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Jakob und die Amreins
ОглавлениеAm Abend des Tages, an dem sich Waldemar unter einem blühenden Kirschbaum das Leben nahm, Bärbel Schneider ihren Sohn Rolf um Hilfe bat, Ilse Pfister in der Vergangenheit wühlte und Susanne Amrein einen eher traurigen Geburtstag verbrachte, war Jakob Amrein, Susannes Vater, nach der Heimkehr vom See schlechter Laune. Irgendwie hatte ihn der Selbstmord des Gretlersohnes unerwartet betroffen.
Nicht einmal fernsehen mochte er. Er kannte die Gretlers von zufälligen und flüchtigen Kontakten, ohne ihnen je näher gekommen zu sein. Lange, bevor er die Schmiede aufgegeben hatte, in den Jahren während und nach dem Krieg, als sein Vater noch lebte und es viele Pferde zum Beschlagen gab, kam manchmal eines der Kinder, ein Bub mit krausen Haaren, vermutlich dieser Waldemar, der Älteste, um etwaige Rossbollen, wie man den Pferdemist damals nannte, zu sammeln. Die Rosse entleerten sich oft, während sie vor der Schmiede auf ihre neuen Eisen warteten. Er liebte es überhaupt nicht, wenn da Kinder herumstanden oder gar rannten. Die Vorstellung, ein Tier könnte erschrecken und mit seinem Huf ein Kind treten oder gar erschlagen, war ihm entsetzlich. Es gab immer wieder Unfälle mit Pferden. Manchmal reagierten sie unverständlich störrisch, und dann konnten sie eine ungeheure Kraft entwickeln.
Aber jetzt, brütete Jakob vor sich hin, wo die Kavallerie abgeschafft war, gab es fast nur noch Luxuspferde. Die Bauern hatten Traktoren zum Ziehen der Wagen und Pflügen der Felder. Die Fuhrleute von damals nannten sich jetzt Camioneure, fuhren kleine und grosse Lastwagen. Nur die Brauerei hielt noch ein paar Gespanne – sie machten sich gut, als Werbeträger, sozusagen. Und die Wirte, zu denen sie die Fässer auf Brückenwagen brachten, nannten ihre Wirtschaften immer häufiger «Restaurant». Restaurant tönte moderner, liess höhere Preise zu. Die Lastwagen machten mehr Lärm, aber sie waren schneller und frassen, wenn sie in der Garage standen, kein Heu. So war eben der Rossmist von den Strassen verschwunden, und im Sommer gab es auch keine rauchenden und beissend stinkenden Kessel gegen die unersättlich Blut saugenden Bremsen mehr. Er war gewiss kein Weichling, aber manchmal taten ihm die Tiere Leid, und zudem hatte der Rauch aus dem Kessel an der Deichsel ihnen wenig geholfen, vielleicht sogar das Atmen erschwert, was kaum jemand bemerkt hätte. Seit die Pferde verschwunden waren, waren auch die Bremsen weg, wenigstens die fast fingergrossen und die grosse Menge.
Mehr und mehr hielten sich nur noch reiche Leute ein Pferd. Oder eben Pferdenarren, die versuchten, sich mit einem kleinen Gestüt wenigstens die Kosten zu decken, indem sie die Tiere ausmieteten an Hobbyreiter und vor allem an Mädchen, die die Rosse, vermutlich ohne es zu wissen, als eine Art erste Liebe erleben, mit einem Wesen, das sie zu meistern glaubten. Die oft noch kleinen Debütantinnen sahen niedlich aus, und waren sie schon ein bisschen grösser, sogar sehr hübsch da oben im hohen Sattel. Immer wieder aber packte ihn das Grauen, wenn er dachte, eines der Tiere könnte mit dem Kind wirklich durchbrennen. Die Leute hatten keine Ahnung, wie schnell das gehen konnte, dass aus dem Ritt ein Rasen wurde und die Zügel in den kleinen schwachen Händen wirkungslos blieben. Noch Glück hatte die kleine Reiterin, wenn sie schon früh vom Sattel fiel und nicht im Bügel hängen blieb, wenn sie nicht weggefegt wurde von einem Ast oder zerdrückt an einem Baumstamm oder einer Mauer.
Jakob verscheuchte die Bilder. Er hatte immer Respekt vor den starken Biestern gehabt. Er hatte Hunderte, wenn nicht Tausende beschlagen. Vor allem während des Krieges. Schon sein Vater hatte ihn vor ihnen gewarnt, obwohl sie für ihn tägliches Brot waren.
«Stell dich nie hinter sie», hatte er dem Buben immer wieder gesagt. Während Jakobs Lehre gab es einmal einen Unfall. Der Schlag war hart, der Oberschenkel des Bauern gebrochen, das glühende Eisen flog auf die Strasse. Wenigstens war das Pferd angebunden. Jakobs Vater war überzeugt, dass die Tiere oft ganz bewusst den Richtigen trafen. Sie vergässen Quälereien nie, und nicht alle Bauern seien tierliebend, auch Sonntagsreiter nicht, hatte ihm sein Vater eingebläut. Immer wieder erzählte er die Geschichte eines Jockeys, den sein Rennpferd im Stall an die Seitenwand gedrückt hatte, bis er tot war. Später zweifelte Jakob an ihrer Wahrheit. Vor allem, fand er, musste man sich hüten zu glauben, Pferde schlügen nur nach Schuldigen. Das war selbst bei den Menschen nicht so, war Jakob überzeugt.
Noch immer stand der Gretlerbub mit dem Wuschelkopf und seinem traurigen Gesicht, seinem Kessel und der kleinen Schaufel vor ihm, wie er nach Rossmist Ausschau hielt. Vielleicht war er sechs oder sieben. Er erinnerte sich, dass dessen Vater ihn gesucht hatte und ihm eine Ohrfeige gab. Das war nichts Besonderes. Ohrfeigen waren damals allseits als Mittel zur Erziehung anerkannt. Auch er hatte einige eingezogen und ausgeteilt. Man war nicht allzu zimperlich bei den Amreins. Aber gerecht mussten sie sein, und er hatte immer versucht, gerecht zu sein. Sein Vater und für schwierigere Fälle der biblische Salomon waren seine Vorbilder. Da hatte sich viel verändert in den letzten vielleicht zehn Jahren, dachte Jakob.
Seine beiden Söhne hatten offensichtlich andere Vorbilder. Sie sprachen hin und wieder, wenn sie kamen, über antiautoritäre Erziehung. Er hielt nichts davon. Monster würde das geben, die keine Grenzen kennen, fürchtete Jakob. Marcel hatte ihm von dem Experiment einer Internatsschule in Amerika erzählt, von Summerhill. Jakob konnte sich nicht vorstellen, dass daraus etwas Gutes würde. Aber die ganze Bewegung genügte, um die jungen Leute, die jetzt die Verantwortung hatten, zu verunsichern – und das war seiner Meinung nach schlechter als eine konsequente Haltung mit Strafe oder Belohnung dank klarer Unterscheidung zwischen richtig und falsch, gut und böse oder Recht und Unrecht. Heute strafen, morgen nicht, aber übermorgen …, das konnte doch nicht gut gehen.
Nun, beim geschiedenen Sohn Marcel war das alles jetzt ohnehin schwierig. Seine beiden Kinder lebten bei der Mutter. Sie wurden ihr zugesprochen, und die kehrte mit ihnen zurück an den Bielersee. Jakob sah die beiden Enkel nur noch selten. Denise war jetzt 14 und Romain 12 Jahre alt. So verging die Zeit.
Er holte sich in der Küche ein Bier und sah wieder den jungen Gretler vor sich, der heulend mit seinem Vater, seinem leeren Kessel und der Schaufel davontrappelte. Warum konnte er diese Szene nicht vergessen und warum warfen die Jungen gleich die Flinte ins Korn, wenn’s in ihren Ehen nicht klappt? Als er Martina geheiratet hatte, liess sich noch kaum jemand scheiden. Jetzt aber wurden je nach Gegend bereits zehn von hundert Ehen geschieden! Das konnte nicht gut gehen, vor allem auch der Kinder wegen. Dabei hatte bei Marcel und Charlotte alles so wunderbar begonnen.
Jahre später, erinnerte er sich, war der junge Gretler noch einmal in die Schmiede gekommen. Er wollte Schmied werden. Jakob hielt den Jungen dafür nicht stark genug, er war ihm zu schmächtig für den harten Beruf, und zudem hatte Waldemars Vater ohnehin andere Pläne mit dem Jungen. Der Gretler Kari verschaffte ihm im «Fürstlichen Walzwerk» eine Lehrstelle als Mechaniker oder Werkzeugmacher. Und wieder war da das enttäuschte, beinahe traurige Gesicht, an das sich Jakob erinnerte.
Martina war vor dem Fernseher eingenickt. Er rief ihr zu, er gehe schlafen.
Jakob schlief lange nicht ein und wachte danach immer wieder auf. Dem Frühling und dem Alter gab er die Schuld. Immer wieder waren es Erinnerungen, die ihn wach hielten, zum Beispiel an seinen Vater, der ihn ab und zu noch immer in Träumen bedrängte, ihn mit dem Schmiedehammer verfolgte, Jakobs Hand in der Esse zum Glühen brachte und danach auf dem Amboss die offenbar stählernen Finger schmiedete, der ihn verfluchte, weil er das edle Gewerbe aufgegeben und die väterliche Schmiede verkauft hatte.
Da war auch Susanne, der es nicht gelingen wollte, einen Mann zu finden, was ihn wach hielt. Allerdings grämte er sich ihretwegen weniger als Martina. Vielleicht hatte es auch sein Gutes, dass Susanne nicht verheiratet war. Vielleicht ersparte sie sich damit eine Scheidung. Auch um Aldo, seinen zweiten Sohn, machte er sich Sorgen, weil Aldo so viel reiste und arbeitete und nur wenig Zeit für seine Familie hatte. Dabei waren die Zwillinge Sibylle und Sophie die reine Freude, gesund, hübsch, fröhlich, klug und gut erzogen. Vielleicht war Miriam nicht immer einfach, aber welche Frau war das schon?
Es waren keine zusammenhängenden Bilder, die ihn bedrängten, eher von Blitzen erhellte Augenblicke mit Kindern, Mädchen, Susanne, Pferden, Frauen, Cecile.
Seit 15 Jahren beherrschte und begleitete ihn Cecile in seinen Tagen und Nächten. Nicht immer – auch nicht mehr immer so leidenschaftlich – aber fast immer nur, wenn er es wollte. Manchmal schämte er sich deshalb, weil er sich danach als kleinen Wichser sah, der mit Martina schlief und dabei von Cecile träumte. Nie hatte er darüber mit Martina oder gar mit Cecile gesprochen, mit niemandem. Die lustvollen Träume mit Cecile waren seine Seitensprünge – Cecile war die Mutter von Charlotte, der Frau seines ältesten Sohnes Marcel, die Grossmutter von Denise und Romain.
Jakob war 48 Jahre alt, als er Cecile kennen lernte, – er und Martina also seit beinahe 25 Jahren verheiratet, die letzten fünf Jahre geradezu lustvoll. Die Pille war aufgekommen, und der Deutsche Kolle ermunterte müde Paare, sich mehr Freude zu machen.
Martina erzählte ihm damals, die Frauen in der Fabrik ereiferten sich über Kolle – lachend und witzelnd oder empört und schimpfend. Zum ersten Mal, seit er verheiratet war, machte ihn Martina an und schleppte ihn ins Bett – Jakob wusste nicht, was er davon halten sollte. Bisher war Martina eine Frau gewesen, die es sich einfach gefallen liess – eher hin als wieder. Manchmal hatte er sich gewünscht, zu einer Hure zu gehen, die ES ihm machte, die ihm die Hosen aufknöpfte und das Ding herausholte. Plötzlich tat es Martina. Es war schamlos, seine Frau war schamlos, seine keusche Frau, von der er bisher einfach nahm, was ihm zu gehören schien, und die es sich, weil sie ihn zu lieben hatte, einfach gefallen liess. Er schwankte zwischen zwei Welten. Es war absurd und doch so entsetzlich lustvoll, hinreissend, ein neues Leben. Endlich konnte er sich mit Martina so vergnügen, wie er sich das einst erträumt und später resigniert für unmöglich gehalten hatte, genauso vögelte sie ihn, wie er sich das schon immer gewünscht hatte, sowas hätte er ihr nie zugetraut. Um ganz sicher zu gehen, nahm die 42-jährige Martina jetzt die Pille – dem Papst und all seinen Kardinälen zum Trotz, wie sie zu witzeln wagte. Auch das war neu.
Beide waren sie gläubig. Er sang im Kirchenchor, beinahe jeden Sonntag, aber er ging kaum zur Beichte oder zur Kommunion, obwohl Letzteres seit dem Konzil lockerer zu haben war – man brauchte nicht mehr nüchtern zu sein – und wer seine Sünden mit Inbrunst bereute, konnte die Beichte auf später verschieben. Bestimmt gab es einen Gott, und vermutlich war es für die Seele und das Leben nach dem Tod richtig und wichtig zu glauben und hin und wieder zu beten. Martina war beinahe fromm. Als Mädchen war ihr die göttliche Mutter ein Vorbild, und bis zur Hochzeitsnacht mit Jakob war sie Jungfrau gewesen. Sie ging immer wieder beichten und bedauerte es, als das Latein der Messe den deutschen Gebeten weichen musste. Schliesslich war sie froh, Marcel mit der katholischen Charlotte verheiratet zu wissen. Es war besser so, auch einfacher.
Jakob konnte es nicht lassen, sie zu fragen, ob sie denn die neuen Bettgeschichten dem Beichtiger erzählen würde. Da sagte sie, was er von ihr noch nie in solcher Tiefe gehört hatte: «Nein, da gibt es nichts zu erzählen, denn ich habe dich lieb, und da dürfen wir alles tun, was uns Freude macht» – und sie ergänzte, diese vielleicht gut meinenden und doch meist weltfremden Wasserprediger hätten in ihrem Bett nichts verloren.
Jakob kam es vor, als ob er 20 Jahre neben und mit einer anderen Frau geschlafen hätte. Vielleicht hatte es auch mit dem neuen Leben im Chalet zu tun. Martina war glücklich, dass er Esse und Amboss aufgegeben hatte. Seine Arbeitstage waren lang und schwer gewesen und die Arbeit schmutzig, und immer hatte Jakob nach Kohle, Eisenstaub und Pferdemist gerochen. Jetzt war er am Abend immer früh zu Hause und den Gestank aus der Siederei konnte er sich vor Arbeitsende wegduschen. Auch in der Wohnung gab es weniger Staub, weniger Wäsche, bessere Luft.
Und dann lernte er Cecile kennen. Verfluchte wunderbare Lust.
Am neuen Leben im Bett änderte das nichts – im Gegenteil. Natürlich lernten er und Martina jetzt endlich, über ihr Erleben zu reden. Sie erdachten sich gemeinsam fantasievolle Bilder, an die sie sich bisher nie gewagt hätten, und sie lasen das Dekameron und das Kamasutra, die Abenteuer des Kin Ping Meh, kauften verschämt Magazine mit eindeutigen Anleitungen und verführten sich flüsternd zum Partnertausch, geilten sich daran auf, ohne solches je wirklich anzustreben. Martina hatte Updikes Paare nach Hause gebracht. Sein Inhalt wirkte lange nach.
Niemals, niemals erwähnte der inzwischen 63-jährige Jakob seine heimliche Gespielin Cecile – seit 15 Jahren. Inzwischen war alles ein wenig gelassener geworden. Noch immer waren Jakob und Martina ein gutes Paar, und auch die Sache mit der erträumten Cecile war etwas in die Jahre gekommen, was er durchaus bedauerte. Vielleicht, wenn Marcel und Charlotte es geschafft hätten, wären sie sich hin und wieder begegnet. Das hätte ihm gut getan oder auch nicht, fiel ihm ab und zu ein. Manchmal befiel ihn eine leichte Wehmut, wenn er an Cecile dachte. Aber er liebte Martina durchaus. Martina war ihm immer eine gute und liebe Frau gewesen.
Warum konnten es die jungen Leute nicht auch so halten, grübelte Jakob in der Nacht nach jenem Tag, an dem sich Waldemar Gretler erschossen hatte.
Die äusserlich lächerlich harmlose und doch konsequent verheimlichte Geschichte mit Cecile begann im September 68 an der Hochzeit ihrer Tochter Charlotte mit Marcel Amrein. Sie waren sich zwar schon ein paar Monate zuvor am Tag der Verlobung der jungen Leute begegnet, aber viel Zeit, sich kennen zu lernen, war damals nicht geblieben. Jakob gefiel die mit 42 Jahren ohnehin noch junge, aber auch völlig unverbraucht wirkende Frau mit dem leicht französischen Akzent. Obwohl er ein wenig Französisch sprach, wich er der Anstrengung entschieden aus. Ihr Schweizerdeutsch war nicht nur schnell und gut, sondern auch so wunderbar welsch. Ihren Augen sah man an, dass sie gerne und viel lachte, und das tat sie auch jetzt, an diesem Hochzeitstag, als die Welt noch so war, wie Jakob sie eigentlich schon immer haben wollte.
Geschmückt mit roten Nelken am Revers zog die kleine Gesellschaft bei Glockengeläut und Orgelspiel in die alte Kirche des Städtchens im Luzerner Hinterland. Der Geistliche stellte die wichtigen Fragen, las die Traugebete und sprach sowohl «was Gott gebunden, soll der Mensch nicht trennen» als auch «so seid ihr Mann und Frau, bis dass der Tod euch scheidet». Die beiden Mütter waren sichtlich gerührt, und alle knieten nieder, als der Priester mit der Messe begann. Seit dem Konzil des beliebten, für Millionen von Katholiken und anderen Christen allzu früh verstorbenen grossen Papstes Johannes konnte jedermann die Gebete verstehen und zur Kommunion durften auch alle gehen, selbst die mit vollem Magen, solange sie den richtigen Glauben hatten. Die Predigt handelte vom Glück, das es zu schmieden gelte, vom Segen Gottes für die Menschen guten Willens und von der Liebe, die nur im Glauben ihre wirkliche Tiefe finde.
Cecile hatte schon lange keine Kirche mehr betreten. Nicht weil sie irgendeine ablehnende oder gar feindselige Einstellungen hatte, sondern aus purer Unbekümmertheit. Die Kirche schien ihr nicht mehr wichtig. Während der ganzen Messe war sie in Gedanken durch ihre Vergangenheit gereist, ihre Kindheit und ihr Leben mit Charlotte. Dazwischen hatte es fast nichts gegeben.
Cecile hatte ihre Tochter beinahe alleine, das heisst mit Hilfe der Grosseltern im Seeland – das nicht zu verwechseln ist mit unserer viel nördlicher gelegenen Seeweite – in der Nähe von Murten aufgezogen. Der leibliche Vater von Charlotte, ein polnischer Soldat, Internierter aus dem Lager von Aarberg, war 1945 mit seiner Truppe weggezogen, ohne zu wissen, dass Cecile guter Hoffnung war, wie man damals so schön sagte. Die Suche nach ihm brachte nichts, der Krieg war zu Ende, die Grenzen offen, die Welt roh. Das war für Ceciles Eltern beinahe weniger erträglich als für die junge Mutter. Sie erlebten «die Sache» als Schande und fühlten sich im Dorf dem Spott preisgegeben. Cecile hingegen war vor allem sehr traurig und machte daraus nach und nach eine masslose Wut gegen alles, was nach Mann aussah. Im Grunde aber blieb sie eine frohmütige junge Frau und liess sich nicht unterkriegen. Charlottes Grossvater murrte zwar lange Zeit und verfluchte die rufmordende Geschichte, aber er freute sich schliesslich doch, genau wie seine Frau, eine fröhliche, aber strenggläubige Fribourgeoise, über das hübsche, gesunde, pflegeleichte und stets hungrige Bébé – im Alltag sprach Ceciles Familie Französisch.