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Ilse und die Pfisters
ОглавлениеAm 24. April 1983, einem sonnigen Frühlingstag, an dem im ganzen Land die Kirschbäume blühten, war Erna Pfister bei ihren Eltern zu Besuch und nach dem gemeinsamen Mittagessen mit Vater Wilhelm zum Spaziergang an den See hinuntergegangen, während Ilse, Ernas Mutter, im Büro, wie sie und die ganze Familie das kleine Arbeitszimmer nannten, in dem sie früher «ihre» Zeitung redigiert hatte, die Grabrede des Pfarrers und den damaligen Nachruf im «Seespiegel» für ihren vor 20 Jahren verstorbenen Schwiegervater Johann Pfister las.
Beides hatte Ilse damals zusammen mit ihrem Mann Wilhelm und dem alten Pfarrer Grob verfasst und heute aus einem alten Ordner herausgesucht. Da war haarklein nachzulesen, wie der Pfälzer Johann Pfister aus Bretten nach der Jahrhundertwende als Buch- und Zeitungsdrucker in die Schweiz kam, in der nahen Stadt eine Stelle fand, dort Hedwig, die Tochter des allseits bekannten Lehrers und Rektors der Sekundarschule Sulzach, Doktor Melchior Müller, kennen lernte, ihretwegen ins Dorf zog, sie heiratete, mit dem Geld des Schwiegervaters eine Druckerei einrichtete, um auf dessen Drängen hin eine Zeitung zu gründen, den «Seespiegel» nämlich, weil der Herr Doktor, Lehrer und Rektor, gerne auch Redaktor werden und sein wollte.
Es galt, den Bewohnern in diesem Tal mit seinem lieblichen See endlich starke Werte zu vermitteln, Werte, die sonst zu wenig Beachtung fanden.
Im Tal der Sulzach gab es zwar schon das «Sulztaler Wochenblatt», doch fehlte diesem aus der Sicht des Doktor Müller die für die Seeweite dringend nötige Sehweite, der Weitblick in die Welt. Das Blatt hielt sich an die lokalen Ereignisse, versuchte in allem neutral zu bleiben und berichtete immer mit entsprechender Verspätung, was sich aus den grösseren Zeitungen des Landes hatte abschreiben und zusammenfassen lassen. Niemand bekam dabei seiner Meinung nach ein Bild von den enormen Umwälzungen, Entdeckungen und Errungenschaften in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft der modernen Zeit.
Müller wollte eine Zeitung, die mit der Welt in direkter Verbindung stand, per Telefon und Telegraph. Er war Schwerarbeiter, nicht nur für die Schule, sondern auch für den «Seespiegel» – als Reporter, Kommentator und Redaktor zugleich. Sein Schwiegersohn Johann sorgte zweimal pro Woche für Satz, Umbruch, Druck und Vertrieb des neuen Mediums. Besonders Letzteres war viel schwieriger, als es sich die beiden Zeitungsmacher vorgestellt hatten. Anscheinend hatte kaum einer auf die neuen Nachrichten, Botschaften und Werte gewartet. Während Wochen streuten sie den Seespiegel gratis in die Haushalte, die sich vermutlich oder vielleicht ein Abonnement hätten leisten können. Noch schwieriger lief das Anzeigengeschäft. Die Krämer der Gegend waren es gewöhnt, ihre Schmierseife, Bodenwichse, Strohhüte, Schwärzebirnen und Miederwaren im «Sulztaler Wochenblatt» anzupreisen. Beinahe zwei Jahre dauerte die Durststrecke.
Doktor Müller musste immer wieder Geld nachschieben. Sein aus einer Erbschaft stammendes, nicht unerhebliches Vermögen hatte er schon längst eingesetzt. Die im einstigen Dorfschulhaus eingerichtete Druckerei mit den beiden Wohnungen – in der einen hatten die Müllers mit ihrer Tochter schon immer gewohnt, und in die andere war jetzt das junge Paar Johannes und Hedwig Pfister eingezogen – konnte sein Schwiegersohn zwar mit Krediten der lokalen Bank abstützen, doch die laufenden Kosten zehrten mehr und mehr an der Substanz. Dem rührigen Redaktor blieb nichts übrig, als potente Gönner für die Zukunft seiner Idee zu finden.
Zusammen mit ein paar Fabrikherren der aufstrebenden Industrien konnten Doktor Müller und Johannes Pfister eine moderne Aktiengesellschaft gründen und gleichzeitig auch das stattliche Haus von der Gemeinde zu einem vorteilhaften Preis erwerben. Natürlich wollten die Unternehmer vom Doktor ziemlich genau wissen, in welche Richtung und wie gefärbt denn das Blatt in Zukunft berichten würde. Nein, man würde sich gewiss nicht einmischen, aber «nur die allergrössten Kälber wählen ihren Metzger selber», gab ihm beispielsweise Aasbach, der alte Besitzer der Spinnerei, jovial lachend zu verstehen. In Grundfragen war man sich sehr schnell einig. Es galt, den aufkommenden gottlosen und international organisierten Sozialismus zu bekämpfen. Zwar hatte man hier auf dem Lande in dieser Sache noch keine allzu grossen Sorgen, aber das konnte sich sehr schnell ändern, vor allem, wenn man den Leuten die falschen Inhalte vermittelte.
Einerseits fühlte sich der Lehrer, Redaktor und Doktor Müller den radikal liberalen und demokratischen Grundsätzen der Schweizerischen Bundesverfassung verpflichtet. Andererseits zweifelte er am Sinn von allzu viel direkter Demokratie für das ungebildete Volk. Hin und wieder waren klare Entscheide nötig, und dazu bedürfte es einer starken Hand. Das zeigten ihm die Erfahrungen der jüngsten Geschichte in ganz Europa. Zudem galt es für die kleine Schweiz, sich auf die richtigen Partner auszurichten. So wurde Müllers Ansicht nach im ganzen Land der Aufstieg des deutschen Reiches mit seinem Kaiser zu wenig beachtet und vor allem zu wenig wohlwollend gewürdigt. Durch den Krieg von 1871 fanden sich die zuvor ewig zerstrittenen Länder nördlich des Rheines zu einer unüberwindlichen Einheit und kulturellen, wirtschaftlichen und militärischen Kraft zusammen. Die Schweiz war seiner Meinung nach zweifellos Teil dieser Kultur und einst auch Teil des «Heiligen römischen Reiches Deutscher Nation» gewesen.
Hier aber wurde landauf und landab daran herumgenörgelt, und immer noch gab es viel zu viele Leute, die den Franzosen lobhudelten. Dabei hatten diese doch das Land einst unter Napoleon heimgesucht, alles gestohlen, was nicht niet- und nagelfest gewesen war, den Bürgern und Bauern die Vorräte weggefressen, die jungen Burschen eingezogen und nach Russland gezwungen, um sie an der Beresina in Schlamm und Kälte verrecken zu lassen. Was der Wilhelm aus Preussen tat, war nichts als eine vielleicht etwas späte, aber verdiente und somit verständliche Retourkutsche. Im verlorenen Krieg und ganz besonders in den halbverhungerten Soldaten der Bourbaki-Armee sahen die Schweizer eindrückliche Beweise für den Niedergang der «Grande Nation». Frankreich war eindeutig dabei, das Wettrennen um Macht, Reichtum und Fortschritt in Forschung, Wirtschaft und militärischer Schlagkraft auf dem Kontinent zu verlieren. Darüber konnten weder spektakuläre Weltausstellungen noch gewaltige Bauprogramme hinwegtäuschen. Nicht umsonst waren die Franzosen mit ihrem ehemaligen Erzfeind Grossbritannien die Entente eingegangen. Das war schiere Angst, und wer genauer hinsah – auch mit den Russen verbündete sich die Entente – verstand die Signale: Einmal mehr sollte das Deutsche Reich in die Zange genommen und erwürgt werden.
Dem Doktor war auch die Heirat von Korpskommandant Wille mit einer Bismarck nicht entgangen. Das war wirklich eine nennenswerte Allianz. Kein anderer hätte vermocht, den deutschen Kaiser zu den grossen Manövern ins Appenzellerland einzuladen. Gewiss stand der Name Bismarck dabei Pate. Als Wille schliesslich General wurde, waren für Doktor Müller und seine Schweiz alle Optionen offen, und er hätte dem Carl Spitteler damals gerne eine andere Sicht der Dinge eröffnet, als dieser 1914 bei Kriegsbeginn «seinen Standpunkt» dem Parlament vortrug.
Mit dem Krieg von 1914 hatte der «Seespiegel» seine Durststrecke überstanden. Die Leute waren neugierig auf Nachrichten von der grossen Tragödie. Allerdings musste sich die Redaktion nach der Decke strecken. Die Zeitung konnte sich zweimal die Woche – inklusive Anzeigen – höchstens vier bis sechs Seiten leisten, Letzteres meistens am Samstag. Allzu viel Platz für Müllers glühende Bekenntnisse gab es ohnehin nicht.
Johann selbst hatte dem Weltbild seines Schwiegervaters nicht viel beizufügen. Er war nicht sehr unglücklich über die durch die Knappheit der Mittel eng gesetzten Grenzen. Der wortreiche Überschwang des gebildeten Mannes war ihm oft suspekt. Was im Dorf zählte, das hörte er immer wieder, waren Nachrichten vom Krieg und aus der Region. Die grosse Politik interessierte nur wenige, und irgendwelche Belehrungen wollte schon gar niemand lesen. Hin und wieder gelang es ihm, den Feuereifer des Herrn Doktor zu mässigen. Im Übrigen aber standen für ihn sein erhabenes Handwerk und seine Hedwig im Vordergrund. Sie setzte sich mit den Meinungen ihres Vaters durchaus auseinander, aber politisieren wollte sie nicht, das war Männersache.
Hedwig hatte zwar die Töchterschule in der Stadt besucht, etwas über Geschichte gehört, sprach leidlich Französisch und Italienisch, hatte sehr viele erbauliche Bücher gelesen und auswendig gelernte Gedichte rezitiert. Wichtig war auch, kochen und einen Haushalt führen zu können. Natürlich wusste sie, dass die Frauen in Dänemark, Grossbritannien und offenbar auch in anderen Ländern um das Recht, an Wahlen teilzunehmen, kämpften und dass sie dieses Frauenstimmrecht da und dort gar schon erreicht hatten, aber das interessierte sie nicht weiter. Sie wollte Frau und Mutter werden und sein, und eigentlich nervten sie Auseinandersetzungen, wie sie Männer unter sich austrugen. Männer waren dabei so hart und unerbittlich, sprachen sofort von Strafmassnahmen und Krieg. Offenbar ging das nicht anders, und in einer solchen Welt wollte sie sich nicht bewegen. Die Frauen taten gut daran, sich da herauszuhalten. Das war der Konsens. Bestimmt war das Deutsche Reich etwas Grossartiges, aber sie wollte trotzdem lieber, wenigstens einmal, mit Johann nach Paris fahren. Doch daran war damals nicht zu denken. Im Mai 1912 brachte sie ihren ersten Sohn zur Welt.
Nur wenige Wochen zuvor war die Titanic im eisigen Meer gesunken – ein schreckliches Unglück, einem deutschen Kapitän auf einem deutschen Schiff wäre das bestimmt nicht passiert! Der britische imperialistische Grössenwahn, verbunden mit überheblich schnoddriger Oberflächlichkeit, hatte da eindeutig überbordet, und das Unglück war gewiss auch ein Zeichen Gottes. Hedwigs Vater hatte dem Unglück in der Zeitung viel Platz eingeräumt, die Katastrophe in einem Leitartikel ausführlich kommentiert und sich dabei auch mit politischen Aspekten der Sache auseinandergesetzt. Der junge, erst seit wenigen Monaten amtierende Pfarrer Grob ging zu Pfingsten nicht nur auf der Kanzel, sondern auch mit seiner Pfingstbetrachtung im «Seespiegel» auf die göttliche Fügung der Tragödie ein. «Einmal mehr hat menschliche Überheblichkeit den Himmel herausgefordert und Gott hat diese Anmassung mit Kraft zurückgewiesen, ein Zeichen, eine Warnung gesetzt als deutliches Menetekel für die Sehenden …»
Nein, Hedwig war nicht bigott, aber so ein wenig Respekt vor der göttlichen Gerechtigkeit hatte sie schon und Pfarrer Grob war ihr durchaus sympathisch. Im Sommer taufte er ihren ersten Sohn auf den Namen Wilhelm, Hedwig hatte überhaupt nichts dagegen und ihr Vater, der Doktor Grossvater, wollte trotz seines Alters um jeden Preis Pate sein. Er sah sich letztlich als Gründer einer geschichtsträchtigen Zeitungsdynastie. Schade, meinte er bei Gelegenheit, dass Hedwigs Mutter, seine Frau, das nicht mehr erleben durfte. Sie war schon vor Jahren an Diphtherie gestorben.
Der «Pastor», wie sich Pfarrer Grob seit seiner Zeit in Dresden unter Freunden gerne nennen liess, und Hedwigs Vater teilten viele Werte. Beide waren nicht sehr glücklich über die stete Zuwanderung von Arbeitern und ihren ganzen Familien aus den Armenstuben des Landes, aus dem katholischen Hinterland wie dem Fricktal oder dem Freiamt beispielsweise. Bald schon war die katholische Diaspora in der Lage, eine eigene Kirche zu bauen. Ein im Tabakhandel reich gewordener Kaufmann hatte vor seinem Tod mit einem grossen Stück Land und einer nicht weniger grosszügigen Spende nachgeholfen. Seither hatte sich aus der Kirchgemeinde heraus gar eine Zelle der katholisch konservativen Partei gebildet, die sich mit fast jedem Zugezogenen vergrösserte und jedenfalls laufend an Einfluss gewann – nicht zuletzt wohl mit Unterstützung und Geldern der grossen Schwestern in den katholischen Kantonen.
Aber auch Österreicher aus dem Vorarlberg und dem Tirol oder Deutsche aus Bayern und Schwaben suchten hier Arbeit als Tagelöhner, Fabrikarbeiter und als Handwerker. Handwerker kamen oft als Wanderburschen, lachten sich ein Mädchen an und blieben. Schon jeder Zehnte im Land war zumeist ein katholischer Ausländer. Fast alle neuen Einwohner waren zweifellos fleissig und tüchtig, manche gründeten gar ein eigenes Geschäft. Diese Krämer und Handwerker konnten mit der Solidarität der Römisch-Gläubigen rechnen.
Pfarrer und Redaktor waren sich einig, dass die Unterwanderung durch papsthörige Katholiken politisch brisant werden könnte. Alles hatte man getan, um den Einfluss der Papstkirche auszubremsen, den Sonderbund zerschlagen, die Klöster geschlossen und die Jesuiten verjagt. Auf keinen Fall durfte man diese Errungenschaften wieder aufs Spiel setzen oder gar preisgeben. Sie störten sich keinen Augenblick daran, dass Johann Pfister ein Pfälzer, ein Deutscher war, ein Lutheraner, ein Protestant halt. Das war nicht dasselbe.
Doktor Melchior Müller freute sich über den jungen Pfarrer. Beide waren sie ein bisschen traurig, als 1918 sowohl das Reich von Wilhelm II. als auch das Reich unter Karl I., dem österreichischen Thronfolger von Franz-Joseph, zusammenbrach – obwohl sich Karl I. als überaus zeugungsfreudiger katholischer Eiferer gebärdet hatte. Einig waren sie sich auch in der Beurteilung der russischen Revolution und wie gefährlich die Entwicklung in der Schweiz sei. Da musste man eisern zupacken. Auch Johann war davon überzeugt. Zweimal pro Woche war darüber im «Seespiegel» ausführlich zu lesen. Natürlich war die weit verbreitete Armut der Faulenzer und Habenichtse oder gar der Hunger der Arbeiter ein böses Übel und somit vor allem eine Herausforderung für die christliche Nächstenliebe, aber ganz bestimmt kein Grund für Unbotmässigkeit, Aufruhr und Streik.
Es galt, die Not vor allem durch Arbeit zu lindern. «Nur Arbeit macht frei», rief er einmal von der Kanzel.
Als der Doktor gegen 70 ging, drängte er den Pfarrer, die Redaktion des Blattes zu übernehmen, nur so könne es im bisherigen Geiste weiterleben. Pfarrer Grob wollte um keinen Preis darauf einsteigen. Er werde, wenn Johann das zulasse, die Arbeit anonym begleiten, aber es sei wichtig, dass Johann für die Zeitung einstehe und der Pfarrer im Hintergrund bleibe. Der Doktor sah die Schwierigkeit des Jüngeren und behielt seinerseits das Blatt auch durch seine letzten Lebensjahre im Auge. Johann bewältigte die inzwischen doch sehr alltäglich gewordene Arbeit mit Gelassenheit, liess sich von Pfarrer Grob in schwierigen Fragen gerne führen und akzeptierte auch die gelegentlich etwas überzogenen Voten des alternden Doktors, der 1934 beinahe 80-jährig, starb. Das Blatt wandelte sich in diesen frühen 30er Jahren mehr und mehr zu einem recht beliebten, moderaten Spiegel lokaler Angelegenheiten.
Durch die Erbschaft aus Doktor Müllers Nachlass und mit Hilfe der Regionalbank wurde es Johann Pfister möglich, die gestreuten «Seespiegel»-Aktien aufzukaufen, zumal einige seiner Kunden und Aktionäre über Jahre eine schwierige Konjunktur erlebt und diese Aktien in solch schwierigen Zeiten nie nennenswerte Dividenden abgeworfen hatten, sodass die meisten Inhaber mehr oder weniger froh waren, sie loszuwerden. Damit wurde aus Druckerei und Zeitungsverlag «Seespiegel» ein richtiges Familienunternehmen.
Johann verordnete jetzt den Mitarbeitern seiner Firma unermüdlichen Fleiss und einen harten Sparkurs. Er entliess Leute, nicht nur, weil weniger Aufträge da waren, sondern weil jetzt auch Wilhelms jüngere Brüder Wolfgang und Traugott im Betrieb arbeiteten. Für sich selbst, für Hedwig und ihre Söhne gab es Feierabend immer erst nach getaner Arbeit.
Inzwischen entwickelten sich die neuen Industrien im Tal mehr und mehr zu Johanns besten Kunden – allen voran die Zigarrenmacher. Sie liessen zunehmend Unmengen Plakate und Verpackungen drucken. Johann stellte trotzdem nicht mehr Leute ein, sondern kaufte neue Maschinen und ersetzte den Setzkasten für die Zeitung durch eine moderne Linotype.
Nein, davon hatte Ilse 1963 nichts in den Nachruf für ihren Schwiegervater Johann geschrieben, und der inzwischen auch sehr gealterte, vor wenigen Jahren zurückgetretene Pfarrer Grob mochte sich nicht an all diese Geschichten erinnern. Gewiss liess sich Pfarrer Grob nicht mehr so leicht auf die unerfindlichen Urteile göttlicher Gerechtigkeit und andere Spitzfindigkeiten ein, schon gar nicht auf die beiden Jahrzehnte nach dem Ersten Weltkrieg, als Mussolini und Hitler ihre Bewegungen gründeten und die Menschen mit Sprüchen, Liedern, Fahnen und Knüppeln durch die Strassen ziehen liessen, um zuletzt in ihren Ländern an die Macht zu kommen. Mit keinem Wort erinnerten sie sich gegenseitig an ihre Kommentare zum grausamen spanischen Bürgerkrieg, als die deutsche «Legion Condor» Guernica bombardierte und dem Generalissimus Franco in den Sattel half. Das alles waren inzwischen auch für Ilse eher peinliche Erinnerungen.
Ilse war ein deutsches Mädchen. Aus einer gewissen einstweilen verhaltenen Sympathie zur Bewegung im Norden, jedenfalls ermuntert durch Pfarrer Grob, der vielfältige Kontakte mit deutschen Pastoren unterhielt, hatten Johann und Hedwig um 1930 die damals 16-jährige Ilse aus Dresden eingeladen, ein paar Sommerferienwochen als ihr Gast in der Schweiz zu verbringen. Das Mädchen war eine begeisterte Anhängerin von Hitlers Ideen und machte daraus bei den Pfisters keinen Hehl. Sie vermochte auch den zwei Jahre älteren Wilhelm sowie seine beiden jüngeren Brüder mehr oder weniger für Notwendigkeit und Kraft des kämpferischen Nationalsozialismus zu interessieren. Sie versuchte ab und zu sogar, Johann «heim ins Reich zu holen». Immerhin war Johann ja einst als Deutscher ins Land gekommen und schwäbelte noch immer unüberhörbar. Aber gerade der Gegensatz zur geschliffenen Sprache der jungen Dresdnerin machte den einstigen Pfälzer vorsichtig. Er mochte sie gleichwohl, junge Leute waren halt immer etwas übereifrig. Ilse kam in der Folge jeden Sommer, und jeden Sommer gab es mehr zu erzählen über Führer und Vaterland.
In dieser Zeit, genauer 1932, machte Wilhelm seinen Militärdienst im Welschland. Trotz seiner Herkunft, von der ihm zeitlebens eine verständliche Sympathie für alles Deutsche blieb, hatte Vater Johann in der Schweiz so früh wie nur möglich die Einbürgerung für sich und seine Söhne beantragt und dafür auch recht viel Geld bezahlt. Es gab daher – und weil er sich wie ein guter Schweizer gebärdete – im Dorf nicht den geringsten Widerstand.
Wilhelm, den jungen Infanteristen, machten die Wochen im französischen Teil der Schweiz nachdenklich. Die Romands lehnten den neuen Geist in Deutschland vehement ab. Vor allem die Offiziere hatten für alles, was irgendwie deutsch tönte, nichts als Hohn und Spott. Für sie waren die Nazis in erster Linie Revanchisten, die sich mit dem verlorenen Weltkrieg nicht abfinden konnten. Was sich da manifestierte, richtete sich gegen die Errungenschaften der französischen Revolution, gegen Freiheit und Demokratie, gegen die Gleichheit vor dem Gesetz und so weiter. Wilhelm war überrascht vom energischen Patriotismus der welschen Camarades. Diese Jungen entsprachen in weiten Teilen nicht dem Klischee, das er aus der Deutschschweiz mitgebracht hatte. Da war nichts von oberflächlichem «laisser aller, laisser faire».
Er wusste nicht, dass die kaiserlich deutsche Kriegspropagandamaschine mit all ihren Helfern und Trägern – dazu gehörten gewollt oder ungewollt auch grosse Teile der schreibenden Intellektuellen – den ganzen deutschen Sprachraum mit beleidigenden Inhalten gegen Frankreich und die Franzosen vergiftet hatten. Natürlich gifteten und schmähten die Franzosen nicht weniger, aber das kam damals in der Deutschschweiz nicht an.
Trotzdem, irgendwie liess er sich von Ilses Begeisterung anstecken. Er freute sich auch jetzt auf ihren Besuch. Sie hatte ihr Abitur gemacht und studierte inzwischen deutsche Geschichte. Nach Hitlers Machtübernahme hatte sie begonnen, neben ihrem Studium für eine deutsche Lokalzeitung als «Berichterstatterin» zu schreiben und überzeugte mit Beiträgen aus dem Bund deutscher Mädchen, Kommentaren und Leserbriefen. Sie galt als politisch zuverlässig.
Vielleicht hätte sie im «Reich» bis zu seinem kläglichen Ende Karriere gemacht. 1935 heiratete sie aber Wilhelm Pfister und blieb in der Schweiz, selbstverständlich ohne ihre Ansichten zu ändern oder ihre Begeisterung aufzugeben und durchaus in der Meinung, hier eine wichtige Aufgabe für die «Bewegung» erfüllen zu können. Die beiden zogen in die freigemachte Wohnung über den Eltern. Ilse versuchte von Anfang an Einfluss auf den Inhalt im «Seespiegel» zu gewinnen. Sie wurde dabei von ihren «Freunden im Reich», aber auch von der Landesgruppe Schweiz der NSDAP reichlich mit einschlägigem Material versorgt. Sie begann, Kontakte zu knüpfen, und einmal nannte sie Gertrud Frey, die Führerin des Schweizer Ablegers vom Bund Deutscher Mädchen, ihre Freundin. Hin und wieder erhielten die Pfisters auch mehr oder weniger prominenten Besuch, der kam, «um die einstigen Volksgenossen Johann und Ilse in ihrer Arbeit zu unterstützen.» Stillschweigend wurde sie Mitglied der Frauenschaften der NSDAP Schweiz.
Johann mochte diese Leute nicht. Einige trugen gar die Armbinde mit dem Hakenkreuz. Das ging ihm entschieden zu weit. Im Dorf begann man über die Besucher zu munkeln. Er fühlte sich in seiner Rolle ohnehin nie wirklich glücklich und begann, gegen seine Schwiegertochter Dämme zu bauen.
Auch der Pfarrer versuchte, Ilses Ehrgeiz zu dämpfen, ohne jedoch ihre Ansichten grundsätzlich abzulehnen. Wie viele seiner Kollegen im Norden – von ein paar allerdings markanten Ausnahmen abgesehen – teilte er über weite Strecken Hitlers Ideen und glaubte an den Erfolg des Nationalsozialismus, unterliess es allerdings, seine Ansichten allzu lauthals hinauszuposaunen. Hier in der Schweiz musste man sachte zur Sache gehen. Er, der sich selbst gerne als Pastor sah und ein grosser Bewunderer Luthers war – Zwingli hielt er für so etwas wie ein Naturtalent aus dem ländlichen Toggenburg – hatte schon immer gewusst, dass sich die deutsche Nation die Demütigungen von Versailles auf die Länge nicht gefallen lassen würde. Die Rache der Franzosen würde sich irgendeinmal totlaufen, das war für ihn unausweichlich.
Im Übrigen fanden auch Mussolinis Schwarzhemden immer wieder wohlwollenden Eingang in die Spalten des Seespiegels. Pfarrer Grob hatte grosses Verständnis für die doch sehr einschränkenden Verträge mit dem Vatikan und fand gute Worte, als an die vierzig Fröntler nach Rom pilgerten und dem Duce ihre Referenz erwiesen. Hingegen kritisierte er den grausamen Krieg in Abessinien scharf. Aus unzähligen Gesprächen mit Leuten aller Schichten seiner grossen Gemeinde wusste er, dass viele seine Ansichten zu den faschistischen Nachbarn aus ganz unterschiedlichen Gründen teilten, aber ihre Meinung, abgesehen von einigen notorischen Stammtischschnorrern, nicht hinausposaunten.
Die Entwicklung der Abonnentenzahl gab ihm Recht. Bisher hatten nur ein paar Uneinsichtige gegen einzelne Beiträge protestiert und nur wenige unverbesserliche Sozialisten das Blatt gekündigt.
Als im Februar 1936 der Landesgruppenleiter Wilhelm Gustloff in Davos durch den Juden David Frankfurter ermordet wurde, kam es zwischen Ilse und dem Pfarrer zu einer wilden Auseinandersetzung. Der Pfarrer liebte die Juden beileibe nicht, aber was Ilse in die Zeitung schreiben wollte, konnte er nicht durchlassen. Sätze wie «Das internationale Judentum hat Deutschland den Krieg erklärt» oder «die jüdischen Schächter und Meuchelmörder gehen um und vergiessen edles deutsches Blut» waren aus seiner Sicht gröbste Propagandarhetorik. Grob stellte Johann vor die Wahl, er oder sie. Ilse gab nach, einstweilen nicht aus besserer Einsicht, nur aus der Schwäche ihrer Position heraus. Sie erwartete ihr erstes Kind.
Zudem waren sie und Wilhelm noch sehr junge Leute, sie hatten Zeit. Eines Tages würde sie zum Zug kommen, war Ilse damals überzeugt. Ausserdem bedeutete diese Auseinandersetzung bei weitem keine Wende. Nach wie vor galt alles, was sich in Deutschland tat, als Fortschritt – auch für den Pfarrer. Ilse lernte Frontisten jeden Kalibers kennen. Es gab darunter auch hohe Schweizer Offiziere, und so war sich Ilse sicher, dass sich eines Tages auch in der Schweiz ein neuer Geist durchsetzen würde.
Auch nach 1936 gab es immer wieder Meinungsverschiedenheiten über die Inhalte der Zeitung. Die Brüder, die jetzt einer nach dem anderen von der Armee in die Pflicht genommen wurden, ertrugen immer weniger die vom Pfarrer gestützte, von Johann geduldete und von Ilse noch immer zelebrierte unüberhör- und unüberlesbare braune Deutschtümelei. Die Einstellungen und Meinungen in der Region waren bei weitem nicht so unbedarft und manipulierbar, wie der verstorbene Doktor einst geglaubt hatte, und der Einfluss, den die Angeheiratete aus dem Norden immer wieder zu nehmen versuchte, passte ihnen schon gar nicht. Andererseits wussten auch die Brüder Pfister, wie unterschiedlich – offen oder insgeheim – die Meinungen und Einstellungen selbst im Kader der Armee die Runde machten.
In Wirklichkeit kümmerte sich die Leserschaft kaum um die politischen Entgleisungen. Der «Seespiegel» war noch immer ein mehr oder weniger harmloses Spiegelchen, das vor allem von lokalen Ereignissen lebte.
Dennoch mahnte auch die inzwischen älter und politischer gewordene Hedwig zur Zurückhaltung. Sie war aktiv im Frauenverein, und da spürte sie weit herum kalte Ablehnung der nationalsozialistischen Ideen und massiven Widerstand gegen die in der Schweiz aktiven «Fröntler», wie sich die Sympathisanten der «grossdeutschen» Bewegung nannten oder nennen liessen. Schon zweimal hatten irgendwelche «Nachtbuben» Hakenkreuze an die Hausmauer geschmiert. Ilse war deswegen zur Polizei gegangen – und danach wütend nach Hause gekommen, weil sie sich vom Polizisten zu wenig ernst genommen fühlte. Hedwig versuchte, sie abzukühlen. Wilhelm schwieg, und seine Brüder legten ihr nahe, sich nicht aus dem Fenster zu hängen, was die jetzt sichtbar schwangere Ilse durchaus nicht verstehen wollte oder konnte.
Unterdessen hatte sich zwischen Deutschland und der Schweiz ein eigentlicher «Pressekrieg» entwickelt. Auch bei grossen Blättern wie der Neuen Zürcher Zeitung versuchte Deutschland des Öfteren über diplomatische Kanäle auf die Haltung der Redaktion Einfluss zu nehmen oder diese in Einzelfällen gar mit erpresserischen Methoden zu manipulieren. Der Bundesrat begann, sich gegen die Wühlarbeit der deutschen Agenten und der verbündeten Fröntler zur Wehr zu setzen. Viele Kantone organisierten eine sogenannte politische Polizei. Pfarrer Grob hatte die richtigen Akzente gesetzt. Ilse war insgeheim empört. Hin und wieder erwog sie, alles stehen und liegen zu lassen, auszubrechen, nach Dresden zu fahren. Dem stand ihr Pflichtgefühl entgegen. Es galt, standhaft zu sein – aber zu wem hatte sie zu stehen? Zu Mann und Kindern? Zu Heimat, Vaterland, Führer? Manchmal wusste sie es selbst nicht mehr genau …
Sie spürte mehr und mehr, dass sie sich wohl oder übel zurücknehmen musste. Sie hatte ohnehin anderes zu tun. 1937 kam Adolf zur Welt. Wilhelm hatte sich gegen diesen Namen zur Wehr gesetzt, aber nachgeben müssen. Ilses Eltern hatten ihn bei einem Besuch vorgeschlagen, niemand sonst hatte etwas dagegen eingewendet und es gab auch keinen einsehbaren wichtigen Grund. Es war schliesslich ein Name wie jeder andere, vielleicht ein Zeichen von Sympathie und Zeitgeist, ja, warum nicht. Noch immer glaubte Ilse an den Glanz der Sache.
Ihre Eltern und ihre beiden Brüder kamen in ihrem Opel zur Taufe angefahren. Sie waren des Lobes voll für alles, was im Reich geschah. Ein Bollwerk der Zivilisation war im Entstehen oder gar schon entstanden, gegen den Bolschewismus in Russland oder in Spanien beispielsweise, gegen das unersättliche Judentum, gegen die mehr und mehr entartete Kunst, für die Zukunft der überlegenen deutschen Rasse und Kultur, zu der sich auf lange Sicht unausweichlich nicht nur Österreich, sondern auch die deutschsprachige Schweiz bekennen würde.
Ilse ahnte damals 1937 nicht, dass sie ihre Eltern nie mehr sehen würde.
Die Legion Condor wütete in Spanien, und 1938 verkündete der Führer in Wien den Anschluss Österreichs. Als der kleine Adolf zwei Jahre alt war, überfiel die Wehrmacht Polen.
1941 kam Alexander zur Welt. Johann hatte den Namen vorgeschlagen und Ilse war begeistert, schliesslich war Alexander ein grosser Heerführer gewesen. Nach dem Krieg würde man Alexander bloss noch Alex nennen, natürlich nicht aus Verlegenheit, Alex war einfach praktischer. Aber Wolfgang und Traugott witzelten: «Wilhelm, Adolf, Alexander … fehlt nur noch Hannibal!»
Noch einmal kam es zu einem schwierigen Auftritt zwischen den Brüdern und Ilse, als Schweizer Ärzte zwar unter dem Schutz des Roten Kreuzes, aber vermittelt durch den Nazisympathisanten Bircher in Smolensk deutsche Landser operieren sollten. Ilse wollte über die Aktion als «kameradschaftliche Hilfe für schwergeprüfte Soldaten» berichten. Die Brüder versuchten es zu verhindern, ihrer Ansicht nach sollte überhaupt nichts darüber erscheinen. Ilse wollte oder konnte nicht verstehen, wie ein Land in diesen grossen Zeiten unbeteiligt blieb. Sie selbst reiste nach Bern, um «die Helden zu verabschieden». Publiziert wurde schliesslich eine zurückhaltendere Lösung.
Niemand konnte ahnen, dass die missbrauchten Schweizer Ärzte in Smolensk Zeugen brutaler Massenhinrichtungen werden würden. Nach ihrer Rückkehr versuchten die politisch Verantwortlichen, den Fall unter den Teppich zu kehren, was beinahe gelungen wäre. Für die Medien gab es jedenfalls eine strikte Nachrichtensperre, an die sich auch der «Seespiegel» halten musste. Im Übrigen blieb der grausame Krieg Hauptthema in den wenigen Auslandsspalten. Nicht so richtig passen wollten zum Fall von Stalingrad allerdings die Berichte über Fest und Pomp der Reichsdeutschen Jugend 1942 in Zürich mit beinahe 3000 Teilnehmern und über das deutsche Erntedankfest im Herbst danach. Aber noch war nichts entschieden, glaubten die meisten Leser.
Allmählich wurde aus dem vormals «kaiserlichen» und später mehr oder weniger deutlich «braun» gefärbten «Seespiegel» zwischen 1942 und der Landung der Alliierten in der Normandie im Juni 1944 ein zwar latent deutschfreundliches, aber aus der Sicht der Leser doch eher abwartendes und im Grossen und Ganzen politisch gemässigtes Blatt.
Ilses Brüder dienten in Rommels Afrikakorps – sie fielen im Wüstensand, beide heldenhaft «für Führer und Vaterland». Die stolzen Eltern starben «nach geduldig ertragenem Leiden an einem schweren, unheilbaren Fall von Kinderlähmung», wie die mit einem Hakenkreuz verzierte und vom Oberarzt unterzeichnete Mitteilung lautete, die Ilse zwei Wochen nach dem Begräbnis der Eltern aus einer Klinik an der Nordsee erhielt. Der schöne Brief machte Ilse misstrauisch.
Von einer Krankheit ihrer Eltern hatte Ilse nie etwas gehört. Seit Kriegsbeginn hatten sie sich kaum noch geschrieben, denn jeden Brief öffnete und las die deutsche Zensur, Telefonate – wenn überhaupt durchgeschaltet – wurden abgehört. Und jetzt plötzlich diese Hiobsbotschaft. Natürlich war Kinderlähmung eine furchtbare Seuche, die blind und rasch zuschlagen konnte. Doch nur wenige Erwachsene wurden von ihr befallen und nur sehr selten mit tödlichem Ausgang. In schlimmen Fällen blieb noch immer die eiserne Lunge, welche die armen Kranken vor dem Ersticken rettete. Ilse fragte brieflich in der Klinik und bei ihren Verwandten in Dresden nach. An eine Reise war nicht zu denken und insgeheim fürchtete sie sich davor. Die Klinik schwieg, und die Verwandten bestätigten – der Zensur zuliebe – exakt diese traurige Tatsache. Niemand wusste Genaueres – und vor allem niemand mit Sicherheit die Wahrheit. Der Tod ihrer Eltern blieb ein Geheimnis unter Millionen von Geheimnissen jener Jahre im Dritten Reich. In der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945, als britische Bomber Dresden vollständig zerstörten, verlor Ilse auch ihre letzten Verwandten, an die sie sich erinnern konnte.
Im Gegensatz zu Millionen von Deutschen ahnte Ilse schon nach dem Fall von Stalingrad, dass der Krieg verloren war. Für den «Seespiegel» hatte sie das Geschehen intensiv verfolgt. Sie konnte BBC London unbehelligt hören, Ilse wusste darum, was an jeder Front geschah, auch wenn sie vom Elend selbst verschont blieb im kleinen Land der vielbelächelten Eidgenossen.
Aber Ilse wusste nicht, dass ihre Eltern sterben mussten, weil sie heimlich feindliche Sender gehört hatten und von Nachbarn verpetzt worden waren. Aus Rücksicht auf die gefallenen Söhne, die ihr Leben für Führer und Vaterland geopfert hatten, wurden die Eltern ohne Aufhebens und Schande einfach krank. Ilse war längst nachdenklich geworden.
Die Spannungen mit Wilhelms Brüdern liessen nach.
Zwischen 1939 und 1945 dienten alle drei während Wochen und Monaten in der Armee. Oft sah es so aus, als ob sich Wilhelm und Wolfgang in ihrer Arbeit in der kleinen Firma abwechselten. Allerdings wurde der ehrgeizige Offizier viel häufiger aufgeboten. Wolfgang hatte es schon vor dem Krieg zum Hauptmann der Infanterie gebracht – bei Kriegsende war er Oberst. Das machte dem Johann grossen Eindruck, auf Wolfgang hörte er, wenn es ihm wichtig schien.
Wilhelm war mit dem bescheidenen Winkel des Gefreiten zufrieden. Zu Ilses Leidwesen suchte er auch im Alltag keine grossen Rollen. Wilhelm sah sich vor allem als Meister «seiner» Druckerei. Andererseits, dachte Ilse hin und wieder, ein anderer Mann hätte sie vermutlich mehr eingeschränkt. Wilhelm war verlässlich, geduldig und irgendwie gütig. Und wenn sie schon daran dachte – Wilhelm war auch zärtlich.
Kurz nach Kriegsende heirateten Wilhelms Brüder. Es stand fest, dass der jüngere Traugott danach ins Welschland ziehen würde. Wolfgang wollte im Unternehmen bleiben und suchte eine Wohnung. Er hatte als Einziger der drei eine Matura gemacht, danach eine Handelsschule besucht und diese mit Diplom abgeschlossen. Wolfgang führte die Buchhaltung und besorgte den übrigen Papierkram – damit hatte er neben Johann den stärksten Einfluss auf das Geschehen im Geschäft.
Ilse und Pfarrer Grob konnten somit 1963 im Nachruf für Johann die schwierige Zeit von 1930 bis 1945 unkommentiert übergehen. Umso mehr zu schreiben und zu sagen gab es über Haus und Herd, denen Vater Johann vorstand, und die für ihn ein und alles gewesen waren. Festzuhalten war ebenso, welch tüchtige Söhne aus der Ehe mit seiner Hedwig hervorgegangen waren und wie wichtig deren Dienst fürs Vaterland in schwierigen Zeiten gewesen war. Zu Ehren kam auch Johann als Arbeitgeber. Bis zu seinem Tod war der Betrieb immer gewachsen – an die 20 Leute arbeiteten 1963 in der baulich schon längst erweiterten und modernisierten Druckerei.
Mit der Zeitung hatte es markante Auf- und Abwärtsbewegungen gegeben, aber das änderte am erfolgreichen Gesamtbild wenig. Ilse führte die Redaktion seit dem heissen Sommer 1947 allein verantwortlich. Ihr war längst gelungen, sich schlimmstenfalls als Opfer einer bösen Versuchung darzustellen.
Der Pfarrer litt seit dem Ende des Krieges unter Depressionen. Er war ehrlich entsetzt über die Gräuel der Nazi-Schergen im Krieg und in den Konzentrationslagern. Völlig unnötig beschuldigte er sich selbst auf der Kanzel seiner Blindheit. Damit verstörte er insbesondere einige seiner Kirchgänger und Vorgesetzten, denen Grobs braune Sympathien kaum aufgefallen waren.
Ilse war inzwischen längst vom faschistischen Wahn geheilt, sprach jetzt ein geradezu akzentfreies Schweizerdeutsch und hatte 1946 die Tochter Erna geboren. Die drei Kinder hatten Ilse nie ernsthaft in der Zeitungsarbeit behindert. Wenn immer nötig kümmerte sich ja die inzwischen 62-jährige Hedwig um die Kleinen – und jetzt auch um «Klein Erna».
Nach dem Krieg liess sich Ilse ausserdem von einer Haushalthilfe oder schulentlassenen Mädchen helfen. Jetzt hatte sie Zeit, sich voll dem «Seespiegel» zu widmen. Ilse sorgte für einen neuen Auftritt, beliess nur den Kopf des Blattes in der Jahrhunderte alten gotischen Schrift, wechselte hingegen in Titel und Text von der inzwischen obsolet gewordenen Fraktur zur modernen Times. Irgendwie kam ihr vor, als ob sie selbst erst jetzt – und mit ihr auch der «Seespiegel» – die letzten Spuren der furchtbaren Jahre deutscher Überheblichkeit abgelegt, abgestreift, ja abgestossen hätte. Erst jetzt war die Metamorphose vollendet. Sie reiste selbst für Abonnenten und Inserenten durchs Tal und rund um den See – meistens mit dem Rad oder per Velo, wie sie es neuerdings schweizerdeutsch nannte. Selbst ihr Schwager Wolfgang, der sich mit Ilse immer wieder angelegt hatte, begann sie zu respektieren.
Wilhelm leitete die Druckerei im Sinne seines Vaters Johann, der sich neben Ilse vor allem und noch immer der Zeitung widmete. Sein ältester Sohn machte sich allerdings nicht allzu viele Gedanken um die Zukunft des kleinen Unternehmens. Erst als Johann starb, wurde Wilhelm bewusst, was nun wirklich auf ihn zukam.
Wilhelm war damals schon 51, sein ältester Sohn Adolf 26, verheiratet, ausgezogen. Alex, 22, arbeitete im Betrieb, wurde Schriftsetzer und war dauernd daran sich weiterzubilden, vielleicht würde Alex einmal die Firma weiterführen. Aber Alex war schwierig, Wilhelm und Alex hatten häufig Streit. Erna dagegen hatte Talent und schaffte die Aufnahme an die Kunstgewerbeschule. Vielleicht würde sie einmal im Unternehmen den Kunden einen weiteren Dienst anbieten können.
Da war auch noch sein Bruder Wolfgang mit dem grossen Gehalt, das an der Substanz zehrte. Die Buchhaltung könnte man durchaus einem Treuhänder überlassen. Natürlich brauchte Wolfgang das Einkommen für seine Familie, wie Wilhelm ja auch. Aber Wolfgang war nicht produktiv und noch immer oft beim Militär. Was half es dem Betrieb, einen Oberst zu haben? Das brachte keine Aufträge. Eigentlich teilte Ilse Wilhelms Meinung. Aber sie mochte sich damit nicht auseinandersetzen. Das war nun wirklich Wilhelms Sache und die von Hedwig, ihrer Schwiegermutter, die selbst als inzwischen 79-Jährige, wenn es um ihre Söhne ging, noch immer grossen Einfluss hatte und ebenfalls, wenn auch recht bescheiden, aus dem Unternehmen lebte.
Eigentlich hatte Johann einen schrecklichen Tod erlitten. An der Sulzbachstrasse wurde die alte Schmiede der Amreins abgerissen. Sie musste dem grossen Neubau der Girom-Kette weichen. Der Amrein Joggi hatte dabei bestimmt ein gutes Geschäft gemacht. Die Bauarbeiter begannen, mit einer bisher im Dorf nie gesehenen riesigen Baumaschine, an deren stählernem Schwenkarm eine massige Kugel wie ein Pendel gegen die alten Mauern schlug, das noch immer ansehnliche Haus buchstäblich zu zertrümmern. Da wollte der noch immer ehrgeizige 83-jährige Johann über die alte Schmiede einen kleinen nostalgisch gestimmten Beitrag schreiben und ein Foto machen – beides Arbeiten, die er liebte und die er noch immer leicht zu bewältigen vermochte. Während er fotografierte, wurde er von einem Lastwagenfahrer, der Bauschutt abführte, übersehen und zu Tode gefahren.
Nun, Johanns Reportage vom Abriss der alten Schmiede war nicht allein beruflich oder aus Liebhaberei motiviert. Sein Tod beendete eine über Jahrzehnte zwar auf kleinem Feuer gehaltene, mehr oder weniger unausgesprochene, aber umso ausdauerndere Feindseligkeit zweier Sippen und Nachbarn in der Seeweite.
Die Pfisters und die Amreins waren sozusagen Rücken an Rücken Nachbarn. Der grosse Baumgarten des Jakob Amrein an der Rückseite der Schmiede grenzte an die Hinterseite von Johann Pfisters Grundstück. Schon Mitte der 20er Jahre hatte Johann den Amreins zur Vergrösserung der Druckerei ein Stück Land abkaufen wollen, doch der damals noch lebende alte Franz Amrein hatte kein Einsehen. Nein, da war kein Land zu haben, erklärte der Schmied stur. Das war nichts als feindseliger schlechter Wille. Davon war Johann überzeugt.
Als Wilhelm Ilse heiratete, hielten die Amreins die Pfisters für Nazis und Fröntler. Der damals 17-jährige Jakob Amrein malte gar Hakenkreuze an Pfisters Hausmauer. Niemand hatte ihn dabei erwischt und es gab keine Nachforschungen.
Der katholische Franz Amrein wollte dem «protestantischen Sauschwob» Johann, seiner Zeitung und dem mit Johann unter einer Decke steckenden, jungen salbungsvollen reformierten Prediger und Scharfmacher kein Land verkaufen, um keinen Preis. Sein Zorn gegen die Pfisters und ihre Druckerei hatte sich bereits entzündet, als Franz Hildegard freite, nach dem Tod des alten Hufschmiedes Nagel.
Johanns Schwiegervater, der Doktor, hatte sich nämlich entrüstet, dass die Witwe Anna Nagel ihre Tochter diesem Franz zur Frau gab und ihn die Schmiede führen liess. Dieser Franz war doch nur ein hergelaufener rabenschwarzer katholischer Verdingbub, ein Erbschleicher, ein Kraftprotz und Tölpel. Offenbar hatte der intrigante Doktor Müller Anna Nagel unter irgendeinem Vorwand zu einem Gespräch eingeladen, versucht, sie umzustimmen, ihr andere Vorschläge gemacht und ihr vielleicht gar gedroht, das wusste der Franz nicht so genau.
Weder Franz noch Johann waren offen Streithähne. Sie kochten ihre Arglist insgeheim und machten die Faust im Sack. So moderte die Feindseligkeit durch Jahrzehnte dahin. Man ging sich aus dem Weg und behielt doch ein wachsames Auge auf den Nachbarn im Rücken. Als die Pfisters eingebürgert werden wollten, hatte Franz versucht – allerdings ohne Erfolg – dagegen Stimmung zu machen. Die Leute waren reformiert. Eine offene Opposition hätte der katholischen Sache für die Zukunft kaum geholfen, und zudem gab es keine objektiven Gründe für eine Ablehnung. Franz musste sich den Argumenten seiner Partei fügen.
Hin und wieder machten sich die Pfisterbuben Wilhelm, Wolfgang und Traugott einen Spass daraus, den Amreins Kirschen, Äpfel und Birnen zu stehlen. Zwar kaufte der Schmied einen Hund, um diese Übergriffe einzudämmen, aber die listenreichen Buben wussten das Tier zu zähmen. Franz hatte offenbar keine Zeit, sich des Hundes anzunehmen und ihn scharf zu machen – und seiner Frau Hilde war die Sache vermutlich zu dumm. Um den Baumgarten musste ohnehin sie sich kümmern, auf ein paar Äpfel kam es ihr nicht an. Da war der Franz anderer Meinung, aber das hatte nun wirklich mit seiner armseligen Kindheit zu tun.
Mehr Schwierigkeiten gab es, als die fünf Amrein-Kinder, vor allem der ältere Jakob und der viel jüngere Pius, das Flegelalter erreichten. Die Missetaten des Jakob hatte Ilse schon erlebt, als sie jeweils in den Sommerferien zu den Pfisters kam. Hin und wieder schoss Jakob mit einer Schleuder Steine durch die offenen Fenster der Druckerei. Später hüllte er die Steine in Papierfetzen, auf die er Hakenkreuze gemalt hatte. Das waren für Ilse beinahe Kriegserklärungen, sie wollte die Polizei holen, doch Johann liess sich nicht ins Bockshorn jagen. Der drei Jahre ältere Traugott verprügelte den mutmasslichen Übeltäter gelegentlich. Danach war für eine Weile Ruhe.
Vermutlich durch den älteren Bruder aufgestachelt, pöbelte Jahre später Pius immer wieder und fast immer gegen Ilse, indem er ein närrisches Hochdeutsch nachäffte, auch als Ilse schon längst Dialekt sprach: «Na, bei uns draussen, da sind die Bersche eben, und da fliessen d’Fliss’ aufwärts, und wenn n’Hund scheisst, ist’s ne kleine Anheh!» oder: «Na Mädsche, geh in die Schweiz nei, bleib ehrlisch und redlisch, und wenn was g’schtohle hascht, schicks gleisch heim, du weisst, wir können’s brauche …»
Viel peinlicher war es für Ilse, sich anhören zu müssen: «Heil, heil, heil, der Hitler hängt am Seil, es ruft aus allen Ecken, der Hitler muss verrecken!» Und gegen Kriegsende sang der Bengel im Baumgarten lauthals: «Der Hitler kam geflogen auf einem Fass Benzin. Da meinten die Franzosen, es sei ein Zeppelin. Sie holten die Kanone und schossen auf ihn los, und schossen dem Herr Hitler die Unterhosen los. Sie nahmen ihn gefangen bei Wasser und bei Brot – nach 21 Tagen, da war der Hitler tot.»
Niemand – und Grossmutter Anna Nagel schon gar nicht – hatte den Enkeln erzählt, dass Mutter Hilde, oder eben Mechthilde, das adoptierte Waisenkind einer Magd aus dem Allgäu war. Auch Johann Pfister war das nicht bewusst. Als er in die Seeweite kam, waren die Nagels schon lange da. Damals lagen die Grundstücke irgendwie gefühlsmässig noch weiter auseinander. Doch diese Details erfuhr Ilse erst viel später, lange nach Johanns Tod.
Jetzt, an diesem Frühlingsnachmittag, als ihr das alles einfiel, konnte Ilse darüber lächeln. Mein Gott, dachte sie, wie schnell waren die Jahre vergangen, besonders vom Kriegsende bis zum Tod des Schwiegervaters. Johann hatte triumphiert, als der junge Amrein, der Joggi, mit der Girom-Kette ins Geschäft kam und jetzt bereit war, ihm ein Stück der Parzelle, das den Grossverteiler nicht interessierte, zu verkaufen – zu gleichen Bedingungen selbstverständlich. Man traf sich nach dem Notar im Gambrinus zu einem Glas Wein. Zum ersten Mal seit all den Jahren sassen die beiden Nachbarn am gleichen Tisch. Bestimmt hätte Franz dazu nie die Hand geboten. Franz war schon im ungewöhnlich heissen und trockenen Sommer 1947 gestorben.
Man ging noch immer nicht in dieselbe Kirche, aber das war nicht mehr so wichtig. Schliesslich waren alle traurig, als der gütige Johannes XXIII. starb. Der wollte doch, dass man sich näher kam – aber gesprochen hatten die beiden Parteien darüber nicht, das machte keinen Sinn. Auch Jakob machte sich nichts mehr daraus. Schliesslich hatten sich selbst Frankreich und Westdeutschland durch den grossen de Gaulle und den stolzen Adenauer versöhnen lassen.
Johann war sofort tot gewesen – Gott sei Dank, ging es Ilse durch den Kopf, er sah schlimm aus. Der Verkehr auf der Strasse forderte damals immer mehr Tote und Verletzte, alle fuhren einfach ungehemmt drauflos. Immer wieder gab es spektakuläre Unglücksfälle, auch mit der Eisenbahn. Kurz nach Johanns Tod erfasste ein Zug den schweren Traktor eines Bauern auf einem Übergang ohne Schranke, schob ihn vor sich her und zertrümmerte ihn zuletzt. Der Sonnenbergbauer, so nannten ihn alle im Dorf, war ebenfalls sofort tot gewesen. An dieses Unglück hängte sich der Inzuchtskandal um diesen Bauern. Die zweitälteste Tochter war von ihm schwanger. Die Älteste hatte schon ein Kind zur Welt gebracht, welches der Vater getötet und heimlich verscharrt hatte. Die Geschichte hatte Ilse und das ganze Dorf aufgewühlt. Der Mann hatte vor Jahren seine Frau verloren, sie war gefallen und hatte sich am Kopf tödlich verletzt. Danach lebte er allein mit vier Töchtern, alle soll er missbraucht haben und niemandem war etwas aufgefallen, auch nicht die Schwangerschaft der Ältesten. Zum ersten Mal tat sich Ilse damals wirklich schwer, im «Seespiegel» die passenden Worte zu finden. Noch war alles tabu, Sex, Inzucht, häusliche Gewalt – vielleicht hatte der Grobian seine Frau zu Tode geprügelt, vielleicht wollte sie ihn verraten – niemand hätte es bemerkt oder bemerken wollen, vermutete Ilse.
Mehr als je zuvor wurde ihr im Augenblick klar, wie viel Unheil sich durch die Jahre und Jahrzehnte in einer an sich so friedlich scheinenden ländlichen Gegend anhäuft. Vor zehn Jahren hatten zwei Kriminelle mit gestohlenen Maschinenpistolen die Post eines Nachbardorfes überfallen. Nur durch Glück wurde niemand verletzt oder gar getötet. Verbrechen gab es nicht nur in Amerika …
Vielleicht war sie von schlechten Nachrichten hierzulande und in der Welt durch ihre Arbeit stärker sensibilisiert als andere Zeitgenossen, dachte Ilse an jenem sonnigen Nachmittag, da in der ganzen Gegend die Kirschbäume blühten und sie in alten Papieren wühlte, weil Johann, ihr Schwiegervater, vor 20 Jahren verstorben war. Sie packte die Papiere zusammen und räumte den Ordner zurück in den Schrank.
Inzwischen erwartete sie Wilhelm und Erna zu Kaffee, Tee und dem nach altem Rezept selbstgebackenen Dresdner Stollen. Ilse begann den Tisch zu decken. Erna war schon zum Mittagessen gekommen. Seit sie von ihrem Mann getrennt und geschieden lebte, kam sie öfter als früher, meistens mit ihren Kindern Sahra und Lukas. Heute waren sie nicht dabei. «Besuchstag», sagte Erna lakonisch.
Erna hatte beim Essen die Erinnerung an ihren Grossvater Johann aufgebracht. Als Grossvater starb, war sie erst 17 Jahre alt gewesen und sein plötzliches Ende hatte Erna sehr erschüttert. Ilse musste sich damals um ihre Tochter Sorgen machen. Erna begann, extrem wenig zu essen und wollte die Kunstgewerbeschule verlassen. Ilse war überzeugt, dass sie nur dank der damals noch lebenden Grossmutter zu trösten war, denn irgendwie bewunderte Erna mehr und mehr die bald 80-jährige Hedwig, von der man wusste, wie sehr sie an ihrem Mann hing, man sah ja immer wieder, wie liebevoll die beiden Alten miteinander lebten.
Eigentlich wunderte sich Ilse, warum Erna gerade jetzt an Johann dachte. Gewiss war es die runde Jahreszahl, der Frühling, der blaue Himmel oder was immer. Erna wirkte blass und wenig gesprächig. Aber auch das hatte nichts zu sagen. Ernas Leben war nicht sehr einfach, seit sie von Pawel geschieden lebte, aber sie war auch nicht sehr glücklich gewesen, als sie noch mit ihm zusammenlebte.
Das Gespräch über Johann und seinen Tod hatte Ilse angeregt, in den alten Papieren zu wühlen.
Wilhelm begleitete Erna an den See. Sie liebe diese Landschaft nach wie vor, obwohl sie die Stadt als Wohnort vorziehe, versicherte Erna immer wieder.
Am See erzählte Erna ihrem Vater, dass Pawel krank sei. Er leide vermutlich an der neuen Schwulenseuche aus Kalifornien. Sein Freund, mit dem er in Zürich zeitweise zusammenlebe, läge in San Francisco in einem Spital. Nein, Sarah und Lukas seien heute nicht bei ihm, sondern bei einer Freundin. Sie fürchte sich vor einer Ansteckung der Kinder und diese wüssten von der tödlichen Bedrohung noch nichts. Sie mache sich schwere Sorgen.
Wilhelm versuchte sie zu beruhigen. Er hatte von der geheimnisvollen Krankheit, die offenbar vor allem unter Schwulen grassierte, gehört, sich aber darüber noch keine Gedanken gemacht. Ilse hatte ihn einmal darauf angesprochen. Sie war noch immer hoch interessiert an allem, was sich in der Welt tat. Keinen Augenblick hatte Wilhelm dabei an die Möglichkeit einer unmittelbaren Nähe dieses neuen Übels gedacht.
Er und Ilse würden für sie und die Kinder immer da sein, versicherte Wilhelm seiner Tochter und nahm sich vor, Ernas Mutter am Abend die böse Geschichte zu erzählen.
Bei Tisch begann Ilse von ihrem Ausflug in die Vergangenheit zu reden, über die Jahre, die so schnell vorbeigingen, über ihre latenten Schuldgefühle, über ihre Sehnsucht, endlich damit fertig zu werden und über die Einsicht und den immer wiederholten Vorsatz, sich nichts vorwerfen zu müssen und nichts vorwerfen zu wollen. Eigentlich wollte sie sich mit all diesen alten Geschichten nicht mehr auseinandersetzen. Und doch tat sie es immer wieder, die vermeintliche oder wirkliche deutsche «Schuld» hing an ihr wie eine Klette. Der geringste Anlass konnte die Auseinandersetzung mit dem Thema auslösen – eine Nachricht aus den Medien, eine Bemerkung aus ihrem Bekanntenkreis oder gar von Fremden. Am schlimmsten war es für Ilse, wenn ihre eigenen Kinder Fragen stellten oder auch nur eine unreflektierte, meist harmlos gemeinte Bemerkung fallen liessen, etwa «das geteilte Deutschland hat den Vorteil, nicht mehr gefährlich zu werden» oder «Hitler kam doch vor 50 Jahren legal an die Macht und das ganze Volk hat ihm zugejubelt!».
«Ich habe mir nichts vorzuwerfen, ich war Verführte, ich wurde genügend bestraft durch den Tod meiner Eltern und Brüder und beim Brand von Dresden mit dem Tod der ganzen übrigen Verwandtschaft», erklärte die inzwischen 69-jährige Frau auch an diesem Nachmittag im durchsonnten Wohnzimmer.
Was Ilse erzählte, war für Erna nicht neu. Immer wieder kamen die alten Geschichten hoch, oft vermischt mit Ereignissen der Gegenwart, die Ilse irgendwie in einen Bezug zu ihrer Vergangenheit setzte. Auch wenn dabei immer wieder neue Einzelheiten ans Licht kamen, nervten Erna die Erörterungen ihrer Mutter ab und zu. Früher hatte sie sich darüber mit ihr hin und wieder gestritten. Es gab auch Spannungen wegen Pawel. Erna glaubte zu spüren oder gar zu wissen, dass Ilse ihn, den Tschechen aus Prag, nicht mochte. Vielleicht waren die unguten Gefühle gegenseitig. Pawel hatte aus seiner Meinung über Deutschland und Deutsche nie Zweifel aufkommen lassen. Pawels Eltern hatten unter der «Übernahme» von Böhmen und Mähren ins «Reich» schwer gelitten und fanden die Vertreibung der Deutschen am Ende des Krieges als selbstverständlich, ja gerecht.
Pawel ging Ilse darum wenn möglich aus dem Weg. Er mochte sie nicht, und Ilse gab sich so übertrieben als «Sowieso-Schweizerin» oder zumindest als «umgedrehte Deutsche» und am allerliebsten als liebenswürdige Schwiegermutter, so dass selbst Erna die zweifellos vorhandenen Ressentiments nicht übersehen konnte.
Als Erna sich von Pawel trennte, wich sie jedem Gespräch mit der Mutter aus. Sie brachten nichts als sinnlose Anstrengungen, und da Erna ohnehin nur alle paar Wochen vorbeischaute, liessen sich die manchmal auch etwas larmoyanten Rückblicke auf die mütterliche Vergangenheit leichter aushalten.
Am späten Abend erzählte Wilhelm seiner Frau von Pawels Krankheit. Wilhelm war überrascht, wie wenig erschrocken sie sich darüber zeigte. Sie wusste offenbar schon sehr viel über die neue Plage und sah für Ernas Mann, sollte sich der Verdacht bestätigten, keine Rettung. Die Krankheit sei angeblich in San Francisco ausgebrochen und, bevor sie wirklich und in ihrer ganzen Tragweite entdeckt worden war, von schwulen Flight Attendents in die ganze Welt verschleppt worden. «Pawel wird sterben, traurig für die Kinder, die ihren Vater verlieren», meinte sie erstaunlich trocken, wie Wilhelm empfand. Er hatte Pawel gut gemocht.
Was Ilse viel mehr beschäftigte und worüber sie mit Wilhelm nur selten sprach, war eine seit Ernas Kindheit immer wieder erlebte Enttäuschung, dass ihre Tochter Sorgen und Nöte zuerst mit ihrem Vater besprach. Irgendwie hatte Erna zu Wilhelm mehr Vertrauen oder sie fühlte sich von ihm besser verstanden, und darauf war Ilse neidisch oder gar eifersüchtig. Bei Erna war alles anders als bei den beiden Söhnen. Diese suchten kaum je Trost oder Ratschläge – weder bei ihr noch bei Wilhelm. Sie wirkten im Notfall meistens ganz einfach zugeknöpft oder gar verstockt und liessen sich Mitteilungen über widrige Umstände nur stückweise abtrotzen. Meistens überraschten sie ihre Eltern mit bereits getroffenen Entscheiden oder gar vollendeten Tatsachen.
Das war auch nicht immer einfach – aber Ilse erlebte dabei wenigstens keine Zurücksetzung.
Ilse fühlte sich manchmal sehr einsam.