Читать книгу Die Seeweite - Albert T. Fischer - Страница 14
Rolf über Waldemar
ОглавлениеAm Sonntag, als sich Waldemar erschoss, rief mich gegen Abend meine Mutter Bärbel an. Bei Waldemar und Rös sei Schreckliches geschehen, ich solle nach Hause kommen, sie könne am Telefon nicht reden. Ich sass, wie meistens an Sonntagen, im Geschäft und testete neue Programme. Der Anruf war mir zuwider, und doch wollte ich Bärbel in ihrer offensichtlichen Bestürzung nicht mit Norbert allein lassen.
Wir kannten uns seit der Schulzeit. Die Sekundarschule besuchten wir in derselben Klasse. Er war ein stiller, fleissiger Schüler, der wie ich selten auffiel. Beide konnten wir es uns einfach nicht leisten, aufzufallen. Er fürchtete seinen Vater und ich die ganze Klasse. Ihn hänselten viele wegen seines Namens Waldemar, den im Alltag jedermann zum Dackelnamen «Waldi» kürzte. Die Obersten und Stärksten in der Hackordnung der Klasse schrien ihm nach: «Waldi Dackel, beiss uns». Seinen Zorn stachelten sie weiter an mit: «Oder bist du einer von denen, die nur kläffen, he?» Er war nicht stark genug, um sich zu wehren, und hätte er geweint, wären die Lacher noch grausamer geworden. Zu Hause beklagte er sich ohnehin nicht, sein Vater hätte mitgelacht. Gerard Fürst war anders. Ihm wagte niemand zu trotzen, und schon bald stellte sich Gerard vor seinen Freund, und in Gerards Anwesenheit wurde Waldemar in Ruhe gelassen. Natürlich blieb es beim Waldi, aber ohne schäbigen Unterton, womit er leben lernte. Die beiden sassen in der Klasse nebeneinander und galten als unzertrennlich. Bei Gerard lernte Waldi Gitarre spielen.
Ich habe ihn nie verspottet und vermied auch allen anderen gegenüber jeden Anlass, mich selbst zum Gespött oder zum Opfer zu machen. Ich glaube, ich war ein Leisetreter oder gar Feigling und bin es vielleicht noch immer. Hin und wieder breche ich aus meiner Gewohnheit oder Rolle aus, meistens unpassend und damit oft verheerend.
Am Anfang fühlte ich mich, vermutlich wie er, in der Schule eher unglücklich, und ich habe im Gegensatz zu Waldemar nie einen Freund durch dick und dünn gehabt. Die meisten waren besser angezogen, konnten mit irgendetwas auftrumpfen, und ich besass kaum ein Taschenmesser, was mich demütigte. Aber ich lernte schnell, verhielt mich ruhig und konnte wie Waldi ohne Prüfung in die Sekundarschule wechseln. Inzwischen spielte ich nicht nur im Jugendspiel, sondern auch im Schulorchester Trompete und lernte so den etwas älteren und talentierten Dölf Pfister kennen. Dölf wurde mein Freund. Die Pfisters waren in meinen Augen wohlhabende Leute. Ihr Haus und ihre Druckerei machten mir Eindruck.
Nach Gerards dramatischem Todesschuss begann Waldemar, mit uns in Pfisters Papierkeller Dixie zu spielen, er spielte Gitarre und Banjo, und so wurden auch wir Freunde. Er war ein recht guter Sänger und versuchte immer häufiger, sich selbst auf seiner Gitarre begleitend, die damaligen amerikanischen Vorbilder nachzuahmen, zum Beispiel Gene Autry in seinen Westernfilmen. Seine Trauer in den oft etwas sentimentalen Songs wirkte für mich immer sehr echt. Waldemar neigte zur Trübsal, obwohl wir nie genau wussten, und es vielleicht auch nicht wirklich wissen wollten, warum. Allerdings klagte er ab und zu über Schikanen seines Vaters, der unser Trio mindestens anfänglich nicht mochte.
Eigentlich waren wir schon bald im Dorf und der näheren Umgebung bekannt und hatten immer häufiger bezahlte Auftritte. Das war vor allem Dölf Pfisters Verdienst, der diese Art von Bestätigung aktiv suchte. Als Dölf nach Zürich zog, begann unser Trio auseinanderzudriften. Das gemeinsam aufgesparte Geld verbrauchten wir auf einer ziemlich abenteuerlichen Ferienreise in die Camargue mit Pfisters Lieferwagen, den nur Dölf fahren durfte, und einem von den Pfadfindern geborgten Zelt. Dölf, zwei Jahre älter als wir, wollte unbedingt seine Freundin Renate dabei haben. Ihre Eltern liessen sie nicht mitfahren.
Ich habe dieses Detail nicht vergessen, weil wir auf dem Zeltplatz am Meer mit zwei Holländerinnen bekannt wurden, mit denen Dölf schon nach zwei Tagen jede Nacht verbrachte. Waldemar und ich waren ratlos, und ich glaube, Dölf auch. Er wich jedem Gespräch darüber aus. Wir machten keinen Aufstand, er war unser Fahrer. Wir schwiegen auch danach. Die Reise bildete mehr oder weniger den Schlusspunkt für unser Trio und die gelebte Freundschaft mit Waldemar.
Als ich in der Stadt in der Texline Arbeit fand, gab ich das Trompetespielen auf. Es war unmöglich, im Haus, in dem ich wohnte, zu üben, noch schwieriger, am Abend nach Sulzach zu den Proben zu fahren, und einem andern Verein wollte ich mich nicht anschliessen.
Obwohl oder gerade weil Waldemar im Dorf und, für mich erstaunlich, bei seinen Eltern blieb, hatten wir uns aus den Augen verloren. Mehr oder weniger aus heiterem Himmel erzählte mir Bärbel, die Rös werde den Waldemar heiraten, sie sei schwanger. Norbert hätte völlig unangemessen wie ein Eifersüchtiger getobt und meiner Schwester mehr oder weniger das Haus verboten. Für ihn sei sie erledigt, und mit den Gretlers wolle er ohnehin nichts zu tun haben. Er werde zur Hochzeit nicht erscheinen. Es waren für die beiden sehr unliebsame Wochen. Ähnlich uneinsichtig und unversöhnlich verhielt sich auch Waldemars Vater. In der Folge der Auseinandersetzung verliess Waldemar die Wohnung seiner Eltern und zog in eine Hals über Kopf gemietete kleine Stadtwohnung, in der er mit Rös leben wollte.
Sie verbrachte ihre Nächte weiterhin im Bezirksspital, wo sie inzwischen als Hilfspflegerin arbeitete. Auch wenn die Braut schwanger war, «geziemte» sich das Zusammenleben Unverheirateter groteskerweise nicht. Rös und Waldemar hielten sich daran, keine Ahnung warum, nach allem!
Sie heirateten ohne Kirche, nur im Stadthaus. Es war ein trüber Tag, und so ähnlich schaute auch das Hochzeitspaar in die Welt. Seine Schwester Yvonne und ich spielten Trauzeugen. Danach gab es ein bescheidenes Mittagessen. Waldemar sprach davon, in der Stadt eine Arbeit zu suchen und im Walzwerk zu kündigen. Wir vermieden es, über unsere Eltern zu sprechen. Yvonne hatte sehr viel dazu beigetragen, dass wir während des Essens in immer bessere Stimmung kamen. Bisher hatte ich sie kaum beachtet, aber ich fühlte, dass sie den beiden etwas Unglücklichen gut tat.
Am Tag danach reisten sie für eine Woche ins Tessin. In jener Woche verlor meine Schwester ihr Kind. Dieser Verlust verstörte das Paar nachhaltig. Plötzlich schienen sie nicht mehr zu wissen, warum sie einander geheiratet hatten, und doch mochten beide das gemeinsame Projekt nicht aufgeben. Scheidungen waren noch immer verpönt, ein klares Zeugnis und Eingeständnis des Versagens unverantwortlicher Leute. Um keinen Preis wären sie bereit gewesen, davon bin ich überzeugt, ihren Vätern die Freude des Scheiterns zu machen. Meines Erachtens suchten sie nach einer starken Klammer für ihr Zusammenbleiben, und da entstand die Idee, nach Amerika auszuwandern.
Noch hatte Waldemar im Walzwerk nicht gekündigt und keine andere Stelle angenommen. Für ihr Projekt suchte er Hilfe bei Alice Fürst, der einstigen Amerikanerin, der Mutter seines toten Freundes Gerard. Sie freute sich, den beiden helfen zu können. Durch ihre Vermittlung fanden sie vorerst eine Stelle als Hausangestellte bei reichen Leuten in Massachusetts, in der Nähe von Boston.
Plötzlich ging alles sehr schnell. Mir selbst kam ihr Auszug gelegen. Ich wohnte noch immer im gemieteten Zimmer und war glücklich, die kleine Wohnung mit dem recht einfachen Inhalt zu übernehmen. Nachdem sie weggefahren waren, hörte ich von den beiden nur noch wenig, allenfalls durch Bärbel, und auch dies nur ganz selten. Im Lauf der Zeit hatte ich sie vergessen, wenigstens für Monate, wenn nicht gar Jahre.
Dann plötzlich, nach etwas über 15 Jahren, waren sie wieder da, zurück aus Amerika, kinder- und arbeitslos. Die Rös bat mich um Hilfe, um etwas Geld, für den Anfang. Ich gab ihnen, nicht sehr viel, aber immerhin. Sie waren offenbar ausgebrannt, und zu Norbert wäre die Rös nie betteln gegangen, sowenig wie Waldemar seinen Vater anpumpen wollte. Waldemar hielt sich an seine Schwester Yvonne. Sie hatte offenbar eine beträchtliche Karriere gemacht und arbeitete als «Vorzimmerdame» eines Direktors in der Stadt.
Yvonne schien Waldemar mächtig geholfen zu haben – und später hat sie sich um meine Schwester in einer Weise gekümmert, wie ich es nie geschafft hätte.
Einstweilen fand die Rös Arbeit im Spital, und Waldemar wollte sich als freier Fotograf installieren. Ich war von Anfang an skeptisch, ob er sich als selbständiger Fotograf würde etablieren können. Doch Waldemar schien gewitzter, als ich ihm zutraute, und schaffte mindestens einen halbwegs erfolgreichen Start.
In einem Nachbardorf fanden sie bei einem Bauern eine ältere, sehr einfache, aber hinsichtlich Grösse und Preis ideale Wohnung. In einem grossen angebauten und heizbaren Schuppen konnte er ein Studio einrichten. Er brauchte dazu mehr Geld und pumpte mich an. Irgendwie konnte ich nicht nein sagen, und so habe ich ihm die ganze Ausrüstung vorgeschossen.
Eine Weile schien alles gut zu gehen. Anfänglich luden mich die beiden ab und zu ein. Ich lebte damals allein in der Stadt und fand die Sonntagbesuche bei Schwester und Schwager nett. Doch die Einladungen blieben mehr und mehr aus. Zuletzt musste ein Jahr oder mehr vergangen sein, seit ich meiner Schwester und meinem Freund Waldemar zum letzten Mal begegnet war.
Am Sonntag nach Ostern – es war der Weisse Sonntag 1983 – rief er mich am Morgen an. Ja, sie hätten schon seit einer Weile nichts mehr von sich hören lassen. Er, Waldemar, hätte halt viel zu tun, und immer wieder sei etwas dazwischen gekommen, wich er aus. Aber heute würde er gerne mit mir einen Ausflug machen. Mit der Rös käme er nicht dazu, und heute sei sie nicht da, sie müsse arbeiten. Rös ertrage lange Fussmärsche ohnehin schlecht. Er würde gerne mit mir am See entlangwandern, aber hätte bisher kaum eine Gelegenheit gesehen, mich dazu einzuladen. Ich fühlte mich etwas überrumpelt, aber ich sagte zu.
Noch vor der Mittagszeit trafen wir uns auf dem Parkplatz beim Schloss. Der Frühling war voll ausgebrochen. Waldemar schien guter Laune und bedankte sich überschwänglich für mein Kommen. Er hatte seine Kamera mit allen möglichen Schikanen mitgebracht und versprach sich ein paar schöne Bilder vom sonnigen Tag.
Ganz plötzlich freute mich die Idee der Wanderung. Ich hätte mich allein dazu nicht aufgerafft, und wir nahmen uns vor, den See zu umrunden, auf halbem Weg einzukehren, etwas zu essen und am frühen Abend zurück zu sein. Waldemar freute sich, viel Zeit zu haben. Wir hatten uns in den letzten Jahren nie ohne Rös getroffen.
Anfänglich sprachen wir über seine Arbeit. Kunden und vor allem Aufträge für Werbeaufnahmen seien immer zahlreicher geworden. Letztere warfen bedeutend mehr ab als Bilder für Zeitungen, Agenturen und Bücher oder gar Hochzeiten. Allerdings verursachten sie auch bedeutend mehr Aufwand für Planung und Vorbereitung, bedingten eine kostspielige Ausrüstung und verlangten zum Teil endlose Diskussionen mit den Auftraggebern über Inhalte und Qualität. Aber im Ganzen gesehen gab sich Waldemar zuversichtlich. Er mochte noch keine Versprechen für eine Rückzahlung seiner Schulden machen, aber er komme der Sache bestimmt näher. Alles hänge auch davon ab, wie er und Rös in Zukunft zusammen leben könnten.
Wie er das meine, fragte ich ihn etwas überrascht. Und jetzt begann er nach und nach seine traurige Geschichte zu erzählen. Ich will versuchen, sie möglichst in seinen Worten wiederzugeben, obwohl ihm das Reden nicht ganz leicht zu fallen schien und er immer wieder weit ausholte:
«Rös und ich verbringen im Moment eine schwierige Zeit, und ich habe ehrlicherweise keine Ahnung, wie wir unsere gemeinsame Zukunft bewältigen können oder wollen. In Wirklichkeit leben wir schon jetzt nicht mehr zusammen. Sie verbringt ihre Freizeit fast ausnahmslos mit unserem Nachbarn und Hausbesitzer Res. Sie hilft ihm in ihrer Freizeit auf dem Hof, macht den Haushalt und seit einiger Zeit schläft sie mit ihm.»
«Einfach so, warum lässt du dir das gefallen?»
«Das ist eine lange Geschichte. Du weisst, wir haben keine Kinder, und Rös sieht und sah die Schuld schon immer bei mir. Vielleicht trifft es auch zu. Wir haben uns nie dazu aufgerafft, Klarheit zu schaffen. Vielleicht hätte Klarheit die Gratwanderung unseres gemeinsamen Lebens gefährdet. In Amerika waren wir aufeinander angewiesen, wenigstens haben wir uns dies gegenseitig immer eingeredet.»
«Aber als ihr geheiratet habt, war doch die Rös schwanger?»
«Schon, aber vermutlich nicht von mir. Wenigstens hat sie mir dies, als wir schon lange drüben lebten, immer wieder, meistens im Streit, höhnisch an den Kopf geworfen. Auch darüber gab es nie letzte Gewissheit. Das hat sie im Nachhinein immer wieder beteuert. Als sie das Kind verlor, war ich von meiner Vaterschaft überzeugt gewesen. Ich wusste nicht, dass es da noch einen anderen Mann gab oder geben konnte. Ich hatte mich auf das Kind eingestellt und eigentlich freute ich mich.»
«Wer war denn der andere?»
«Sie hat es mir nie gesagt. Vermutlich einer aus dem Dorf, ich verdächtigte Dölfs jüngeren Bruder, den Alex Pfister. Sie hat dies nie zugegeben. Immer, wenn es für sie eng wurde, hat sie gekniffen. Gescheit, sportlich und sexy sei er gewesen, eben kein unfähiger Schnellspritzer, wie sie mich hin und wieder beschimpfte. Ihr Schweigen half mir, ihre Geschichte als Erfindung oder gar Wunschtraum abzutun. Sie aber machte unsere seitherige Kinderlosigkeit zum Beweis. Dagegen verdächtigte ich sie, noch vor unserer Trauung, versucht zu haben, das Baby durch irgendwelche obskuren Gifte oder Machenschaften abzutreiben, letztlich gar erfolgreich, und sie habe dabei vermutlich ihre Gebärmutter oder andere Organe beschädigt oder zerstört. Zwar geschah es in den Flitterwochen, aber ich stellte mir den Abgang als langsamen Prozess vor. Solche Verdächtigungen erwiderte sie mit unbeschreiblichen Wutanfällen. In der Folge weigerten wir uns beide immer wieder, uns untersuchen zu lassen. Das Drama hat uns über 20 Jahre verfolgt, gedemütigt und doch irgendwie zusammengeschweisst.»
«Das verstehe ich nicht. Warum eigentlich erzählst du mir das jetzt?»
«Weil ich mich jetzt wirklich von der Rös trennen will und dabei Verständnis oder gar Hilfe suche. Du bist ihr Bruder, und ich weiss nicht, was geschieht, wenn ich wirklich ausziehe.»
«Was befürchtest du?»
«Beispielsweise, dass du dein Geld sofort zurückhaben willst.»
«Vielleicht, wenn mich dein Entscheid unvermittelt getroffen hätte. Sei beruhigt, gewiss würden wir darüber reden und eine Lösung suchen. Andererseits kenne ich meine Schwester und bin ihr keineswegs hörig. Geldsorgen sind kaum ein brauchbarer Grund, um bei einer Frau zu bleiben.»
«Zum anderen ist die Rös gefährdet, sie hat schon mehrmals gedroht, sich umzubringen, wenn ich gehen würde. Dabei hat sie sich durch all die Jahre immer wieder Affären geleistet, Männer, in die sie sich verliebte und die sie in jedem Fall fallen liessen. Danach versuchte sie in aller Regel, sich mit mehr oder weniger geeigneten Mitteln umzubringen und immer so, dass für nicht Eingeweihte eine gewisse Mitverantwortung an mir hängen bleiben sollte. Immer wieder lebte ich mit dieser erschreckenden Perspektive. Es war ein Spiel, ein böses Spiel, sie weiss es, und ich muss es beenden, so oder so. Sie spielt es, weil sie glaubt, ich würde nie den Mut haben, sie zu verlassen. Es wäre das Ende des Spiels, und alles kann danach geschehen. Ich muss diese böse Ahnung und diese Last loswerden, und suche Hilfe nach allen Seiten. Vor einer Woche habe ich meine Schwester im Tessin besucht, sie arbeitet jetzt dort in einer Bank, und mit ihr über meine Sorgen gesprochen. Sie wollte mir nicht raten, meine Frau zu verlassen und mich scheiden zu lassen, einfach so, aber sie meinte, ich hätte nur ein einziges Leben, ich sei für das ihre nicht, aber für meines sehr wohl verantwortlich.»
«Warum redest du nicht mit diesem Bauern, dem Res, in den sie verliebt zu sein scheint?»
«Der kennt das Spiel nicht, noch nicht. Er würde mich vermutlich auslachen. Weisst du, wenn sie liebt, ist die Rös eine wunderbare Frau. Ich meine nicht im Bett oder nicht nur im Bett, sondern auch so, im Alltag. Sie liebt alles. Sie hat dabei eine erstaunliche Bandbreite, von der Natur über Bilder und Bücher zur Musik. Sie hört stundenlang klassische Musik, meistens mit Kopfhörer, damit ich sie nicht störe, sagte sie einmal. Sie liebt ganz besonders Kinder, und da sind wir schon wieder beim Thema. Der Res hat von seiner geschiedenen Frau zwei Kinder. Die kommen so alle zwei Wochen zu Besuch. Die beiden Mädchen werfen sich der Rös jeweils in die Arme. Sie spielt und tanzt mit ihnen, erzählt ihnen Geschichten, und der Res ist da und freut sich. Dann benehmen sich die vier als Familie, und ich fühle mich verraten, ich erlebe diese Idylle einerseits als Beleidigung und andererseits als Bestätigung für mein Versagen. Was soll ich also mit ihm reden.»
«Vielleicht solltet ihr Hilfe bei einem Psychologen, der Eheberatung oder in einer Selbsthilfegruppe suchen.»
«Wir haben Ähnliches schon in Amerika versucht, ohne Erfolg. Und hier habe ich mit meinem Arzt gesprochen, der auch Therapien anbietet. Er sagte, wenn wir zusammenbleiben wollten, müssten wir beide kommen. Die Rös sagt, sie brauche das nicht, sie wisse, was sie wolle: Den Res als ihren Freund, ohne sich von mir zu trennen. Schliesslich habe der Res zwei Kinder, und sie ziehe es vor, deren Freundin zu bleiben und nicht ihre Stiefmutter zu werden. Res sehe das genauso. Zudem sehe sie nicht, wie ich von meiner Arbeit leben könnte, meine Knipserei bringe bei all meinen Schulden zu wenig ein. Einer anderen Frau hätte ich ohnehin nichts zu bieten, und somit könne ich gewiss wie bisher weiterleben, ohne mich von ihr trennen oder gar scheiden zu lassen. Im Übrigen hätte ich ja den Res akzeptiert, von Anfang an.»
«Hast du das?»
«Schlimmer, und wie alles hat es eine Vorgeschichte. Sie beginnt am Anfang unseres gemeinsamen Lebens. Zuerst war da die Schwangerschaft und dann der Abort. Danach haben wir uns für die Auswanderung nach Amerika entschieden und wollten mindestens vorläufig eine Schwangerschaft um jeden Preis vermeiden. Es gab noch keine Pille, nicht in den ersten Jahren und nicht ohne ärztliches Rezept. Ich weiss nicht, ob du dir das vorstellen kannst. Wir lebten für Jahre mit geradezu lächerlichem Sex. Wir begegneten uns wie Teenager oder geilten uns mit fantastischen Geschichten auf. Später verhüteten wir Kinder, weil wir sie uns einfach nicht leisten konnten. Die Konjunktur drüben war miserabel. In Rös’ Augen wurde ich mehr und mehr zum Versager. Sie musste mitarbeiten, um uns über Wasser zu halten. Unser Sex blieb pubertäre Fummelei.
Irgendeinmal kamen die Jahre, in denen es uns besser ging und wir beinahe glaubten, Kinder würden endlich unser beschissenes Leben verbessern. Und da kamen keine Kinder. Für mich wurde alles noch schwieriger. Rös beschimpfte mich nicht nur als Versager, sondern auch als impotent und zeugungsunfähig. Unser Verhältnis wurde immer unerträglicher. Und so kamen wir zurück in die Schweiz, nach 20 Jahren. Jetzt hat sie sich in diesen Res verliebt. Aber ich glaubte, das würde sich geben und sie würde zu mir zurückkehren. Jetzt habe ich meine Zweifel, und sie ekelt sich vor mir, vor der Art, wie ich esse, atme, rieche, lache, einfach alles an mir ekelt sie an.»
«Aber das sind doch alles lauter Widersprüche. Du sagst, sie ekelt sich vor dir, aber du sollst sie nicht verlassen. Entweder ist alles anders, oder du machst dir etwas vor.»
«Vielleicht. Vielleicht hänge ich noch immer an ihr und kann sie nicht freigeben. Vielleicht, weil ich mich schuldig fühle oder ganz einfach feige bin, vielleicht aber auch, weil ich mich vor Einsamkeit fürchte, weil ich mir vorkomme wie ein verprügelter und verjagter Hund.»
«Du machst dich lächerlich. Pack deine Sachen und geh.»
«Wohin soll ich gehen? Ich habe mich dort eingerichtet, ich wohne ja nicht nur dort, es ist auch mein Arbeitsplatz, und ich kann von dem, was ich alleine verdiene, noch immer kaum leben.»
«Dann such dir eine Stelle. Du hast ja einen richtigen Beruf. Im Moment findest du bestimmt eine Stelle. Mach das Fotografieren zum Hobby. Die Rös wird nie zur Vernunft kommen, wenn du sie nicht vor vollendete Tatsachen stellst. Ich kenne sie aus unserer gemeinsamen Kindheit. Sie setzt ihre Umgebung stets bis zur Erpressung unter Druck. Das hat sie vom Vater gelernt und an der Mutter ausgelassen. Bei ihr oder durch sie hat sie alles erreicht. Wir waren zwar mausarme Leute, aber wenn sich die Rös etwas wünschte, bekam sie es. Mutter setzte dafür Himmel und Hölle in Bewegung. Kam die störrische Kleine trotzdem nicht zum Ziel, spannte sie den Norbert ein. Ja, sie spielte die beiden gegeneinander aus. Es war auch in meinen Augen ein Spiel.»
Nun holte auch ich sehr weit aus, denn das heillose Kampfspiel, so offensichtlich, ja verständlich es mir zwischen Waldemar und Rös erschien, so unerklärlich und bedrohlich hatte es damals zu Hause auf mich gewirkt. Waldemar hörte mir unentwegt, ja interessiert zu.
«Es stimmt, Vater hat das Rösi wechselweise in den Himmel gehoben und dann gleich wieder schikaniert. Mutter verhielt sich Rös gegenüber immer gegenteilig. Es war, als ob die beiden sich ihretwegen bekämpften oder mindestens einen Wettbewerb lieferten. Da gab es so etwas wie Rivalität oder gar Eifersucht.
Mit 15 fand Mutter bei den Pfisters von der Druckerei für Rös eine Stelle als Haushaltshilfe, danach ging Rös für ein halbes Jahr nach Genf als Au pair-Mädchen. Schliesslich wurde sie Hilfspflegerin im Spital, alles Stellen, bei denen sie nachts nicht zu Hause war. Ich hatte dauernd das Gefühl, Mutter wollte die Rös aus Eifersucht vom Vater fernhalten.
Hin und wieder verbrachte Rös das Wochenende und auch ihre Ferien mit uns. Die Tage begannen jeweils voll Überschwang, wobei sich Vater und Mutter wiederum gegenseitig zu übertreffen suchten, und sie endeten in stundenlangen Gehässigkeiten. Mit 19 lebte Rös wieder voll Zuhause. Ich war inzwischen ausgezogen, und so war genug Platz da. Offenbar kam es auch in dieser Zeit zu schweren Auseinandersetzungen. Vater versuchte, sein Rösli noch immer voll zu kontrollieren. Während einer Weile soll sie tatsächlich mit Alex Pfister geflirtet haben, das hat mir die Bärbel erzählt. Alex hat Rös offenbar abgewiesen, und das hat sie tief gekränkt. Dann kamst du. Vater hat getobt, keine Ahnung, was er gegen dich hatte. Aber Rös heiratete dich, und ihr seid nach Amerika ausgewandert. Ich sehe deine Probleme schon, obwohl ich dir nicht in allem folgen kann. Wenn du willst, werde ich mit Rös reden und ihr raten, dich ziehen oder den Res fallen zu lassen.»
«Sie wird sich kaum etwas sagen lassen. Sie wird mich bei dir verhöhnen und sie wird weiter drohen, weil ich fürchte, ihr wirkliches Motiv ist eine Art Rache, die sie sich um keinen Preis entgehen lassen will. Irgendwie fühle ich mich auch wirklich schuldig. Vielleicht war ich in vielem, um nicht zu sagen, in allem, ein Kümmerling, nur ein kleiner Bock, der sich seine Lust selbst beschaffte, ohne mit Einsatz wirklich zu suchen und zu werben. Vielleicht habe ich die Rös einst genommen, weil sie mich wollte, weil sie mich brauchte, weil sie für mich bequem war. Wer also möchte es ihr übel nehmen, auszubrechen und sich mit Res ein bisschen Lebensfreude – ein Stück wirkliches Leben, wie sie es nennt – zu holen und mir die verlorenen Jahre anzukreiden, mich dafür anzuprangern.
Dabei glaubte ich einst, eine Frau mit gesundem Selbstverständnis und einem liebevollen warmen Herzen geheiratet zu haben. Erst allmählich – in Amerika – begannen ihre Wutausbrüche. Es war, als ob ein fremdes Wesen von ihr Besitz ergreifen würde. Sie hat mich erschreckt und entsetzt. Im besten Fall lief sie danach weg und kam später zurück mit Entschuldigungen und Schuldgefühlen. Erschöpft und weinend fielen wir uns jeweils in die Arme und hofften, alles würde sich zum Besseren wenden, da wir uns doch so dringend brauchten. Die Jahre kamen und gingen. Jede Phase haben wir noch und noch durchlebt.
Die Ausbrüche begannen meistens unvorhersehbar mit kleinsten Meinungsverschiedenheiten, eskalierten zu wilden Szenen und endeten in chaotischer Zerstörung von Geschirr und Möbeln. Sie schrie und schlug blindlings um sich, rannte mit dem Kopf gegen die Wand, warf sich zu Boden, um letztlich in einer Art von hilflosem Weinen aufzugeben. Es gelang mir kaum, sie vor sich selbst zu schützen. Sie wurde für mich urplötzlich zu einem fremden Wesen, einem Wesen, das einer fremden Macht folgte Immer, wenn es mir danach gelang, zu diesen grässlichen Szenen Abstand zu gewinnen, entsetzte mich die Energie, mit der Rös ihren ‹Kampf› betrieb. Im Zustand der Aggression war sie sich fremd oder mindestens fehlgeleitet.
Irgendeinmal wusste ich, dass dies alles vermutlich nur wenig mit mir zu tun hatte. Sie richteten sich in Wirklichkeit gegen ein Phantom, das ich nicht kannte. Ich begann auf Symptome und Abläufe zu achten und wusste auf einmal, dass die Rös mich mit ihrem, mit deinem Vater verwechselte.»
Nach kurzer Pause, in der er mich nur stumm ansah, fuhr Waldemar mit leiser Stimme fort, und diesmal liess ich ihn ausholen:
«Damals, als wir auswanderten, hat Rös von Norbert erzählt, von seinem Schweigen, von der bedrückenden Stimmung, die er verbreitete, seinen Ansprüchen, seiner Art, wie er eure Mutter beleidigte, seine Schimpftiraden auf die Leute in der Fabrik, seine Wutanfälle auf Politiker und Autoritäten, wobei er offenbar nie handgreiflich, nie wirklich grob wurde, einfach lärmte oder schmollte.
Dann kam eine Phase, in der Rös von ihm geradezu schwärmte, wie er sich pflegte und wie eitel er sein konnte, auf sein Äusseres achtete, sich wie ein Gentleman benehmen und auch reden konnte, weit über dem Niveau, in dem er eigentlich lebte. Von daher kam seine Bitterkeit, weil er sich zu Besserem als Chauffeur oder Vorarbeiter berufen fühlte, und darum ihre oft unvermittelte, absurde Anhänglichkeit, weil sie sozusagen mit ihm gemeinsam über die groben Herabsetzungen in seinem erbärmlichen Leben trauerte. So lernte ich ihr Verhältnis zu Norbert kennen. Meine Sicht wollte bisher niemand teilen, ich verstehe zu wenig davon, so blieb bisher alles an mir hängen …
In unserem ersten Jahr in Amerika litt Rös an starkem Heimweh. Sie hörte die Stimme der verstorbenen armen Schwester und wollte zu ihr zurückkehren, ihr Grab besuchen. Sie glaubte, du, ihr Bruder, spiele im Nebenzimmer Trompete. Sie öffnete die Tür, um nachzusehen, so echt waren ihre Halluzinationen. Dann wieder sehnte sie sich nach eurem Vater. Ich erinnerte sie daran, wie ihr die Mutter geholfen hatte, von zu Hause wegzukommen, um Rös von ihrem Vater zu trennen, sie vor ihm zu schützen, und wie ihr Vater Rös mit Schweigen für nichts bestrafte, für nichts, weil er ihr nie sagte, welche Vorwürfe er ihr insgeheim machte. Dabei hatte er sie ab und zu nachts besucht, die Decke weggezogen und sie betrachtet, ihre noch kindlichen Brüste betastet und gestreichelt, während sie sich schlafend stellte. An mehr konnte sie sich nicht erinnern.
Sie kämpfte gegen ihren Vater, weil er die Familie terrorisierte und schon immer terrorisiert hatte. Weil die Mutter, kurz nach dem Umzug in die neue Wohnung, Rös und dich in die Küche eingeschlossen und danach den Gashahn aufdreht hatte. Rös kämpfte nicht erst in Amerika um ihre innere Freiheit, um die Loslösung von der väterlichen Klammer, auf Leben und Tod. Ihr Vater aber hielt euch alle in der Zange und stach immer dort zu, wo ihr am leichtesten zu verletzen wart. Er stach zu wie die Skorpione in seinem Terrarium. Er war für euch und ganz besonders für die Rös ein Skorpion. Und immer, wenn er zustach, entfachte er in Rös das Entsetzen einer gequälten Kreatur, da wurde sie zur Furie, auch in ihrem späteren Leben. Er wütete weiter in ihrer Seele, auch als sie ihn meinetwegen verlassen hatte, und er stach zu, jetzt vielleicht erst recht, weil sie mit mir zusammenlebte.
Mehr und mehr war ich überzeugt, dass die Rös zwar ihren Vater verliess und mich heiratete, aber seine Gefangene blieb. Ihr verinnerlichter Mann war der Mann der gefährlich stechenden Skorpione, der Herr über Leben und Tod. Ihr Vater war zum Wesen Mann und als solcher selbst zum grausamen Skorpion geworden. Wann immer sie sich in seiner Schuld fühlt, oder sich gegen ihn durchsetzen will, sticht er zu. Er behält seine Beute in der Zange und sticht und sticht, noch und für immer. Die Stiche aber lastet sie mir, ihrem zum Vater gewordenen Mann, an.
Jeder neue Mann, den sie sich nahm oder nimmt, erscheint ihr als Flucht und Rettung vor ihrem Vater. Jeder Mann wurde nach der ersten, oft überschwänglichen und überbordenden Verliebtheit zu ihrem Vater. Und als sie mir vor zwei Jahren erzählte, sie fühle die gleiche unerträgliche Spannung, wenn du, ihr Bruder, uns besuchen kommst, die sie früher fühlte, wenn euer Vater nach Hause kam – da wusste ich, dass sie auch in dir ein Bild ihres Vaters verinnerlicht hat und damit Angst und Aggressionen verbindet. Jetzt weisst du auch, warum wir dich in den letzten beiden Jahren kaum noch eingeladen haben. Sie kämpft noch immer gegen ihren Vater. Er hält sie nach wie vor in der Zange und sticht zu, wo sie am leichtesten zu verletzen ist, unvermittelt hervorbrechend, rasend, seitlich rennend, unberechenbar.
Die Stiche müssen entsetzlich schmerzhaft sein, und das Gift versetzt ihre Seele in Aufruhr. Der Schmerz führt entweder zum offenen Kampf gegen den Mann, wer immer das ist, zum Krieg gegen sich selbst oder zur Suche nach Linderung im Rausch oder Schlaf. Der längste Schlaf aber ist der Tod. Dieser mögliche Tod war für mich mehr als Entsetzen. Nie sollte sie in meinen Armen an den Stichen des unsichtbaren Mörders sterben. Niemand hätte den Mörder gesucht, niemand hätte ihn gefunden und niemand hätte mir geglaubt. Niemand aber vermochte es, meine Frau der Zange des Skorpions zu entreissen, den Skorpion zu töten. Rös hat sich bisher jeder Therapie entzogen, wenn diese ihr fundamentale Einsichten abverlangte.
Später entwickelte Rös eine unglaubliche Eifersucht. Vor allem, als ich mit meiner Arbeit etwas besser vorankam, kleine Erfolge hatte, Werbeaufträge fotografieren konnte und dabei Frauen oder hin und wieder gar Models auftraten. Hinter allem witterte sie wüste Szenen. Sie sah mich als geilen Grabscher, der sich die Mädchen vornahm, um zu onanieren. Einen richtigen Fick traute sie mir nicht zu, höhnte sie hin und wieder.
All diese Vermutungen waren barer Unsinn. Ich habe sie nie betrogen, ging nie in den Puff und glaubte trotz aller Schmach durch alle Jahre, im Grunde genommen ein gutes und liebenswertes Mädchen geheiratet zu haben, das mich mit ihrem Vater verwechselte und mich daher bekämpfte. Zwanghaft mit seinem eigenen Vater verheiratet zu sein, muss zu krankhaft grausamen Konflikten führen. Der vermeintliche Inzest verstösst vermutlich im Unterbewusstsein gegen jedes natürliche Schamgefühl und schreit nach Revolte.
Ich habe ja auch einen schwierigen Vater gehabt, der mich schikaniert und wegen Kleinigkeiten verhöhnt oder gar geschlagen hat. Wenn er wütend war, hat er auch meine Mutter geschlagen – gesehen habe ich es nie, es geschah immer nachts, ich habe ihn gehört, wenn er sie beschimpfte, sie gab auch zurück und ich wusste es immer, wenn die Schläge die Worte ersetzten. Und am Morgen sah ich es ihr an. Sie hat darüber nie gesprochen. Erstaunlicherweise schlug er weder Yvonne noch meine jüngeren Brüder. Ich wusste, dass ich das nie tun würde, und ich habe es nie getan. Manchmal glaube ich, die Rös wartete darauf – das hätte das Spiel erweitert, es noch tödlicher gemacht. Wir haben auch darüber gesprochen, sie sagt, dein Vater habe weder sie noch ihre Mutter geschlagen. Seine Gewalt war eine andere.
Es gab Zeiten, in denen sich Rös vor sich selbst fürchtete. Ein Arzt im Spital, in dem sie arbeitete, schickte sie zum Psychiater. Nach einer Weile schlug der Therapeut vor, mich an den Gesprächen zu beteiligen. Mit heute eher naiv erscheinendem Wohlwollen stellte ich mich selbstverständlich zur Verfügung und war dann sehr betreten, als ich mich mit dem angeblich eigentlichen Problem unserer Beziehung, meinem sexuellen Unvermögen, konfrontiert sah. Dies sei ein Problemkern von grösster Sprengkraft, der dringend gelöst werden müsse. Ich kannte den Sachverhalt, aber ich war vielleicht aus Ignoranz oder Überheblichkeit nicht auf die Virulenz und Tiefe des Anliegens vorbereitet und stellte die Diagnose in Frage. Als ich meine Sicht der Geschichte erzählte, stiess ich bei dem Therapeuten wie bei Rös auf kalte Ablehnung.
Rös beklagte sich, dass sie mit mir noch nie einen wirklichen Orgasmus erleben konnte. Sie gab zwar zu, dass unsere Sexspiele ihr oft gefallen hätten, aber sie war ihrer überdrüssig geworden. Während einiger Zeit versuchten wir im Gespräch eine Lösung zu finden. Ohne Ergebnis. Rös drängte mich, die Therapie abzubrechen. Ab jetzt wollte Rös mit mir nicht mehr schlafen – auf Zeit, wie sie meinte, vielleicht würde sich nach einer Auszeit alles zum Guten wenden.
Nach Monaten sah ich mich in einer unüberwindlichen Falle. Der Weg zu einer eventuellen Heilung war versperrt, und Rös’ Eifersucht verbot mir ohnehin jeden Versuch, auszubrechen. Und zudem hatten wir kein Geld. Wir lebten noch immer, mindestens zum Teil, von Rös’ Einkommen.
Es gab Zeiten, da sah Rös unser Dilemma ganz realistisch. Letztlich entschlossen wir uns, in die Schweiz zurückzukehren und ganz neu zu beginnen.
Und da waren wir nun. Alles wurde schwieriger als je zuvor. Nichts war, wie wir es uns vorgestellt hatten. Wir haben drüben alles, was sich verkaufen liess, verkauft, weil uns der Transport von Möbeln und Hausrat zu teuer schien. Wir reisten mit unserem für den Flug zugelassenen Gepäck und glaubten, unser Bargeld würde uns reichen, uns hier einzurichten und ein paar Monate zu leben. Aber schon eine Wohnung zu einem bezahlbaren Preis zu finden, war schwierig. Was wir an Möbeln brauchten, kauften wir im Brockenhaus. Das war gar nicht so schlecht. Trotzdem schmolz unsere Barschaft wie Schnee an der Frühlingssonne. Zwar fand Rös schnell, jedoch nur als Aushilfe und nur stundenweise Arbeit im Spital. Meinerseits fand ich als Fotograf keine Arbeit, ohne Lehrausweis schon gar nicht. Aber auch als Werkzeugmacher hatte ich keine Chance. Die Konjunktur lahmte. Also verlegte ich mich wieder auf die selbständige Fotografie, und dazu brauchte ich ein Studio und vor allem eine brauchbare Ausrüstung. Eine Kollegin von Rös erzählte von der Wohnung auf dem Land, beim Res. Den Rest weisst du. Du hast mir Geld geliehen, und ich begann Kunden zu suchen, was weit schwieriger war, als ich es mir vorgestellt hatte. Meine Schwester Yvonne verschaffte mir die ersten nennenswerten Aufträge. Es war so etwas wie der Silberstreifen am Horizont.
In der Freizeit begann die Rös, dem Res in Haus und Feld zu helfen. Es täte ihr gut, vor allem die Arbeit an der frischen Luft, sagte sie. Für eine Weile hatten auch wir beide es wieder gut. Nachts umarmten wir uns und hofften auf eine bessere Zukunft. Ich selbst hatte mit Res wenig Kontakt. Rös glaubte, dass ich ihn zu wenig kenne. Sie wollte ihn zu einem gemeinsamen Essen einladen. Ich sah keinen Grund dagegen. Er kam und brachte zwei Flaschen Wein vom Seeberg. Rös machte ein amerikanisches Essen mit T-Bone-Steak, Mais und gebackenen Zwiebelringen. Wir erzählten Res von unserem Leben in Amerika und wie gut es uns hier auf dem Hof gefiel.
Nach dem Essen sahen wir im Fernsehen Marlon Brandos Film ‹Der letzte Tango›, der in vielen Staaten Amerikas seiner angeblich obszönen Szenen wegen verboten war und den wir nur seinem Titel und seinem Ruf nach kannten. Wir sassen auf dem Sofa, Rös in der Mitte, und tranken Whisky. Sie lehnte sich an mich, küsste mich hin und wieder an Hals und Wange, legte ihre Hand auf meine Schenkel. Diese deutliche Art von Einladung hatte es in den vergangenen Jahren selten gegeben. Plötzlich legte sie beide Arme um mich und küsste mich lang und herausfordernd auf den Mund. Ich schob meine Hand unter ihren Jupe und erlag meinem aufgestauten Drang nach Sex. Sie öffnete die Schenkel und liess mich weiterfühlen. Dann wandte sie sich plötzlich Res zu und fragte, ob es ihn nicht störe, wenn wir uns derart beschmusten. Er lachte ziemlich aufgekratzt, er fände es nur schade, davon nichts zu bekommen. Da drehte sie sich zu ihm und küsste ihn mit dem gleichen Ungestüm wie mich zuvor. Ich liess sie gewähren und liess auch meine Hand, wo sie war, im Gegenteil, ich erfühlte ihr heisses Geschlecht, die scharfe Nässe. Alle drei waren wir schon ziemlich betrunken, aber das ist bloss Ausrede. Res verliess uns gegen Morgen nach einer für mich bisher unvorstellbar ausschweifenden Nacht.
Spätestens seither ist Res ihr Freund. Anfänglich sah das nicht eindeutig so aus. Während Tagen und Wochen geilten Rös und ich uns an der gemeinsamen Erinnerung auf und vergnügten uns wie kaum je zuvor, aber wir haben uns nie mehr zu dritt ins Bett gelegt, und sie hat nie diesen Wunsch aufgebracht. Ich ahnte, dass sie mit uns beiden spielte, doch letztlich war ich der Verlierer. In jener Nacht habe ich den letzten Rest meiner Würde verloren. Für Rös war dies meine endgültige Kapitulation vor ihren Wünschen. Drei Jahre sind seither vergangen. Jetzt bin ich am Ende.»
Ich hatte Waldemar nicht mehr unterbrochen, obwohl mich vieles verwirrte und anderes gar verletzte. Immerhin fühlte ich, dass Waldemar aus einer echten, wenn auch vielleicht dümmlichen Not heraus sprach.
«Die Rös betrügt dich also mit Res, nicht zuletzt durch dein ziemlich eindeutiges Mittun, und du bist auch danach nie entschieden dagegen eingetreten, also bist du jetzt Teil des Spiels, und das hält sie dir vor. Du suchst Hilfe, willst aber nicht, dass ich mit ihr rede, was also soll ich tun?»
«Ich bitte dich, ihr zu helfen, wenn ich gegangen bin, und jetzt, da du unsere Geschichte und meine Gründe kennst, wirst du mich verstehen, und das erleichtert meinen Schritt.»
«Eigentlich machst du es dir ziemlich leicht. Alle Fehler scheinen bei Rös oder gar meinem Vater zu liegen. Was du oder eben auch Rös ihm da unterschiebst, ist alles andere als harmlos, und nun soll ich dich gar entschuldigen oder zumindest verstehen?»
«Ich weiss, dass ich Teil des Spiels bin, aber ich weiss auch, dass ich es unterbrechen muss. Rös und ich stehen in der Mitte des Lebens, und wenn ich an eine Fortsetzung denke, graut mir vor uns und unserer Zukunft. Ich suche für sie und mich einen erträglichen Weg. Jeder andere, den ich bisher erdachte, wäre schwieriger für alle, glaub mir.»
«Waldemar, für das, was du mir erzählt hast, hätte ich dich vor zweihundert Jahren zur Rettung der Ehre meiner Schwester und meiner Familie totschiessen müssen. Ich weiss nicht, wie weit Freundschaft gehen kann oder muss, aber du hast unsere Freundschaft von einst an einen Abgrund geführt.»
«Ich weiss, auch das wäre eine Lösung. Ich habe vorher darüber nachgedacht, du darfst es mir glauben.»
Den Rest des Weges legten wir mehr oder weniger schweigend zurück. Waldemar machte keine Aufnahmen, und es wurde mir klar, dass seine ganze Ausrüstung nur zur Verschleierung seines wirklichen Anliegens gedient hatte. Wir trennten uns auf dem Parkplatz und sahen einander nie mehr.
Sein Tod genau eine Woche später war für mich ein ziemlicher Schlag, und er hat in mir alle Zweifel über das Leben meiner Eltern und insbesondere über meinen Vater ausgelöst. Später, nach ihrer Entlassung aus der Klinik, wollte ich mit meiner Schwester über die Jahre mit Waldemar sprechen, aber sie mochte nicht, nicht mit mir. Inzwischen war auch Norbert gestorben. Um mir ein Bild zu machen, blieb nur Bärbel, und die tat sich schwer.
Die Rös hatte Waldemar eröffnet, sie erwarte von Res ein Kind. Dann hatte sie ihn verlassen. Er holte seinen amerikanischen Colt, setzte sich unter einen blühenden Kirschbaum und schoss.
Dies alles hatte Yvonne von meiner Schwester erfahren – vielleicht auch viel mehr. Ich habe sie in der Klinik hin und wieder besucht. Sie sei als Borderliner schwierig zu therapieren. Man wisse darüber noch zu wenig. In Amerika versuche man, das Phänomen zu enträtseln. Später habe ich in dem Buch mit dem Titel «Ich hasse dich, verlass mich nicht» die wichtigsten Borderliner-Merkmale gefunden. Alles passte zu dem, was Waldemar mir erzählt hatte, die Stimmungsschwankungen, Zornausbrüche und Selbstmorddrohungen, die nie aufs Ganze gingen, sondern Erpressungen waren, die Gefühle der Bedrohung, der Leere, der gebrochenen Identität und krankhafte Eifersucht – und alles in Verbindung mit immer neuen, anfänglich überschwänglich erlebten zwischenmenschlichen Beziehungen, deren Scheitern von tiefer Depression und der Flucht in Alkohol oder Drogen begleitet ist.
Ich habe das Buch gelesen, um verstehen zu lernen, warum meine Schwester dieses schwierige Leben führen musste. Es war der Anfang meiner Rückschau auf mein eigenes und das Leben von Norbert und Bärbel.
Seit jenem Sonntag am See sind Jahre vergangen, aber Waldemars Erzählung konnte ich nie vergessen und ich habe mit niemandem ausser mit Erna darüber gesprochen. Meine Schwester lebt noch immer im Wallis, und ich glaube, einigermassen glücklich. Sie kam mit ihrer Freundin Yvonne zu Mutters Begräbnis. Wir haben miteinander kaum gesprochen, aber uns umarmt wie Geschwister es tun, wenn sie sich mögen.