle Eide. Sie fielen über Alfreds Kavallerie her, töteten die meisten Reiter, dann ritten sie ab. Als der Morgen graute, marschierten die Wikinger auf Exeter zu und begruben die Sachsen ihre Toten. Es war ein Schurkenstreich, der die Handschrift des Wikingerkönigs Guthrum trug. Dieser Dänenkönig mauserte sich in der Folgezeit zu Alfreds gefährlichstem Gegenspieler. Den wenigen Informationen nach, die wir über seine Herkunft besitzen, soll er früher Unterkönig in Jütland gewesen sein, bis er von dort vertrieben wurde.
Der Wortbruch Guthrums empörte Alfred. Noch am selben Tag ließ er alle dänischen Geiseln hängen und rückte mit seinem Heer nach Exeter aus, die Eidbrecher zu belagern. Da er jedoch kein schweres Gerät hatte, die Stadt zu erstürmen, beschloss er, die Belagerten auszuhungern.
Die Dänen durchkreuzten Alfreds Pläne. Mit 120 Schiffen machten sie sich auf den Weg, die belagerten Piraten zu entsetzen. Daraus wurde nichts. Als die dänische Flotte auf der Höhe von Swanage segelte, zog ein gewaltiger Sturm auf, der die Wikingerflotte an die Küste warf und zu einem großen Teil vernichtete. Eine glückliche Fügung hatte Alfred den Sieg beschert, der den Fall Exeters nach sich zog. Diesmal zogen sich die Dänen wirklich nach Mercia zurück.
Als der König gegen Ende des Jahres 877 im königlichen Sitz von Chippenham das Weihnachtsfest beging, konnte er zufrieden sein. Ohne große Verluste hatte er die Wikinger in Schach gehalten. Jetzt konnte er hoffen, sie im nächsten Jahr zu schlagen. Aber der Sachsenkönig hatte die Rechnung ohne Guthrum gemacht. Kurz nach den Weihnachtsfeiertagen griff der Däne Anfang Januar 878 völlig überraschend die Westsachsen an.
Der Zeitpunkt war hervorragend gewählt. Nach westsächsischer Tradition hatte Alfred seinen Heerbann entlassen, um in Frieden das Weihnachtsfest zu begehen, und nur wenige Getreue um sich versammelt. Der Vorstoß auf Chippenham glückte und die Überrumpelung ebenfalls. Die Dänen nahmen die Stadt im Handstreich. Nur in einem hatte Guthrum Pech. Inmitten des Durcheinanders gelang Alfred die Flucht. Trotzdem hatte Guthrum sein Ziel erreicht. Durch seinen Überraschungsangriff war Wessex über Nacht führerlos geworden und faktisch ohne König.
Als sich das Gerücht verbreitete, dass König Alfred gefallen oder auf der Flucht war, verließ die angelsächsische Bevölkerung der Mut. In ihrer Panik flohen viele übers Meer, andere in nah gelegene Wälder. Guthrum und seine Dänen konnten zufrieden sein.
Über Nacht hatten sie sich Wessex untertan gemacht.
Alfred war allerdings nicht tot, sondern hatte sich mit geringem Gefolge tief nach Somerset hinein in ein unwegsames Sumpfgebiet geflüchtet. Dort schlug er sein Hauptquartier auf einer Insel auf, die inmitten eines Sumpfgebiets auf einer leichten Erhöhung lag und später unter dem Namen Athelney – die Insel der Edlen – in die Geschichte einging.
Athelney wurde die Geburt eines Mythos. Inmitten der Wildnis fand Alfred wie der Held im Märchen zu sich selbst und zu seiner höheren Berufung. Die schwere Niederlage wurde zur persönlichen Krise, der durch Erkenntnis und Einsicht Läuterung folgte. Zuerst musste Alfred dem Mythos nach in der kargen Winterlandschaft überleben und als einfacher Waidmann seinen Unterhalt bestreiten. Dabei half ihm ein einfacher Schweinehirt namens Denulf, der ihn bei sich aufnahm, ohne zu wissen, wen er vor sich hatte. Dies sah dessen Frau gar nicht gern, war es doch schon schwierig genug, die eigene Familie im Winter durchzubringen. Zumal der Fremde alles andere als eine Hilfe im Haushalt war.
Als Alfred den Auftrag bekam, auf das im Feuer liegende Fladenbrot zu achten, versagte er kläglich. Anstatt die Brotfladen rechtzeitig zu wenden, schnitzte er gedankenverloren an einem Speer herum. Die Episode endete in einem fürchterlichen Donnerwetter, als die Hausherrin zur Herdstelle kam und nur noch verkohlte Brotreste im Herdfeuer verrauchen sah. Die Dichtung hat die Schimpfworte der Hausherrin in etwas gedrechselten Versen für die Nachwelt bewahrt: »Träger Gesell! Siehst brennen das Brod und versäumst es zu wenden, Neugebackenes issest du immer mit Gier.«48 Es war eine Anekdote, die von dem König selbst oft erzählt wurde und viel zu seiner Volkstümlichkeit beitrug, genauso wie die Legende von der Erscheinung des Heiligen Cuthbert, der ihm in der Nacht den Sieg über die Dänen prophezeite.49
Alfred wusste genau, was er zu tun hatte. Mithilfe weniger Getreuen baute er Athelney zur Festung aus. Dann formte er seine Getreuen zu einer Guerilla, die von Athelney aus die dänischen Streifen und Kommandos angriff und in zähen Kämpfen zurückdrängte.
Als der Frühling anbrach, hatte Alfred durch viele Erfolge wieder eine zahlreiche Truppe um sich geschart. Jetzt konnte er zum offenen Krieg übergehen. Dabei kam ihm zugute, dass die Dänen zur selben Zeit vor der angelsächsischen Festung Cynuit eine schwere Niederlage erlitten. Die Dänen verloren nicht nur ihren König Ubba und 800 Mann, sondern auch das heilige Rabenbanner Odins, das sie von Sieg zu Sieg geführt hatte.
Der Sieg von Cynuit war ein gutes Zeichen und verhieß Erfolg. Als der Königsbote mit Pfeil und Helm ausritt, um den Heerbann zu Egberts Stein zu rufen, folgten Alfred seine Untertanen in die Schlacht. Sie fand bei Edington statt, und endete mit einer vernichtenden Niederlage der Dänen. Verzweifelt flüchtete sich Guthrum mit seinen Kriegern in ein verschanztes Lager.
Es half den Dänen nichts. Wie zuvor die Sachsen bei Cynuit, so waren es jetzt die Dänen, die Not und Hunger litten. Im Gegensatz zu den bei Cynuit eingeschlossenen Angelsachsen, waren ihre Kräfte jedoch schon durch die Schlacht so geschwächt, dass sie an einen Ausfall nicht mehr denken konnten. Vierzehn Tage später ergaben sie sich bedingungslos dem siegreichen Sachsenkönig, der den Heiden Guthrum dazu nötigte, sich taufen zu lassen und sein Lehnsmann zu werden. Der Frieden war mild und weise. Alfred machte Guthrum zu seinem Lehnsmann und belehnte ihn faktisch mit Ost-Anglia, dem Gebiet, das der Dänenführer ohnehin schon besetzt hielt.
Nachdem der Däne 30 von Alfred ausgewählte Geiseln gestellt hatte, zog Guthrum, der jetzt mit christlichem Taufnamen »Aethelstan« hieß, ab. Die Legende will, dass der notgetaufte Christ nie mehr wieder als Wiking gegen die Angelsachsen zog und der blutrünstige Pirat durch die höhere Moral des Christentums zum sanften Lamm Gottes wurde.
In der Tat schien alles darauf hinzuweisen. Als eine große Dänenflotte Ende 878 in Ost-Anglia landete, konnte er sie davon abhalten, gegen Wessex zu ziehen. Die Wikinger-Armada zog ab und wandte sich den unglücklichen Städten des Frankenreichs und Frieslands zu. Sie gingen bald in Flammen auf.
Doch Guthrum alias »Aethelstan« war zu sehr Wikinger, um der Versuchung eines Raubzugs widerstehen zu können. Zusammen mit einem fränkischen Verbannten namens Isembart setzte er ebenfalls über den Ärmelkanal, um das westliche Frankenreich zu verheeren. Aber auch hier hatte Guthrum kein Glück. Die Franken bereiteten den Wikingern 881 eine empfindliche Niederlage bei Saucourt. Unverrichteter Dinge kehrte der geschlagene Wiking zurück.
Im selben Jahr flammten wieder vereinzelt Kämpfe zwischen Dänen und Angelsachsen auf, wobei es unklar ist, ob Guthrum damit etwas zu tun hatte. Diesmal war Alfred jedoch besser gewappnet als in den Zeiten von Chippenham. Er verfügte über eine Flotte. Als 882 ein kleines Raubgeschwader von vier Drachenschiffen die Küste seines Königreiches unsicher machte, segelte Alfred höchstpersönlich den Räubern entgegen und stellte sie zum Kampf. Nach hartem Gefecht enterten die Sachsen zwei der Wikingerschiffe und töteten deren Besatzung. Der Rest der Räuber ergab sich erst nach verzweifelter Gegenwehr. Der Sieg gab den Sachsen Mut.50
Als der Rest der Wikingerhorden, die einst in die Seinemündung gesegelt waren, die Stadt Rochester in Kent belagerte, kam es erneut zum Krieg, dessen spektakulärste Kampfhandlungen zwei Seegefechte wurden.
Alfred, der nie eine Gelegenheit verstreichen ließ, die Offensive zu übernehmen, schickte seine Flotte die Küste entlang nach Kent. Dort überraschten sie an der Mündung des Stour 16 Langschiffe und vernichteten sie. Es war der erste größere Seesieg, den eine angelsächsische Flotte über die Wikinger erfocht.
Indes sollte die Freude bald getrübt werden. Als sich das sächsische Geschwader wenig später auf den Rückweg nach Wessex machte, segelte es vermutlich direkt in die Fänge einer Wikingerflotte, die von Frankreich nach England fuhr. Die Westsachsen erlitten eine vernichtende Niederlage. Es war der schmerzhafte Beweis dafür, dass Alfreds Flotte noch nicht in der Lage war, sich mit den Wikingern in ihrem ureigenen Element zu messen.
Der Verlust seiner Flotte nötigte den König von Wessex wieder dazu, die Wikinger zu Lande zu bekämpfen. Alfred ging in die Offensive und eroberte im folgenden Jahr London. Damit waren die Kampfhandlungen fürs Erste beendet.
Im folgenden Frieden wurde der bisherige Status quo zwischen dem dänisch besetzten Ost-Anglia und Wessex bestätigt und eine zukunftsweisende Entscheidung getroffen. Alfred und Guthrum einigten sich darauf, das einst selbständige Königreich Mercia entlang einer Nord-Süd-Achse in zwei Machthemisphären zu teilen, eine westliche unter den Angelsachsen und eine östliche unter den Dänen. Damit hatten beide Parteien ihren Machtanspruch durchgesetzt. Alfred hatte de facto die dänische Landnahme erneut bestätigt, Guthrum und die anderen Wikinger Alfreds Macht akzeptiert.
Diesmal hielt der Däne den Frieden. In den folgenden Jahren bis zu Guthrums Tod 890 vermelden die Quellen keine weiteren Kampfhandlungen.
Alfred nutzte die Zeit, um sein Reich gegen zukünftige Wikingerangriffe besser zu wappnen. Nach eigenen Vorstellungen schuf er ein neues Verteidigungssystem, das mit einer Heeresreform einherging. Überall im Land entstanden Burgen, die sogenannten »Burroughs« oder »Burghs«, denen ein örtlicher Heerbann zugeordnet war.
Diese Festungen finanzierte Alfred durch zusätzliche Steuern und bemannte sie mit Bauern, welche im Kriegsfall die Besatzung stellten.
Die Neuerung sicherte Alfred die Inlandsverteidigung. Zusammen mit dem schon bestehenden »Fyrd«, dem im Kriegsfall einberufenen Aufgebot, sollte sich diese Reform des englischen Heeres bald bewähren. Neu war auch, dass im Kriegsfall eine Hälfte des Aufgebots ständig unter Waffen blieb, während die andere Hälfte die Ländereien bewirtschaftete. Mithilfe dieser Rotation verhinderte Alfred, dass die Versorgung des Heeres und der Bevölkerung für die Dauer der Kriege zusammenbrach.
Alfreds Heeresreform rettete Wessex im Jahr 893. Zwei große Wikingerflotten fielen unter der Führung des legendären Wikingers Hasting in einer Gesamtstärke von 330 Schiffen und über 10 000 Mann über England her.51 Die Wikinger kamen aus dem Frankenreich, wo der fränkische Kaiser Arnulf von Kärnten ihnen 891 eine schwere Niederlage an der Dyle beigebracht hatte.
Die Kriegszüge Hastings wurden Alfred noch gefährlicher, als es die von Guthrum jemals gewesen waren. Mit blitzartigen Überfällen zogen die Wikinger durch Wessex und Mercia, wo sie feste Lager aufschlugen, von denen aus sie mordend in das Land ausschwärmten. Fast schien es, als würde Hasting gelingen, was Guthrum einst verwehrt geblieben war. Die Wikinger schienen überall, ihre Heere griffen teilweise gleichzeitig oder kurz hintereinander an. Fast schien es so, als würden die Westsachsen den Mut und somit den Krieg verlieren.
Aber Alfred gab nicht auf. Nach anfänglichen Schwierigkeiten bewährte sich letztendlich sein Verteidigungssystem, das den Gegner ständig mit neuen, frischen Aufgeboten konfrontierte.
Sieht man von seinem Sieg in der Schlacht von Farnham einmal ab, in der Hasting 893 von den Westsachsen schwer geschlagen wurde, verlegte sich Alfred darauf, seinen Feind auszumanövrieren. Waren die Wikinger zuerst strategisch im Vorteil, weil sie das Kampfgeschehen diktierten, verloren sie dank Alfreds hervorragend marschierender Armee und seinem Festungssystem langsam die Initiative.
Der Krieg, den Alfred gegen die Wikinger Hastings focht, hatte nichts mehr mit der Abwehr von Seeräubern zu tun. Er glich vielmehr einem regulären Krieg zwischen zwei Völkern, eine Auseinandersetzung wie zur Völkerwanderungszeit, da in den Reihen der Wikinger auch viele Frauen und Kinder waren. Der Krieg endete nach verlustreichen Kämpfen 896 mit dem Abzug Hastings.
Jetzt hatte es Alfred nur noch mit vereinzelten Piratengeschwadern aus Ost-Anglia zu tun, welche die Küsten von Wessex zu plündern begannen. Um den übermächtigen Langschiffen der Wikinger die Stirn bieten zu können, veranlasste Alfred den Bau einer Flotte nach seinen eigenen Vorstellungen. Sie bestand aus großen Kampfschiffen, von denen einige doppelt so lang waren wie die größten Drachenschiffe. Sie hatten 60 Riemen zu beiden Seiten, einen Mast mit Rahsegel und waren höherbordig als die Wikingerschiffe, was im Enterkampf entscheidende Vorteile hatte. Bemannt wurden die Schiffe Alfreds durch seeerfahrene Friesen.
Die Bewährungsprobe dieser Flotte, die Alfred auf eigene Kosten ausrüsten ließ, kam 897, als die Angelsachsen ein kleines Wikingergeschwader von sechs Schiffen bei der Isle of Wight angriffen. Es ist eine der seltenen Stellen der angelsächsischen Chronik, in der ein Kampf gegen Piraten ausführlich geschildert wird:
»Sechs normannische Schiffe waren nach der Insel Wight gefahren und machten Beute in der Umgegend bis nach Devonshire hinauf. Alfred befahl, dass man mit neun Schiffen ihnen entgegenfahre und sie einschließe. Drei Schiffe waren ans Land gezogen, weil die Mannschaft plünderte; drei fuhren auf die Sachsen los. Es kam zu einem Kampf; zwei nordmännische Schiffe wurden genommen, das dritte, auf dem alle Krieger bis auf fünf gefallen waren, entkam. Drei sächsische Fahrzeuge waren der Stelle zugefahren, an der die drei andern normannischen Schiffe lagen; drei waren an der entgegengesetzten Stelle der Bucht. Im Eifer bemerkten sie nicht, dass die Ebbe eintrat, das Wasser fiel schnell auf beiden Seiten und die Schiffe saßen fest, ohne dass die Mannschaft des einen Theils dem andern zu Hilfe kommen konnte. Die Dänen waren unterdessen zurückgekommen und griffen jetzt die sächsischen Schiffe an, die sich nicht bewegen konnten. Es entspann sich ein heftiger Kampf, in dem Graf Lucumon und 72 Sachsen und Friesen, welche auf der Flotte waren, erschlagen wurden. Von den Dänen fielen jedoch 120. Unterdessen kehrte die Flut wieder und die leichten dänischen Schiffe konnten sich bewegen, ehe die schweren sächsischen flott wurden. Sie entkamen, hatten aber so gelitten, dass sie nicht mehr um die südliche Küste herumkamen. Das Meer zwang sie zu landen, die Besatzung ward gefangen und vor den König nach Winston gebracht, der sie als Seeräuber augenblicklich hängen ließ. In demselben Jahre gingen zwanzig feindliche Schiffe an der Südküste zu Grund.«52
Es war der letzte Triumph Alfreds, den die Nachwelt später mit dem Beinamen »der Große« beehrte. Zwei Jahre später starb die Nemesis der Wikinger im Alter von nur 50 Jahren. Mit ihm verschied der erste angelsächsische König, der gezielt den Bau einer Flotte anregte. Zu der Zeit Königin Viktorias wurde der Flottenbau Alfreds und sein letzter Seesieg über die Dänen zum Stiftungsmythos der britischen Kriegsmarine verklärt.
Was die Dänen, vor allem die Wikinger anbetrifft, so spornten Alfreds Abwehrerfolge seine Nachfahren an, England im 10. Jahrhundert von den Dänen zurückzuerobern. Fast ein Jahrhundert lang behaupteten sie die alte angelsächsische Unabhängigkeit im Kampf gegen die Wikinger, bis sie den wiederkehrenden Angriffen ihrer Todfeinde doch noch erlagen.
1016 wurde der Däne Knut der Große König von England, 1019 Herrscher von Dänemark und 1028 schließlich erhielt er die Krone Norwegens. Damit hatte Knut der Große den Grundstein für ein nordeuropäisches Großreich gelegt, aus dessen Konkursmasse sich nach seinem Tod 1035 das Königreich Dänemark mit Norwegen herausschälte.
Es mutet paradox an, aber im 12. Jahrhundert erzitterte das mittlerweile christianisierte Dänemark, Urheimat so vieler gefürchteter Wikinger, selbst vor wilden Seeräubern, die einen Heidengott mit vier Gesichtern anbeteten und ohne Gnade über das Ostseereich herfielen.