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Susanne Amrein
ОглавлениеDie Bäckerei-Konditorei mit Cafeteria an der Strasse zum Bahnhof von Sulzach gehörte schon in dritter Generationen den Ostermanns, entfernten Verwandten des grossen, längst verstorbenen Gönners der katholischen Diaspora. Ende der 50er Jahre liessen die Ostermanns das alte Haus durch einen Neubau mit Läden und für damalige Zeiten modernen Wohnungen ersetzen. Die Konditorei erweiterten sie durch einen damals trendigen «City Tea-Room», wo der Ostermann fast jeden Abend einen Pianisten – meistens «wandernde» Österreicher und sich wienerisch gebende Altcharmeure – auf einem Flügel süsse Weisen und anderes klimpern liess. Jeden Freitag spielte seine Frau bei Kerzenlicht den Postillion d’Amour und brachte Briefchen beherzter Gäste beider Geschlechter mit Einladungen und Grüsschen von Tisch zu Tisch. Das Spiel war Mode im ganzen Land, und niemand wunderte sich darüber. Die Folgen hielten sich in braven Grenzen. Nach Sulzach kamen die Leute auch aus entfernten Dörfern. Trotzdem blieb das Geschwätz erstaunlich diskret, und die Ostermanns machten ein gutes Geschäft mit süssem Bläschenwasser, Kaffee, Tee und Kuchen.
Nach rund 20 Jahren, etwas älter und ein wenig müde geworden, überliessen sie die Führung des inzwischen vom Tea-Room zur «Cafeteria» mutierten Lokals der Gerantin Susanne Amrein, einer ehemaligen Lehrtochter.
Am 24. April 1983, jenem Sonntag, an dem Ilse Pfister in der Vergangenheit wühlte, feierte Susanne ihren 30. Geburtstag. Sie lebte, seit vor wenigen Jahren Grossmutter Hilde gestorben war, allein in der kleinen Zweitwohnung im Chalet ihrer Eltern über dem See. Sie wollte an diesem Tag nicht in der Cafeteria arbeiten und überliess das Lokal ihrer Servicehilfe. Susanne hatte gehofft, mit ihrem Freund Manfred zu zweit feiern zu können, vielleicht einen Ausflug oder eine Wanderung zu machen, auf die Rigi oder so.
Am Samstagabend hatte er sie mit seinem Motorrad in der Cafeteria abgeholt. In ihrer Wohnung – auch dies erhoffte sie sich – würden sie zusammen etwas essen und vielleicht Liebe machen. Sie brachte Lachsbrötchen und Champagner nach Hause. Manfred hätte ein Bier vorgezogen und Lachs mochte er ohnehin nicht. Manfred hatte zwar kein Geschenk, aber einen Blumenstrauss gebracht, immerhin. Alles war vielleicht gut gemeint, aber Freude kam nicht auf. Jetzt war Samstag und der Geburtstag morgen, noch gab es Hoffnung auf eine Überraschung. Sie kannten sich erst seit ein paar Wochen – sich kennen zu lernen braucht eben seine Zeit, tröstete sich Susanne für ein paar Augenblicke.
Manfred war erst 22 und arbeitete im Walzwerk als Werkzeugmacher. Noch immer hatte er die Absicht, Konstrukteur zu werden. Für diese Ausbildung müsste er die Stelle wechseln und der Abendschule wegen mit Vorteil in die Stadt ziehen. Susanne drängte ihn jedoch, hier zu bleiben. Sie wolle ihn haben, für ganz und für immer, hatte sie ihm gesagt, und das schon nach ihren ersten paar Umarmungen.
Selbstverständlich wohnten sie getrennt, auch er im Haus seiner Eltern, aber ohne wirklich eigene Wohnung. Ab und zu verbrachte er die Nacht bei ihr. Seine Eltern ertrugen es schlecht, wenn er sich mit Susanne in sein Zimmer zurückzog. Sie hielten Susanne für ein etwas lockeres «Ding», eine Serviertochter eben. Das Wort Gerantin war doch bloss Tünche für ein ehemaliges Lehrmädchen, das sie schon als Schülerin kannten. Eine anständige junge Frau, die etwas auf sich hielt, ging nicht vor der Ehe – und bestimmt nicht nach so kurzer Bekanntschaft – mit einem Mann ins Bett, und mit einem so jungen wie Manfred schon gar nicht.
Seine beiden Alten, wie er sie gegenüber Susanne etwas verächtlich nannte, waren ihm peinlich. Irgendwie lebten sie im letzten Jahrhundert, fand er. Die Mutter ging jeden Samstag zum Coiffeur, um sich die Haare machen zu lassen. Danach sah sie seiner Meinung nach aus wie eine alte amerikanische Puppe. Während der Woche arbeitete sie in der Fabrik. Sie machte Tabakwickel für Stumpen, im Akkord. Sie war gut, schnell und stolz darauf. Der Vater war im Sommer Küfer. Im Winter betrieb er eine fahrbare Schnapsbrennerei und bediente damit die Bauern der ganzen Region. Eigentlich hasste Manfred das alles und wollte auch deswegen fort. Seine beiden viel älteren Schwestern waren schon seit Jahren verheiratet. Er war ein Nachzügler und darum vielleicht wirklich überbemuttert.
Am späten Samstagabend, weder war der Lachs gegessen noch der Champagner getrunken, bekamen die beiden Streit, weil Manfred an Susannes Geburtstag nicht da sein würde. Er wollte mit Freunden auf dem Motorrad über den wieder eröffneten Gotthard fahren und danach durch den neuen Tunnel zurück. Er hatte ihr angeboten, sie könne ja mitfahren. Sie aber mochte weder sein Motorrad noch die Fahrten oder die Freunde. Die Stimmung war verdorben, die Lust auf Liebe vergangen, sie bat ihn zu gehen. Geburtstagswünsche und Abschied fielen trocken aus. Sie umarmten sich kaum. Als er weg war, heulte sie.
Er fuhr nach Hause im Wissen, dass er sie nicht mehr sehen wolle. Sie schien ihm zu alt, zu dick und zu dumm. Die einzige Bindung, die er bisher gefühlt hatte, war die beinahe uneingeschränkte Möglichkeit, mit ihr ins Bett zu gehen. Sie hatte nie Vorbehalte und machte keine Zicken, wie er es nannte, sie liess es geschehen, aus seiner Sicht ohne grosse Höhepunkte. Vielleicht war das mit allen Frauen so, er wusste es nicht. Für ihn war sie die erste Frau, mit der er ins Bett gegangen war. Natürlich hatte er sich vorher mit anderen Mädchen getroffen, man hatte sich auch umarmt, geküsst, gefummelt, gestreichelt, im Kino oder sonstwo – enttäuschend, bizarr und verwirrend. Mit Susanne war das alles anders, beinahe Routine, sie nahm die Pille – so musste es sein zwischen Verheirateten. Hin und wieder war es ihm peinlich.
Niemand sonst kam zu Susannes Geburtstag. Marcel und Aldo, ihre Brüder, hatten Susanne Karten geschickt und viel Glück gewünscht. Das war’s. Sie hatte die beiden seit deren Hochzeit nur noch selten gesehen, seit Marcel von Charlotte geschieden war, ihn etwas häufiger. Er brachte hin und wieder seine beiden Kinder zu Grossmutter Martina. Manchmal schaute er auch bei Susanne herein. Sie mochte ihn sehr, obwohl er neun Jahre älter war als sie. Nächstes Jahr würde Marcel 40 werden. In letzter Zeit kam er auch mit seiner Freundin Carine, mit der Marcel arbeitete und jetzt zusammenlebte.
Nachdem ihre Eltern sahen, dass Susanne den Sonn- und Geburtstag allein verbringen würde, luden Martina und Jakob sie zum Essen ein. Danach wanderten alle drei gemeinsam zum See. Am Ostermontag hatte Jakob sein Segelschiff geputzt und bereit gemacht. Sie setzten sich mit Schwimmwesten ins Boot. Es war schon bald vier Uhr, eine kühle Brise ging, aber die Sonne stand noch hoch und strahlte kraftvoll. Die Tage waren spürbar länger geworden und die Sommerzeit, vor drei Jahren eingeführt, verlegte den Gewinn an Tageslicht in den Abend, bemerkte Jakob. Rund um den See blühten die Kirschbäume. Sie fuhren zum gegenüberliegenden Ufer, um Kaffee zu trinken.
Die drei kannten auch südlich des Sees viele Leute. Jemand winkte ihnen von den Tischen im Restaurant Seegarten, die Singers vom Schuhladen. Neben ihnen gab es freie Plätze. Jakob und Singers kannten sich seit Jahrzehnten. Sie mochten ungefähr gleich alt sein. Fast übergangslos, als ob er schon lange darauf gewartet hätte, begann Singer zu erzählen:
«Heute am frühen Nachmittag hat sich einer unter einem Kirschbaum erschossen», sagte der dickliche Singer, ohne die Zigarre aus dem Mund zu nehmen. «Angeblich einer der Gretler Buben – du musst doch die Leute kennen, der Alte war Vorarbeiter im Walzwerk.»
«Da waren doch drei Buben und ein Mädchen», fügte die Frau bei, «einer ging nach Amerika, einer wurde Lehrer, und der Jüngste arbeitet wie einst sein Vater im Walzwerk. Wir wissen nicht, welcher sich das Leben genommen haben soll.»
«Eigentlich wissen wir nichts Genaues, wir haben meine Mutter im Spital besucht, und bevor wir wegfuhren, hörten wir die Geschichte», fuhr der Mann fort.
Manfreds Chef heisst Gretler, erinnerte sich Susanne, das musste er sein, oder einer seiner Brüder. Sie wollte Manfred am Abend anrufen. Sie wusste ganz genau, dass sie den Anlass nur als Vorwand nehmen würde, um Manfred anzurufen, obschon ihr das Gefühl sagte, es nicht zu tun. Sie sollte sich Manfreds Verhalten nicht bieten lassen, aufhören sollte sie. Sie wusste nicht, noch nicht, dass es ohnehin zu spät war.
Inzwischen erörterten die anderen den Vorfall weiter. Singer erinnerte Jakob an einen anderen tragischen Selbstmord in den frühen 50er Jahren. Der 16-jährige Gerard, Sohn des Walzwerk Besitzers Fürst, hatte sich in ein Mädchen verliebt, sie ihn aber abgelehnt. Er besuchte sie in ihrem Haus und bat sie, ihn nicht abzuweisen. Sie tat es trotzdem. Da zog der kaum Halbwüchsige eine Pistole und schoss sich vor ihren Augen in den Mund. Singer kannte die Fürsts persönlich, sie seien sozusagen seine Freunde. «Es war furchtbar, furchtbar …»
Jakob war erleichtert, als sein Bier kam. Er wollte sich eigentlich die Frühlingsstimmung nicht vergällen lassen. Mehrmals versuchte er ein anderes Thema anzuschneiden, aber den Singers hatte es die tödliche Geschichte angetan. Als Martina und Susanne ihren Kaffee getrunken hatten, brachen sie auf und gingen zum Schiff zurück. Inzwischen war es doch ziemlich kühl geworden.
Am Abend rief Susanne Manfred an. Er hatte nichts gehört. Morgen würde er mehr wissen. Ja, die Fahrt über den Pass war «Spitze» gewesen, aber jetzt sei er müde. «Ja, wenn ich etwas weiss, rufe ich dich an. Schlaf auch gut.»
Manfred rief nicht an, auch am Dienstag nicht. Sie tat es wieder. Ja, Waldemar, der älteste der Gretler-Brüder, hatte sich erschossen, er war mit seiner Frau aus Amerika zurückgekommen, die Frau lebte, aber sie hatte einen Schock, man hatte sie nach Kaiserfeld in die Klinik gebracht. Sie war die Schwester von Rolf Schneider.
Ja, sie kannte ihn. Er war einige Jahre älter und lebte allein. Die Eltern lebten noch. Rolfs Mutter Bärbel hatte während einiger Jahre neben Susannes Mutter in der Spinnerei gearbeitet. Rolfs Vater war Aufseher, ein düsterer Kerl, fand sie.
Mit Manfred traf sich Susanne ein paar Tage später ein letztes Mal. Er wollte sie nicht mehr treffen. Sie würde ihn nie mehr sehen.
Der Bruch war hart, aber für Susanne nicht der erste. Warum endeten ihre Beziehungen immer, und warum immer so oder ähnlich? Martina versuchte, sie zu trösten, doch daraus wurden eher Vorwürfe: «Du überforderst die jungen Männer, du nimmst sie in Beschlag, das will keiner. Du schleppst sie zu schnell ins Bett. Sie sehen dich nicht als Frau fürs Leben, sondern als leichte Beute. Zudem, einmal sind sie zu jung und ein andermal zu alt.» Ähnliches hatte sie sich schon oft anhören müssen. Dabei kam es immer zu lautstarken Auftritten mit Türknallen und Tränen. Das war auch jetzt so.
Dabei war Susanne keineswegs mannstoll, sexbesessen oder schlimmer. Sie sehnte sich ganz einfach nach einer festen Bindung oder Ordnung, vielleicht sogar Sicherheit für ihr Leben, und sie sah in den Männern, die ihr freundlich begegneten oder ihr gefielen, immer wieder Kandidaten guten Willens. Sie nahm die Männer ins Bett, weil sie glaubte, daraus würde so etwas wie Liebe. Nie hatte jemand herauszufinden versucht, warum sie dies glaubte.
Sie wusste nicht – noch nicht – dass es besser war, sich diese Sicherheit selbst zu schaffen.