Читать книгу Operation Piratenjagd. Von der Antike bis zur Gegenwart - Alain Felkel - Страница 6
Wie Vögel im Netz gefangen
ОглавлениеAm 21. Januar 1192 v. Chr. war die Bevölkerung Ugarits1 in Todesangst. Wie aus dem Nichts zog ein riesiger Schatten am helllichten Tag über die Levantemetropole und tauchte sie ins Dunkel der Nacht. Eiseskälte legte sich auf die Dächer der Stadt, die eben noch vor Hitze geflimmert hatten. Die lärmenden Gassen und Straßen wurden still, das Leben erstarrte. Fassungslos gafften die Menschen zum Himmel, wo der Kernschatten des Mondes sich langsam zwischen Erde und Sonne schob, bis er sie fast vollständig abdeckte. Gespenstische Ruhe trat ein, für einen Moment schien es, als ob die Welt stillstünde. Was die Ugariter erblickten, verschlug ihnen den Atem. Über ihnen schwebte, von einem feurigen Sonnenkranz umstrahlt, der Mond als nachtdunkle Scheibe. Panik brach aus. War das der Weltuntergang, die Strafe für die Sünden der mächtigen Stadt?
Viele wähnten sich verloren, liefen in der Dunkelheit davon. Doch der Bann des Naturspektakels dauerte nicht lang. Nach zwei Stunden Finsternis gab der Neumond wieder die Sonne frei. Der eisige Schatten verflog und wurde kürzer. Die Kälte wich der Helligkeit und Hitze des Tages. Fast schien es so, als hätte das kosmische Spektakel nie stattgefunden. Trotzdem war nichts mehr wie zuvor.
Die Herzen der Ugariter hatten sich verfinstert. Zürnten die Götter ihnen? Drohte Ugarit der Untergang? Hastig opferten die Priester des Unterwelt- und Seuchengottes Reschef zwei Schafe. Dann lasen sie aus den Lebern der geschlachteten Tiere die Zukunft. Das Ergebnis war fatal. Die Seher deuteten die plötzliche Sonnenfinsternis als böses Omen und sahen die Stadt in großer Gefahr. Die düstere Prophezeiung sollte sich erfüllen. Zwei Jahre später überfielen räuberische Seekrieger die Stadt und machten sie dem Erdboden gleich.
Die Geschichtsforschung weiß bis heute nicht, wer diese Invasoren waren und welche Motive sie für ihre Kriegszüge hatten. Der französische Archäologe Gaston Maspero taufte sie jedoch im 19. Jahrhundert mit dem Namen »Seevölker«, der sich in der Folgezeit in Wissenschaft und Öffentlichkeit durchsetzte. Bis heute rätselt die Wissenschaft, woher diese Seevölker kamen, wer sie waren und welche Motive sie für ihre Kriegszüge hatten.
Was ihre ethnischen Wurzeln anbetrifft, so zeigt sich die mangelnde Präzision von Masperos Bezeichnung. Ein Teil der Seevölker wie die Peleset und Danuna kämpften sowohl zu Wasser wie zu Lande und zogen in Ochsenkarren durch die eroberten Gebiete. Der andere Teil der Seevölker bestand aus den seeräuberischen Stämmen der Šerden, Šekeleš, Tjeker und Ekweš.
Griff diese eigenartige Koalition Ugarit an? Wurde die Stadt Opfer eines Zangenangriffs vom Lande und vom Wasser aus? Die Art und Weise, wie Ugarit erstürmt wurde, lässt eher eine Seeräuberattacke als einen Eroberungszug von Land aus vermuten. Dafür spricht schon die geringe Anzahl der eingesetzten Schiffe. Doch lassen wir König Ammurapi von Ugarit selbst zu Wort kommen, der seinem »Vater«, dem König von Alashya (Zypern) seine verzweifelte Lage kurz vor dem Überfall der Zerstörer Ugarits schilderte.
»Mein Vater, jetzt kommen die Schiffe des Feindes. Meine Städte hat er schon verbrannt und Unheil inmitten des Landes angerichtet. Weiß mein Vater nicht, dass alle Soldaten des Herrn, meines Vaters, im Lande Hattu sich aufhalten, und all meine Schiffe im Lande Lukku sich aufhalten? Bislang sind sie nicht eingetroffen, und das Land liegt so da. Mein Vater möge dies wissen! Nun mehr, sieben Schiffe des Feindes (sind es), die herankommen, aber Übles hat er uns angerichtet. Nunmehr, wenn Schiffe des Feindes wiederum auftauchen, so schicke mir, wenn irgend möglich, Bescheid, damit ich informiert bin.«2
Der Brief, der auf einer Tontafel geschrieben wurde, die in einem Ofen der Schreibstelle des Königspalastes gebrannt werden sollte, erreichte nicht mehr seinen Adressaten. Er wurde erst im 20. Jahrhundert bei Grabungen im Ruinenhügel Ras-eš-Šamra zutage gefördert und bezeugt die dramatische Situation des Königreichs. Da die Schreibtafel im Brennofen gefunden wurde, lässt dies nur den Schluss zu, dass der Königstempel von Ugarit von den Schreibern entweder am selben Tag oder kurz darauf fluchtartig verlassen wurde, was nur mit einem Angriff der Seevölker auf Ugarit und dessen Zerstörung in Zusammenhang stehen kann.
Die Tatsache, dass sieben Schiffe ausgerechnet Ugarit angriffen, als die ugaritische Flotte gegen das Piratenvolk der Lukkaner kämpfte, kann kein Zufall sein. Vielmehr erhärtet sie den Verdacht, dass die Angreifer von der Wehrlosigkeit der Levantestadt wussten, die ihrem Ansturm später erlag.
Doch was war der Grund für diese plötzlichen Raubzüge? Was hatte das Gefüge der Alten Welt dermaßen erschüttert, dass sie aus den Fugen geriet? Die Antwort beruht auf einem Zusammenspiel mehrerer Faktoren.
Ende des 13. Jahrhunderts v.Chr. kam es im östlichen Mittelmeergebiet zu einer langen Dürre. Diese führte zu einer Hungersnot, die zahlreiche Volksgruppen aus der Ägäis und Thrakien zum Aufbruch aus ihrer Heimat nötigte. Ihr Weg führte sie in das Hethiterreich (in Kleinasien), das ebenfalls unter der Hungersnot litt und zu dieser Zeit von einem Aufstand mehrerer Provinzfürsten gegen den König zerrüttet wurde.
In dieser Situation wurde Ägypten zum Zünglein an der Waage. Das Pharaonenreich trotzte dank der Fruchtbarkeit des Niltals der Hungersnot und exportierte sogar Getreide in die von Hunger bedrohten Gebiete. Die Transporte des Pharaos gingen über Mukiš in Nordsyrien nach Uru in Kleinasien und von dort mit Hilfe von Karawanen nach Hattuša. Aber mit Getreidelieferungen allein war dem Hethiterreich, das Ägypten seit Jahrzehnten im Austausch gegen Gold und Getreide mit Silber und Erzen beliefert hatte, nicht mehr zu helfen. Von allen Seiten angegriffen, brach es nach mehrjährigen Kämpfen zusammen. Mit der Zerstörung des Hethiterreichs spitzte sich die Lage zu. Siegesgewiss überrannten die Seevölker den Alten Orient und besiegten die hethitischen Vasallen Kizzuwatna, den syrischen Stadtstaat Karkemiš sowie das Königreich Alashya. Unter dem Druck ihrer Angriffswellen wechselte das südlich von Ugarit gelegene Königreich von Amurru die Seite und schloss sich ihnen an.
Nun konnte der Angriff auf Ägypten beginnen, das in der Vorstellung der Seevölker das gepriesene Land war, in dem es reiche Städte und Tempel sowie ausreichend Nahrung gab. Doch das Nilreich hatte große Erfahrung in der Abwehr von Piratenüberfällen und Invasionen.
Schon 1385 v. Chr. war das damals unter ägyptischer Oberhoheit stehende Zypern mehrmals Opfer von Angriffen seeräuberischer Lukkaner geworden. Auch Pharao Ramses II. hatte sich genötigt gesehen, zu Beginn seiner Regierungszeit das Piratenvolk der Serden zu züchtigen, das sich nicht davor gescheut hatte, Unterägypten mehrmals zu überfallen. Aber Ramses II. war nicht nur ein hervorragender General, sondern auch ein guter Admiral, wie die Inschrift einer Stele in Assuan belegt:
»Ramses II. überquerte mit seiner Macht den Ozean und die Inseln inmitten waren voller Furcht vor ihm. Sie kamen zu ihm mit den Tributen ihrer Fürsten und sein machtvolles Ansehen hatte ihre Herzen ergriffen. Aber Serden mit rebellischen Herzen konnte man seit jeher nicht bekämpfen, wenn sie machtvoll mit Kriegsschiffen auf dem Meer segelten. Dann konnte man nicht vor ihnen bestehen. Er aber nahm sie gefangen als Siegesbeute durch seinen starken Arm und überbrachte sie Ägypten.«3
Mit der Ansiedlung der Serden in Ägypten bewies Ramses II. politische Weitsicht, auch wenn damit die Piratengefahr für das Pharaonenreich noch nicht vorbei war. 1220 v. Chr. sah sich sein Sohn und Nachfolger Merneptah genötigt, eine schwere Schlacht gegen eine Koalition von libyschen Stämmen und Seevölkern zu schlagen, die diese mehrere Tausend Mann kostete.
Aber dies alles stand in keinem Verhältnis zur Gefahr, der sich Ramses III. im achten Jahr seiner Regierung gegenübersah.4 Diesmal hatten die Seevölker wieder einen Raubbund auf den »Inseln inmitten des Meeres« gebildet. Dort hatten sie eine große Flotte zusammengezogen, während ein Landheer von mehreren Tausend Seevölkerkriegern sich im Land Amurru südlich des Reiches von Ugarit sammelte. Unter einem schwachen Herrscher wäre die Lage des Pharaonenreichs aussichtslos gewesen. Ramses III. war jedoch ein guter General. Drei Jahre zuvor hatte er im westlichen Nildelta ein libysches Heer aufgerieben. Dies gab ihm die nötige Zuversicht, einem feindlichen Angriff zu Lande wie zu Wasser siegreich begegnen zu können.
»... Ich habe veranlasst, die Nilmündung zuzurüsten wie eine gewaltige Mauer aus Kampfschiffen, Lastschiffen und gewappneten Transportschiffen, wobei sie vollständig ausgerüstet waren von Bug bis Heck mit starken Kampfeinheiten unter Waffen. Die Mannschaften waren all die Auserlesenen Ägyptens und sie waren wie die Löwen, wenn sie auf ihren Bergen gebrüllt haben; die Streitwagentruppen wurden gestellt von Kampfläufern, von Waffenträgern und von ausgezeichneten Streitwagenrittern, die ihre Hand zu führen wussten – ihre Pferde vibrierten in allen Gliedern, gewappnet, die Barbarenländer niederzutreten unter ihre Hufe.«5
Begreift man das Steinrelief, das an der Ostseite von Ramses’ III. Totentempel Medinet Habu die entscheidenden Phasen der Schlacht veranschaulicht, als chronologische Abfolge, so vernichtete der Pharao zuerst das Landheer der Eindringlinge im Lande Djahi, bevor er die Flotte der Seevölker auf dem Nildelta überraschte.
Wer heute die Ausschnitte des Steinreliefs von Medinet Habu betrachtet, der bekommt ungefähr eine Ahnung davon, was sich damals vor der ägyptischen Küste abspielte. An jenem Tag der Seeschlacht sah Ramses III. die einmastigen Barken der Piraten in die Nilmündung einfahren. Vogelköpfe zierten ihre hochgezogenen Vorder- und Hintersteven, zwischen denen sich Scharen verwegener Krieger unter Rahsegeln zusammendrängten. Zu ihnen zählten Šekeleš mit Hörnerhelmkappen, Peleset mit Federhauben und Riemenpanzern sowie räuberische Serden6, Tjeker, Danuna und Wešeš. Gerüstet waren die Angreifer mit bronzenen Langschwertern, Dolchen, Lanzen und Wurfspießen. Auf erhobenen Plattformen an Bug und Heck standen die Anführer. In Erwartung sicherer Beute gaben die Piratenhäuptlinge ihren Steuermännern den Befehl, ihre Schiffe dem Ufer zuzusteuern. Dort erwarteten das ägyptische Fußvolk und ein Teil der Flotte des Pharaos ihre Landung.
Waren diese Einheiten der Köder, den Ramses III. bewusst ausgelegt hatte? Jenes »Netz, in dem sich die Gegner verfingen«, wie später die Siegesinschrift von Medinet Habu den Nachkommen des Siegers stolz verkünden sollte? Oder hielten sich die Einheiten der ägyptischen Flotte in einem der Nilarme versteckt, um den Feind in die Falle zu locken? Aus den Abbildungen und erläuternden Texten geht dies nicht klar hervor. Nur eines steht fest: Der Angriff der ägyptischen Flotte erfolgte von zwei Seiten und überraschte die Invasoren.
Wie viele Schiffe an jenem Tag an der Seeschlacht auf dem Nil beteiligt waren, lässt sich nicht mehr in Erfahrung bringen. Auf dem Relief von Medinet Habu sind fünf Seeräuberschiffe zu sehen, die von vier ägyptischen Kampfschiffen angegriffen werden. Vermutlich handelt es sich nicht um die Gesamtzahl aller beteiligten Schiffe, sondern um eine symbolische Verdichtung der Schlacht.
Größere Gewissheit herrscht darüber, wie sich der Kampf zur See abspielte. Nachdem sich die Ägypter mit kräftigen Ruderschlägen den Seevölkerschiffen angenähert hatten, eröffneten die Bogenschützen des Pharaos den Fernkampf. Mit tödlicher Präzision jagten sie Pfeil auf Pfeil in die dicht gedrängten Massen der Feinde. Zusätzlich zum Pfeilregen deckte ein Hagel von Steinen, Wurfpfeilen und Lanzen das feindliche Raubgeschwader ein. Die Seevölker erlitten schwere Verluste. Dies nutzten die Ägypter sofort aus. Wuchtig rammten die löwenkopfverzierten Vordersteven ihrer Schiffe die flachkieligen Vogelbarken, von denen eine sofort kenterte. Dann wirbelten Enterhaken durch die Luft, und der Enterkampf begann. In einem erbarmungslosen Gemetzel gewannen die Ägypter die Oberhand. Unter dem schwankenden Mastenwald der kämpfenden Flotten färbte sich das Wasser rot vom Blut der Erschlagenen, die bald zu Dutzenden in den Fluten des Nils trieben.
Denjenigen der Seevölkerkrieger, die über Bord sprangen, um sich zum Land durchzukämpfen, erging es nicht besser. Die meisten fielen am Ufersaum des Nildeltas oder wurden gefangen genommen. Von den Oberbefehlshabern, welche die Seevölker in die Schlacht geführt hatten, überlebte keiner. Ramses III. tötete nach eigenen Angaben »denjenigen, der sich den Sieg so sehr gewünscht hatte« mit einem gezielten Pfeilschuss, während der zweite Piratenhäuptling ins Wasser fiel und ertrank.
Als die Sonne unterging, gab es keinen Zweifel mehr, wer den Sieg errungen hatte. Erbarmungslos hackten ägyptische Soldaten jedem getöteten Feind eine Hand und den Penis ab, um sie wenig später gegen Kopfgeld einem der Quartiermeister zu geben, dessen Gehilfen die schaurigen Trophäen aufschichteten. Während sich dieses grausame Ritual vollzog, marschierten endlose Reihen gefesselter Seevölkerkrieger in die Gefangenschaft.
Einigen war es bestimmt, im Tempel Amuns geopfert zu werden. Andere erlitten das Los der Sklaverei oder wurden wie die Peleset und Serden ins heutige Palästina7 umgesiedelt. Ramses III. hatte einen großen Sieg erfochten und die Seevölker zu Lande wie zu Wasser entscheidend geschlagen.
»Diejenigen nun, die meine Grenze zu Lande erreichten – ihr Same existiert nicht mehr ... diejenigen aber, die zusammengeschart herankamen vom Meer – die Glut erfüllt sich an ihnen vor den Deltamündungen. ... Diejenigen, die in die Nilmündungen eingedrungen waren, waren gefangen wie Vögel im Netz. So wurden sie vernichtet.«8
Durch seinen Sieg auf dem Nil hatte Ramses III. den Zusammenbruch des Ägypterreiches verzögert und die Sturmwelle des Seevölkerangriffs gebrochen. In den folgenden drei Jahrzehnten bis zu Ramses’ III. Ermordung während einer Palastrevolution verzeichnen die Quellen keinen Angriff der Seevölker mehr.
Als sicher kann angenommen werden, dass der Angriff der Seevölker ein Invasionsversuch von Landstreitkräften war, der mithilfe von Piraten durchgeführt wurde, wie die Teilnahme der Tjeker, Serden und Šekeleš an der Expedition beweist.
Abgesehen von diesen ersten schweren Abwehrschlachten gegen Seeräuber sind uns kaum gezielte Piratenjagden oder Abwehrkämpfe aus der Zeitenwende von der Bronze- zur Eisenzeit bekannt. Zwar behauptet der griechische Historiker Thukydides, dass schon der mythische König Minos von Kreta die Meere von Seeräubern säuberte, doch herrscht hier große Unsicherheit, wann dies war und zu welcher Zeit der angebliche Piratenbezwinger überhaupt gelebt hat.