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a) Regeln und Gepflogenheiten
ОглавлениеRegeln und Bedeutung
Schon in der Übergangsperiode der Abwendung von der Frühphilosophie und der stetigen Entwicklung seiner Spätphilosophie, die ab 1929 begann, hat Wittgenstein anhand des Beispiels des Schachspiels die Rolle von Regeln für die Bedeutung von sprachlichen Zeichen entwickelt: „Der Bauer ist die Summe der Regeln, nach welchen er bewegt wird (auch das Feld ist eine Figur), so wie in der Sprache die Regeln der Syntax das Logische im Wort bestimmen.“ (Wittgenstein 1984b, 134, Protokoll vom 30.12.1930)
In den dreißiger Jahren vertrat Wittgenstein demgemäß die These, dass die Bedeutung eines sprachlichen Zeichens durch die grammatischen Regeln einer Sprache festgelegt ist. In den „Philosophischen Untersuchungen“ (1952) beschäftigt ihn dann die Frage, wie eine grammatische Regel (oder allgemein eine Regel) eine bestimmte Handlungsweise, nämlich das Handeln gemäß der Regel, festlegen kann: „Aber wie kann mich eine Regel lehren, was ich an dieser Stelle zu tun habe? Was immer ich tue, ist doch durch irgendeine Deutung mit der Regeln zu vereinbaren.“ (Wittgenstein 1952/1984a, §198)
Wittgenstein versteht hier unter Regel einen Regelausdruck, ein Symbol für eine Regel, und erläutert die Problematik am Beispiel eines Wegweisers. Wenn wir einen Wegweiser als Ausdruck einer Regel, als Zeichen für eine Regel auffassen, so kann dieser auf verschiedene Weisen gedeutet werden, z.B. in der gewöhnlichen Weise wie folgt: „Wenn Sie das auf dem Wegweiser angegebene Ziel erreichen wollen, dann können Sie es am besten in Pfeilrichtung erreichen.“ Aber auch eine andere Deutung ist möglich: „Wenn Sie das auf dem Wegweiser angegebene Ziel erreichen wollen, dann können Sie es am besten entgegen der Pfeilrichtung erreichen.“ Die Festlegung der Deutung kann nun ihrerseits nicht durch Deutungsregeln erfolgen, denn ansonsten würde für diese Deutungsregeln wiederum die Frage auftreten, wie deren Deutung festgelegt wird, d.h. es entstünde ein infiniter Regress.
Das Problem der Deutung von Regeln
„Die Deutungen allein bestimmen die Bedeutung nicht.“ (Wittgenstein 1952/1984a, §198) Es muss somit ein Fundament für die Festlegung der Deutung einer Regel geben, ein Fundament für das Regelfolgen, und dies besteht gemäß Wittgenstein in den Gepflogenheiten einer Gemeinschaft. „[I]ch habe auch noch angedeutet, dass sich Einer nur insofern nach einem Wegweiser richtet, als es einen ständigen Gebrauch, eine Gepflogenheit, gibt.“ (Wittgenstein 1952/1984a, §198) „Einer Regel folgen, eine Mitteilung machen, einen Befehl geben, eine Schachpartie spielen sind Gepflogenheiten (Gebräuche, Institutionen).“ (Wittgenstein 1952/1984a, §199)
Um einer Regel zu folgen, braucht man sich nicht explizit die Regel, nach der man sich verhalten soll, vor Augen zu führen. Vielmehr ist regelfolgendes Verhalten dadurch gekennzeichnet, dass es erlernbar ist und, wenn es erlernt ist, selbstverständlich ist (Wittgenstein 1952/1984a, §238). Einer Regel zu folgen ist, einer Gepflogenheit gemäß zu handeln, und dies setzt keinerlei Begründungen oder Überlegungen voraus, sondern schlicht und einfach die Kompetenz, auf eine erlernte, übliche und selbstverständliche Weise zu handeln. Gepflogenheiten sind nicht deshalb gültig, weil sie festgesetzt oder vereinbart wären, sondern weil sich üblicherweise fast alle daran gebunden fühlen. Ist dies nicht der Fall, so gibt es keine Gepflogenheiten und damit keine Basis für die Handlungsweise gemäß einer Regel. Dies gilt auch für Regeln, die die Bedeutung eines sprachlichen Zeichens festlegen. Positiv gewendet besagt dies, dass der selbstverständliche, allgemein übliche Umgang mit Ausdrücken die Bedeutung der Ausdrücke festlegt. Dies bringt die bekannte Formel „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“ (Wittgenstein 1952/1984a, §43) auf den Punkt, deren uneingeschränktes Zutreffen Wittgenstein selbst freilich ausdrücklich bestreitet (ebd.).
Schwächen einer Gebrauchstheorie der Bedeutung
Diese allgemeine Darstellung mit einem besonderen Blick auf Wittgenstein erlaubt es uns, die zentralen Kritikpunkte an konventionalistischen Bedeutungstheorien herauszuarbeiten:
(1) Die Unbestimmtheit der Verwendungsweisen: Es bleibt unterbestimmt, was genau die Verwendungsweisen eines Ausdrucks sind, die dessen Bedeutung konstituieren. Da es auch Fehlverwendungen von Ausdrücken gibt, die manchmal sogar systematisch auftreten, müssten diese gleichermaßen als bedeutungskonstituierend einbezogen werden. Da Fehlverwendungen von Ausdrücken stark oder zumindest zeitweise sogar mehrheitlich verbreitet sein können, würde damit jedoch der tatsächlichen Bedeutung der Ausdrücke nicht Rechnung getragen.
(2) Der Holismus der Verwendungsweisen: Wenn man – wie es Wittgenstein tut – alle Verwendungsweisen eines Ausdrucks mit einbezieht, so wird die Bedeutung eines Ausdrucks schon dadurch geändert, dass eine einzige neue Verwendungsweise eingeführt wird. Dies ist unplausibel und widerspricht der relativ großen Stabilität der Bedeutung von Ausdrücken.
(3) Das kognitive Fundament der Verwendungsweisen: Wenn Regeln bzw. Konventionen angegeben werden, um die Verwendungsweisen zu charakterisieren, dann stellt sich die Frage, wie Regeln bzw. Konventionen sich in einer Gesellschaft herausbilden können. Wo Wittgenstein die Gepflogenheit letztlich als gegeben voraussetzt – denn wenn sie durch Abrichtung oder Modelllernen am Vorbild weitergegeben werden sollen, so müssen sie ja erst einmal entstanden sein – da stellt sich die folgende Frage: Sind es nicht doch die Absichten eines Sprechers, ein gemeinsames Hintergrundwissen, ein prinzipielles Interpretationsvermögen oder andere kognitive Fertigkeiten, die letztlich bedeutungskonstitutiv sind, weil ohne sie keine Gepflogenheiten etabliert werden können?