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Rolf

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Als Rolf im Sommer 1947 zehn Jahre alt wurde, glaubte er, dass es die Spinnerei unten am See schon immer gegeben hatte und immer geben würde wie den See, die Berge, die Kirche oder das Schulhaus. Einst, das hatte er in der Schule erst gelernt, wurden die Maschinen der Fabrik durch ein Wasserrad mit dem Wasser vom Sulzbach angetrieben. Später konnte eine stärkere Dampfmaschine schnellere und bessere Spinnmaschinen bewegen. Und schon viele Jahre vor seiner Geburt hatten die Besitzer, die Aasbachs, die ganze Fabrik elektrifizieren lassen. Jetzt – das wusste Rolf von seinem Vater – drehten elektrische Motoren die Wellen an der Decke der Fabrikhallen. Von dort übertrugen die surrenden Lederriemen die Kraft auf die unermüdlich ratternden Spinnmaschinen, an denen unzählige Frauen mit Hunderten von Spindeln arbeiteten und volle Spulen gegen leere wechselten. Einzelne Frauen aus dem Dorf kannte er, Nachbarinnen und Mütter, Tanten oder gar Schwestern von Mitschülern. Seine Mutter sollte früher auch in der Spinnerei gearbeitet haben. Daran konnte er sich allerdings nicht erinnern. Damals, kurz vor dem Krieg, war er ja erst zur Welt gekommen.

Seit einiger Zeit bedienten mehr und mehr meistens junge Italienerinnen die Spindeln. In ihrer Freizeit lebten sie in einer Baracke mit vielen Zimmern, die Herr Aasbach, der reiche Besitzer der Spinnerei, speziell für diese Frauen hatte aufstellen lassen. Hin und wieder begegnete Rolf ihnen, wenn er vor der Fabrik auf seinen Vater wartete und vor allem an den Sonntagen, wenn sie, wie auch er, zur Messe gingen. Da zogen sie beinahe wie ein Trupp Soldaten zur Kirche. Viele trugen ein Kopftuch und manche sahen blass und sehr ärmlich aus. Eine von ihnen war gekleidet wie eine Nonne und schien eine Art Anführerin zu sein. Die Mutter erzählte ihm, die Frau mit dem Schleier sei wirklich eine Nonne, die jungen Frauen lebten sehr sparsam und würden später wieder nach Italien reisen, um zu heiraten. Sie seien hier, um Geld zu verdienen und sie schickten davon so viel wie möglich nach Hause.

Sein Vater war in der Spinnerei Aufseher und Chauffeur. Hin und wieder, etwa an Samstagen, nahm er den Jungen mit in die Fabrik. Da arbeiteten nur die Italienerinnen an den Spindeln. Sie wollten immer arbeiten, um trotz der niedrigen Löhne möglichst viel zu verdienen. So drückten sie die Löhne der Frauen aus der Gegend, hatte ihm sein Vater erklärt. An Samstagen kümmerte sich sein Vater kaum um die Arbeiterinnen, es gab ja noch andere Aufseher, sondern vorwiegend um den Lastwagen und den noblen Mercedes der Aasbachs, wechselte Öl, goss Wasser in den Kühler, kontrollierte die Luft in den Reifen und den Strom der Batterie. Der Lastwagen hatte gar keine Batterie. Ihn musste man mit einer Kurbel anwerfen. Das alles konnte Rolf schon mit seinen zehn Jahren verstehen.

Die Samstagsarbeit der Italienerinnen kontrollierten die Aufseher immer am Montag, auch das wusste Rolf. Ihm schien, dass sein Vater sie nicht besonders mochte. Sie seien zwar in der Fabrik sehr fleissig, aber auch – und das in ihrer unverständlichen Sprache – sehr schwatzhaft, und einige gaben sich überhaupt keine Mühe, wenigstens die wichtigsten Wörter der hiesigen Sprache zu lernen und lachten nur, wenn sie etwas nicht verstünden. Als Aufseher ziehe er, sein Vater, junge Schweizerinnen vor. Aber diese wollten jetzt, wo sie dank der guten Konjunktur die Wahl hatten, nur besser bezahlte Arbeit machen.

An einem Abend sagte Rolfs Vater beim Nachtessen, die Tschinggenweiber seien ein Saupack. Die Nonne hätte sich im Namen der Frauen beim Direktor, der fliessend italienisch spreche, über ihn beklagt. Mit den einen sei er zu ungeduldig, ja schikaniere sie oft gar, und bei anderen leiste er sich Übergriffe, trete ihnen zu nahe oder hätte gar seine Hände nicht im Zaun. Zudem bevorzuge er bei Akkordzuteilungen offensichtlich die Schweizerinnen. Das sei alles lächerlich, sagte er am Tisch. Die Mutter schwieg, und er, Rolf wusste nicht genau, was diese Sätze bedeuteten, nur, dass die fremden Frauen hinterlistige Tschinggenweiber waren.

Rolf verstand nicht, warum seine Mutter schwieg. Vielleicht hätte sie gerne Genaueres gewusst oder sie wollte nichts sagen, weil sie nicht mehr in der Fabrik arbeitete. Sie musste wegen der Theres, seiner älteren Schwester, zu Hause bleiben. Er wusste, dass sie ihretwegen hin und wieder heulte. Sein Vater hatte ihm einmal gesagt, Frauen, vor allem Mütter, heulten eben viel, fast bei jeder Gelegenheit.

Theres war etwas Besonderes. Sie hatte eine unförmige Stirn, war ziemlich rundlich, konnte nicht alleine essen, nicht sprechen, nur lärmen, nur auf allen Vieren gehen, musste immer Windeln tragen und das alles, obwohl sie mehr als ein Jahr älter war als Rolf. Sie lebte immer in ihrer Mansarde in einem Laufgitter neben Mutters Bett. Das Laufgitter verhinderte, dass Theres sich wehtat oder irgendeine Verrücktheit anstellte. Hin und wieder schrie oder brüllte das für ihr Alter zwar nicht sehr gross, aber doch stark gewordene Wesen entsetzlich und verbreitete damit beinahe Angst und Schrecken. Manchmal lebte es ganz fröhlich auf, brummelte Unverständliches vor sich hin oder jauchzte und lachte vor Freude. Wenn dieses Wesen schlief, sah es oft friedlich oder gar lieblich aus, und dann sagte die Mutter, die Theres sei ihr Engel.

Seit ein paar Tagen war Theres wirklich ein Engel. Am Sonntag war sie gestorben.

Die Mutter war mit ihm und seiner jüngeren Schwester Rös zur Kirche gegangen. Vater ging nie zur Kirche. Er war reformiert und verbrachte den Sonntagmorgen meistens allein im Wald oder am See, da könne man auch beten, pflegte er zu sagen. Schon auf dem Rückweg brannte die Sonne heiss vom Himmel. Als sie zurückkamen, schlief die Theres in ihrem Laufgitter unter dem sich erhitzenden Dach, aber bei offener Luke. Daran konnte sich Rolf genau erinnern. Als der Vater von seinem Spaziergang zurückkam, gab es Essen. Danach brachte die Mutter der Theres die Flasche zum Trinken. Und da war sie tot.

Die Mutter schrie von oben: «Sie ist tot, Marie-Therese ist tot!» Der Vater rannte die Treppe hinauf, um nachzuschauen. «Ruf den Arzt und den Pfarrer, ruf den Arzt und den Pfarrer!», schrie Mutter weiter. Der Vater musste das Haus verlassen, um bei Nachbarn zu telefonieren. Rolf und Rös fürchteten sich und rannten aus dem Haus. Als der Pfarrer kam, gingen sie zurück. Da lag das Mädchen im gewohnten Overall, still, zwar mit aufgesperrten Augen, aber schöner als sonst, fand Rolf. Die Mutter hatte sich zu ihr ins Laufgitter gesetzt, wie sie es immer tat, wenn sie ihr zu trinken gab. Sie sass da und weinte.

«Das Kind hatte bestimmt zu warm und ist an einem Hitzschlag gestorben», sagte der Arzt und schrieb einen Zettel. Der Pfarrer legte sich eine violette Stola um den Hals, begann lateinisch zu beten und salbte dem toten Kind die Stirn – genauso wie Rolf das im Religionsunterricht gehört hatte. Danach versuchte er, die Mutter zu trösten. Marie-Therese sei jetzt bestimmt schon im Himmel, mit Gott und all seinen Engeln. Die Mutter weinte noch mehr und auch er, Rolf, und seine Schwester weinten. Den Vater hatte Rolf vergessen. Irgendwann am Nachmittag kam ein Auto, um die tote Theres abzuholen. Danach ging Rolf an den See, allein. Nach drei Tagen wurde die Kleine in einem weissen Sarg begraben. Ein paar Nachbarinnen kamen zum frühen Gottesdienst. Die immerhin getaufte Marie-Therese konnte zwar nicht die heilige Kommunion, jedoch den Segen der letzten Ölung empfangen, betonte der Pfarrer, als er einige Worte zum Tod des Kindes sagte.

Zu Hause fühlte sich Rolf in den letzten Tagen nicht wohl. Vater und Mutter sprachen noch weniger miteinander als je zuvor. Nur einmal wurden die beiden laut. Als Mutter hätte sie doch die Theres bei dieser Hitze nicht unter dem Dach liegenlassen dürfen, hatte der Vater gesagt.

«Du warst doch zu Hause, als ich mit den Kindern zur Kirche ging, und als ich zurückkam, schien Theres zu schlafen und die Luke war offen, du kannst mir, nach allem, was war, nicht den Tod meines Engels anhängen!», rief sie erregt und Rolf schien, dass sie kaum mehr atmen konnte.

Am Tag darauf sprach der Vater kein Wort, mit niemandem. Das tat er ab und zu, aber nur selten sah er dabei derart abweisend aus. Die Mutter ging am Nachmittag mit Rolf und Rös an den See. Da erzählte sie, Vaters Skorpione seien tot und er glaube, sie hätte die Skorpione getötet. Dabei sei ihr Tod gewiss ein Zeichen Gottes. Rolf traute sich nicht, sie zu fragen, ob sie es getan habe. Er fühlte nur, dass der Tod dieser Tiere unheimlich wichtig war. Mutter hatte die Viecher nie gemocht, das wusste er, aber wenn sie es getan hatte, warum gerade jetzt?

Die Exoten lebten auf der Kommode in Vaters Schlafzimmer in einer mit Sand und Steinen ausgelegten Kiste aus hartem Holz – eine Glasplatte auf der Vorderseite, ein schweres, gelochtes Eisenblech als Deckel, das Ganze gesichert mit einem Vorhängeschloss. Immer wieder schärfte er den Kindern ein, das Terrarium – so nannte er die Kiste – nie zu berühren, die Skorpione seien ein Wunder der Natur und absolut keine bösen Tiere, aber ihre Stiche doch sehr giftig. Er selbst schien vor ihnen überhaupt keine Angst zu haben. Hin und wieder sah Rolf zu, wenn er sie mit Würmern, Engerlingen, Raupen, Käfern und anderen Insekten fütterte oder sie mit einem kleinen Stock in Raserei versetzte. Einmal liess er den Jungen zusehen, wie eines der Biester ein hineingeworfenes kleines Mäuschen offenbar belauerte, überfiel und zustach. Das kleine Tier zuckte und starb. Rolf hielt sich an das Verbot. Vaters Zimmer war ohnehin ein verbotener Raum.

Rös, seine jüngere Schwester, gab seiner Mutter wenig Anlass zum Heulen. An und in ihr sah er nichts Besonderes, ausser dass sie zum Pinkeln an Stelle eines Pimmelchens so etwas wie einen Einschnitt hatte und dass sie ihre Haare jeden Morgen von der Mutter zu Zöpfen flechten lassen musste. Zwar wurde sie, als er selbst noch kaum zur Schule ging, schwer krank, hatte hohes Fieber und hustete entsetzlich. Sie musste lange Zeit im Spital gepflegt werden und wäre, wenigstens sagte das die Mutter, beinahe gestorben. Hin und wieder drängte sie ihn, vor dem Einschlafen mit ihr für die Schwester zu beten.

Als die Rös einigermassen genesen zurückkam, war sie ihm beinahe fremd geworden, so verändert, blass und dünn sah sie aus. Für Wochen erhielt sie danach Milch mit Banago und gar Butter mit Honig aufs Brot, und alle paar Tage kam die Gemeindeschwester, um ihr eine Spritze zu geben. Seit es ihr etwas besser ging, stritt er sich oft mit ihr und es machte ihn wütend, wenn der Vater das Mädchen auf seine Knie nahm und mit ihr blödelte. Dabei war sie schon lange kein kleines Kind mehr. Ihm schien, als ob seine Eltern um die Gunst der Göre wetteiferten. Seiner Meinung nach war die Rös eine blöde Kuh und wurde von den Eltern ungebührlich bevorzugt und verwöhnt.

Wie die anderen Kinder der Nachbarschaft nannte er sie Rös, während der Vater und auch die Mutter immer nach dem Rösli oder Rösi riefen. Auch das machte ihn wütend. Mit der Theres hatte sich der Vater nie abgegeben. Sie durfte ihr kleines Zimmer kaum verlassen, wenn er da war, und er ging nur zu ihr hinein, wenn es etwas zu flicken gab, etwa wenn die Theres mit dem blechernen Nachttopf etwas zerschlagen hatte. Aber das alles fand Rolf nicht sehr wichtig, jetzt war die Theres ohnehin tot.

Wichtig erschien ihm hingegen die Spinnerei, dass sein Vater Aufseher war, dort Geld verdiente und die Fabrik schon immer war und immer sein würde, denn Garn würde es immer brauchen, so lange die Menschen sich mit Kleidern bedeckten, wärmten und schützten, hatte Vater gesagt.

Wichtig war auch, dass sein Vater mehr und besseres Essen bekam als Rolf und die anderen, vor allem Käse, Wurst oder gar Siedfleisch in Sulz. Das liebte sein Vater besonders. Von daher habe Sulzach seinen Namen, sagte er.

Hin und wieder brachte er für sich ein Stück richtiges Fleisch und liess es sich von der Mutter braten. Schliesslich trage ein Aufseher eine grosse Verantwortung, müsse schwer arbeiten und allen Ärger ertragen. Und Mutter hatte auch gesagt, später würde er, Rolf, ebenfalls Aufseher sein und das beste Essen der Familie haben. Jetzt musste er sich wie die Schwestern und die Mutter mit Kaffee, Milch, Brot, Suppe, gekochten oder gebratenen Kartoffeln und im Sommer mit Gemüse aus dem Garten hinter dem Haus zufrieden geben. Im Winter kochte die Mutter immerzu Dörrbohnen, Sauerkraut oder Sauerrüben. Rolf hasste alle drei Gerichte. Manchmal, etwa an Sonntagen, gab es Marmelade zum Frühstück, Bratenbrot an Sauce zum Mittagessen und Käse am Abend. Orangen und Bananen kannte er nur vom Dorfladen. Äpfel brachte die Mutter hin und wieder, wenn sie dem Bachbauer bei der Ernte oder sonstwie half. Schokolade hatte es an Weihnachten gegeben. Vater hatte sie gekauft, ans Christkind glaubte selbst die Rös nicht mehr.

Die Theres hatte ihr Essen immer im Dachzimmer bekommen. Mutter hatte ihr alles zu Brei verstossen einlöffeln müssen. Manchmal leistete das Kind Widerstand, strampelte, spuckte und brüllte dabei unausstehlich. Am einfachsten ging es mit dünner Suppe aus der Flasche. Da trank die Theres meistens wie ein Bebe. Jetzt war sie tot.

Wenn Mutter hätte arbeiten können, ahnte Rolf, wäre vermutlich vieles besser gegangen. Vielleicht hätte er ab und zu nicht nur Wurst und Käse, sondern jede Menge Schokolade, Bananen und Orangen aus dem Kolonialwarenladen bekommen, wie viele andere Kinder, mit denen er zur Schule ging und deren Mütter in der Spinnerei oder in der Zigarrenfabrik arbeiteten. Vielleicht jetzt, wo die Theres tot war, würde die Mutter arbeiten gehen.

Noch immer waren Schulferien. Rolf freute sich auf deren Ende. Manchmal langweilte er sich. Im Allgemeinen ging er gerne zur Schule, nicht nur und nicht immer, warum genau wusste er nicht.

Eigentlich wollte Rolf Pfadfinder werden. Doch der Vater war dagegen. Vater und Mutter – sie waren immer gleicher Meinung, solange Rolf mithören konnte – drängten ihn, im Jugendspiel Trompeter zu werden. Noch besass er kein Instrument, der Verein stellte solche kostenlos zur Verfügung. Er musste erst die Noten kennen lernen. Er war der Jüngste in der kleinen Gruppe der Anfänger, die sich jeden Mittwochabend von einem Musikanten des Dorfspiels unterrichten liessen. Noch war nicht sicher, dass er wirklich eine Trompete bekommen würde. Es gab Bevorzugte und Benachteiligte. Rolf spürte das genau. Mehrere Buben – Mädchen waren keine dabei, wie sollten Mädchen Trompete oder gar eine Tuba blasen können? – waren die Söhne von Musikanten und somit stark im Vorteil. Warum sein Vater nicht dazu gehörte und ihn trotzdem zur Trompete drängte, konnte Rolf nicht ausmachen.

Nur einmal hatte sein Vater erzählt, er hätte als Kind Geige zu spielen gelernt. Doch ohne Musiklehrer oder -lehrerin komme man damit auf keinen grünen Zweig. Instrument und Stunden seien sehr teuer, und so sei es eben sehr vorteilhaft, im Verein ein Instrument zu lernen.

Die Seeweite

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