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1.4 Plurale Liturgie als Thema der Liturgiewissenschaft

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Der Begriff »Liturgie« verweist auch in der Gegenwart auf ein hoch differenziertes Feld. Gerade der Blick auf die Charakteristika von Ritualen hilft, Spezifika der unterschiedlichen Liturgiefeiern zu erkennen, deren Berücksichtigung unter den religionssoziologischen Bedingungen der Gegenwart für die liturgiewissenschaftliche Analyse unverzichtbar ist. So gibt es vielfältige Liturgiefeiern, die sich nicht nur in ihren einzelnen Riten voneinander unterscheiden, sondern auch in ihrer Bedeutung und ihrem Gewicht für das Leben der Kirche wie des Einzelnen. Liturgie ist kein uniformes Gebilde, sondern in sich pluriform und dynamisch. Entsprechend werden der jeweiligen Liturgiefeier ganz unterschiedliche Deutungen zugeschrieben, die in einer pluralen, auch religiös offenen Gesellschaft und in einer Kirche mit pluralen Formen, christliche Existenz zu leben, an Vielfalt zunehmen. Diesen Deutungen korrespondieren unterschiedliche Möglichkeiten der Teilnahme – von aktiver Teilnahme durch Mitbeten und Mitsingen im Gottesdienst, aber auch durch Übernahme von Rollen (Leiter/-in von Wort-Gottes-Feiern oder anderen Gottesdiensten, Messdiener/-in, Lektor/-in, Kommunionhelfer/-in, Kantor/-in) bis hin zu Formen der Anwesenheit, die durch eine grundsätzliche Offenheit für den Gottesdienst gekennzeichnet sind, sich aber in keiner äußerlich erkennbaren Teilnahmeform ausdrücken. Zugleich werden sehr unterschiedliche Erwartungen an die Liturgie herangetragen, die im Extrem einerseits auf Kreativität, Gruppen- und Themenzentrierung, andererseits auf Traditionalismen und Bewahrung des Kulturgutes Liturgie beharren.

Sowohl die unterschiedlichen Deutungen und die verschiedenen Teilnahmemöglichkeiten wie auch die Erwartungen an die Liturgie muss die Liturgiewissenschaft zur Kenntnis nehmen, reflektieren und theologisch abwägen. Auch ein teilweise unterschiedliches Verständnis von Religion (Hock/119: 10–21), hier des Christentums und seiner Lebensäußerungen, schlägt sich in der Wahrnehmung von Liturgie nieder. Wer stärker von einem funktionalen Religionsverständnis geprägt ist, wird auch die christliche Liturgie vor allem nach ihren Funktionen für das Individuum, die Kirche oder Gesellschaft beurteilen. Wer Religion eher substanzialistisch versteht, also auf Gott oder das Heilige als Grundgegebenheiten von Religion (Stolz/147: 13–22) und damit auf die inhaltliche Essenz von Religion schaut, wird vor allem erwarten, dass in der Liturgie die zentralen Glaubensaussagen artikuliert werden. In einer hinsichtlich der Religion sehr ausdifferenzierten Gesellschaft trifft die Liturgiewissenschaft auf ein nicht minder ausdifferenziertes Feld gottesdienstlicher Feiern und Riten.

Die Wesensbestimmung von Liturgie fällt also wesentlich komplizierter aus, sobald man nicht im theologischen oder kirchlichen Binnenraum verbleibt, sondern diese Bestimmung im gesellschaftlichen und kulturellen Umfeld vornimmt. Da Liturgie selbst aber durch Gesellschaft und Kultur sowohl der Vergangenheit als auch der Gegenwart geprägt ist, kann die Liturgiewissenschaft bei der Reflexion über Liturgie von diesem Kontext nicht absehen (vgl. Kap. 2). Das gilt insbesondere für Gottesdienste der katholischen Kirche, die – etwa in der Pastoralkonstitution »Gaudium et spes« des Zweiten Vatikanischen Konzils – eine Öffnung zur Welt vollzogen und die Notwendigkeit des Dialogs zwischen Kirche und Welt unterstrichen hat: »So geht denn diese Kirche, zugleich ›sichtbare Versammlung und geistliche Gemeinschaft‹ den Weg mit der ganzen Menschheit gemeinsam und erfährt das gleiche irdische Geschick mit der Welt und ist gewissermaßen der Sauerteig und die Seele der in Christus zu erneuernden und in die Familie Gottes umzugestaltenden menschlichen Gesellschaft« (GS 40).

Dialog und Offenheit bedürfen demnach des Wissens um die eigene Mitte sowie der Bereitschaft, die eigene gottesdienstliche Praxis im gesellschaftlichen Umfeld zu befragen. Entsprechend muss die Liturgiewissenschaft Maßstäbe entwickeln, die bei der Beurteilung der Legitimität der unterschiedlichen Formen gottesdienstlichen Lebens und ihres Ortes in Kirche und Gesellschaft anzulegen sind. Diese Kriterien formuliert sie vor allem im Rückgriff auf Geschichte und Theologie der Liturgie.

Grundlagen und Perspektiven der Liturgiewissenschaft

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