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Die Seeweite
ОглавлениеIm weitesten Sinn beginnt die Seeweite am Südfuss des Jura, und dazu gehört auch Achstadt, die Kleinstadt mit ihrem bemerkenswerten historischen Kern, einem erstaunlich vielfältigen kulturellen Angebot, mit Schulen bis zur mittleren Reife, einer Fachhochschule für Ingenieure, einem florierenden Gewerbe und einer zwar nicht besonders grossen, aber doch vielseitigen und prosperierenden Industrie.
Von hier aus gegen Osten, Süden und Westen breiten sich viele vormals ländliche Dörfer aus, deren einstige unzählige kleine Bauernhöfe zum grössten Teil verschwunden sind und die jetzt eine anscheinend ungeplante, unübersehbare, nach und nach mit der Ausdehnung ausufernde Ansammlung von mehr oder weniger in Reihen oder losen Haufen gebauten Wohnhäusern, Kaufhäusern, Industrie-, Klein- und Handwerksbetrieben bilden. Viele Dörfer sind in den letzten 50 Jahren mehr und mehr zusammengewachsen und kaum noch auseinander zu halten. Aus ihnen sind stadtähnliche Gebilde geworden. Nur einzelne markante Bauten, Kirchen und Plätze deuten bisweilen auf die einstigen Dorfkerne hin.
Hügelzüge mit Wäldern und Wiesen trennen noch immer die sanften Täler und damit auch die gewachsenen Siedlungen, denen in der Weite zwei geradezu liebliche Seen so etwas wie eine fliessende Grenze setzen.
Als eine Art Parklandschaft oder Erholungsraum mit Spiegeln – so könnte die Idylle sehen, wer von Sulzach her, dem letzten grösseren Dorf vor dem Sulzachsee, über den Heimberg wandert und die unbestritten reizvolle Weite geniesst. Dieser Weite schliesslich verdankt die Gegend ihren Namen. Je nach Wetterlage bildet, bei guter Sicht, weit hinter den Seen die Alpenkette eine imposante, hin und wieder gar dramatische, jedenfalls von Einwohnern und Besuchern gleichermassen bewunderte Kulisse. Vielleicht haben einst diese lieblichen Spiegel Melchior Müller, den Gründer des «Seespiegel», zum Namen für sein Lokalblatt angeregt. Doch Weitsicht hat sein «Seespiegel» aus der Seeweite kaum gewonnen.
Die Zahl der Einwohner hat sich in den letzten 100 Jahren vor allem durch Zuwanderer unterschiedlichster Herkunft vervielfacht. Die früher sozusagen selbstverständliche, einer ungeschriebenen Hackordnung folgende dörfliche Kontrolle über jeden Einzelnen ist den kleinen wirklichen und vermeintlichen Machthabern entglitten. Wie die einzelnen Orte, so sind auch viele Menschen vor allem in den letzten 50 Jahren, zu einer neuen Zeit aufgebrochen. Ihre Berufe, Ansichten, Bräuche und Wünsche haben sich verändert. Andere versuchen zu verharren, misstrauen jeder Öffnung der Zäune und der Überbrückung alter Gräben. Sie sehen in allem Aufweichung, Verflachung oder gar Preisgabe bewährter Werte. Ältere Bewohner sind zur Anpassung vielleicht gar nicht mehr in der Lage. Wenn sie nach Achstadt fahren, fahren sie in die Stadt, und viele verachten das noch weiter entfernte Zürich als Grossstadt, hinter der alles andere bereits Ausland ist.
Für allzu viele endet mit der Seeweite auch ihr Horizont. Früher brach die Seeweite bereits beim unsichtbaren Zaun zur katholischen Nachbarschaft ab. Und jenseits des Zauns waren die Leute um kein Haar besser. In den Reformierten und Protestanten mit all ihren unzähligen Sekten sahen sie des Himmels unwürdige Verführte, Abtrünnige oder gar Ketzer. Gewiss, man wollte nach dem verlorenen Sonderbundkrieg schon zusammen Schweizer sein, zum gemeinsamen Wohl, und die Arbeit in den Fabriken und Werkstätten der unermüdlich fleissigen Calvinisten und Zwinglianer verachtete auch niemand, aber im Herrschaftsbereich ihrer Kirchen wollten die schwarzen Pfaffen möglichst wenig liberales Unternehmertum dulden, um so das fromme Volk vor der Sünde aufklärerischer Freiheit und Selbstbestimmung zu schützen. So blieb die Landschaft südlich der Sulzachsee noch weitere 100 Jahre geprägt von lieblichen Bauerndörfern mit blühenden Obstbäumen und päpstlicher Kirchturmpolitik.
Erstaunlicherweise liegt der Kern von Sulzach nicht direkt an seinem lieblichen See, sondern leicht darüber. Vor 100 Jahren befand sich das verschlafene Dorf ohnehin im Abseits. Der See war weder als Wasserstrasse noch sonst von wirtschaftlicher Bedeutung. Sich an seinem Ufer auszuziehen, um stundenlang in der Sonne zu liegen oder gar in seinem Wasser zu schwimmen wäre niemandem eingefallen. Man hatte anderes zu tun. Selbst die Kinder wurden neben Schulstunden und Kirchgang oft zur stundenlangen Heimarbeit angehalten.
Auch für die Anmut der Gegend hatten nur wenige ein Auge oder gar Zeit. So bildete sich das Dorf entlang der einzigen, von Norden nach Süden führenden, im Sommer staubigen und im Winter meist matschigen oder gefrorenen Strasse. Erst die der Strasse entlang gebaute Eisenbahn brachte eine für den Aufschwung der Gegend wichtige Verbindung mit den anderen Dörfern, der Stadt, dem ganzen Land und damit der modernen Zeit. Für die Eisenbahn wurde Sulzach zur Endstation. Das katholische Schwarzfeld, das nächste Dorf im Süden, musste noch lange Jahre auf einen Anschluss an die weite Welt warten und blieb eben auch für weitere Jahrzehnte ein unberührtes Bauerndörfchen.
In Sulzach hingegen wurden binnen kurzer Zeit aus kleinen Gewerbebetrieben grössere Unternehmen. Zwar gab es schon lange eine ansehnliche Mühle, eine Sägerei und die Spinnerei unten am See, weil man dort das Wasser vom Sulzbach nutzen konnte, aber nach der Jahrhundertwende kamen, auch dank der neuen elektrischen Energie, beinahe Jahr für Jahr neue Betriebe dazu.
Neu wurden Aluminium und Buntmetalle geschmolzen, gegossen, getrieben, gewalzt und gezogen. In einem anderen Betrieb entstanden Drehbänke und Werkzeugmaschinen, die sich im ganzen Land einen guten Ruf erwarben. Neben der wachsenden Spinnerei versuchten junge Unternehmer mit Strickwaren reich zu werden. Viele kleine und einzelne grössere neue Betriebe stellten Zigarren und die im Alltag beliebten Stumpen her. Letztere lieferten ihre Abfälle und Säfte zur weiteren Verarbeitung einem Betrieb, der sich auf die Herstellung chemischer Produkte spezialisierte. Eine Mosterei versuchte über die Region hinaus Kunden im ganzen Land zu gewinnen. Sie erinnerte vielleicht am stärksten an die ländliche Vergangenheit des Dorfes. Zur Mosterei brachten die Bauern der weiteren Umgebung die Tonnen von Fallobst, aus dem der Sulzacher Apfelsaft gepresst, als Süssmost konserviert oder in Fässern zu Apfelwein vergoren wurde. Und alle diese Betriebe stellten neue Leute ein.
Kurz vor dem Ersten Weltkrieg begannen die aufkommenden Autos die Dörfer auf ihrer Durchfahrt mit Gestank und riesigen Staubwolken zu belasten, und bei schlechtem Wetter bewarfen sie die Leute am Strassenrand mit Dreck. In den folgenden Jahren wurde die Strasse nach Achsttadt – unter anderem mit tatkräftiger Hilfe italienischer Arbeiter – ausgebaut und ein Jahrzehnt später asphaltiert. Mit der Verbreiterung der Strassen entstanden die ersten Trottoirs für die Fussgänger. Trotzdem verfluchten viele Dörfler, vor allem die Bauern, den aufkommenden Verkehr, vor dem ihre Pferde scheuten oder gar durchbrannten und waren kaum bereit, den neuen Komfort zu würdigen oder gar die Schwerarbeit der Tschinggen (so nannten sie die Italiener) wirklich wahrzunehmen.
Inzwischen wurde aus der langsam durch die Gegend ratternden elektrischen Kleinbahn, auf die Jugendliche – sie machten sich daraus einen Sport – anfänglich auch während der Fahrt aufspringen konnten, nach und nach eine schnelle Regionalbahn, die im Halbstundentakt alle Dörfer bediente.
Allerdings blieb das Dorfbild von Sulzach bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts von der Landwirtschaft und den vielseitigen Gewerbebetrieben und Krämerläden geprägt. Fünf Schmiede verpassten den Pferden der Bauern und Fuhrleute die neuen Hufeisen. Zwei Wagner hatten genug zu tun, neue Leiterwagen zu bauen und andere zu flicken oder hin und wieder gar eine vornehme neue Kutsche aus der Werkstatt zu fahren. Zur Sägerei am See gehörte auch eine Zimmerei, die sich vor allem auf den Bau von Chalets spezialisiert hatte. Vier Schreinereien im oberen Dorfteil stellten auf Bestellung allerlei Möbel her, waren aber doch eher für Arbeiten im Wohnungsbau eingerichtet; sie lieferten und montierten individuell und nach Mass Türen, Fenster, Jalousien, Holzdecken und anderes. Schon seit Ende der 20er Jahre stritten sich zwei Elektrogeschäfte mit allen möglichen, mehr oder weniger fairen Mitteln um Aufträge. Vor allem der Anlagenbau für die Fabriken mit all den vielen Lampen und Motoren warf Auftragsbrocken mit guten Margen ab.
Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg die Nachfrage nach Haushaltmaschinen massiv an. Jedermann kaufte Staubsauger, Kühlschränke und Waschautomaten im so genannten Fachgeschäft. Das Handwerk bekam wirklich einen goldenen Krämerboden.
Trotz der Fabriken und Gewerbebetriebe lebten auch in den 50er Jahren noch immer viele Leute mindestens teilweise von kleinbäuerlicher Landwirtschaft. Oft arbeitete der Mann in einem Betrieb – meistens als Hilfsarbeiter für ein sehr kleines Einkommen. Die Frau erzog, bekochte und pflegte zu Hause meistens mehrere Kinder, nähte für sie Kleider und machte von Hand grosse Wäsche, daneben hielt sie zwei drei Kühe, setzte und häckelte die Kartoffeln, besorgte das Futter, putzte die Runkeln, mästete die Sau, pflückte und verkaufte das Obst.
Noch immer war das Leben der meisten Menschen – wie üblich in jener Zeit – vom natürlichen Mangel an allem und jedem geprägt, aber auch vom Fehlen der Ressourcen während der beiden grossen Kriege. Das Denken und der Umgang mit den Gütern im Alltag gründeten auf Sparsamkeit, Umsicht, Vorsicht, Kontrolle und Geiz. Und für viele gab es die in unserer modernen Zeit und näheren Umgebung kaum mehr vorstellbare Sorge um das tägliche Brot.
Hunger mussten zwar auch einfache Leute kaum leiden. Aber frisches Brot kam selten auf den Tisch, und Fleisch – Gehacktes, Geschnetzeltes, Innereien oder Wurst – gab es zwei, vielleicht drei Mal die Woche. Wirklich arme Leute lebten im Alltag oft von Milchkaffee, gebratenen oder gesottenen Kartoffeln und Fallobst.
Obst war vergleichsweise teuer. Wer eigene Bäume hatte, war im Vorteil. Im Gegensatz zu Holz und Ähren konnte Obst kaum auf den Wiesen gesammelt werden, denn die Bauern pflückten selbst alle Bäume leer und sammelten das Fallobst für die Mosterei.
Bis in die 50er Jahre kannten viele Kinder, und meistens auch ihre Eltern, Südfrüchte wie Bananen, Orangen, Khaki, Feigen und Datteln nur vom Hörensagen. Das Gleiche galt auch für Schokolade und andere Süssigkeiten.
Nichts wurde weggeworfen – und bei Tisch den Teller leer zu essen, war ehernes Gesetz. Selbst das Wasser vom Abwasch fand in der Schweinetränke Verwertung. Leute, die kein Schwein mästeten, hielten vielleicht Ziegen oder Kaninchen, denen sie sämtliche Abfälle oder Reste aus der Küche verfütterten. Umsichtige Väter legten jedes einigermassen verwertbare Stück Eisen oder Holz zur Seite. Die Mütter sammelten jeden Fetzen Tuch, jeden gefundenen Knopf. Jede Hose, jedes Hemd, jeder Schuh, jede Socke und alles, was mehr oder weniger Schaden genommen hatte, wurde so lange wie möglich geflickt.
Die Menschen auf den Strassen und in den Gassen hatten eines gemeinsam: Sie waren in der Regel schlank oder gar mager. Trotzdem wurden sie im Durchschnitt weniger alt als die Leute 50 Jahre später, und sie waren in der Mehrheit auch kaum fröhlicher, wohl aber kleinlich und neidisch. Zwar reden heute viele Leute von der guten alten Zeit, aber das sind Märchen oder Wahrnehmungsschwächen – ernsthafte Untersuchungen ergäben mit Sicherheit ein anderes Bild.
Im Sommer trugen viele Kinder kaum Schuhe, die Buben kannten weder Leibchen noch Unterhosen – Hemd und kurze leichte Hosen genügten. Die Mädchen trugen rundum Schürzen. Man hatte für den Werktag kein zweites Set, und so waren zerrissene oder verschmutzte Kleider oft ein kleines Unglück, für das die Mütter ihre Kinder in der Regel bestraften. Die allermeisten hingegen besassen ein Sonntagskleid und auf Hochglanz gewichste Schuhe für Kirchgang, Kinderlehre und Spaziergang mit den Eltern am Nachmittag. Da zeigten auch die Erwachsenen ihre besten Kleider – nur allzu auffallend durften diese nicht sein. Wenn sich einfache Leute auffällig anzogen, wenn etwa die Nachbarin auch zwischen den Sonntagen die Seidenbluse trug, gab es bestimmt eine fragwürdige Geschichte zu entdecken, eine unbedachte Verschwendung auszumachen oder gar eitle Hoffart zu vermuten und zu bereden.
Ab der Mitte des Jahrhunderts hatten alle Häuser Strom und fliessendes Wasser. Da und dort gingen die Leute damit aber um, als ob Strom und Wasser eher zum Sparen als zum Gebrauch eingerichtet wären. Die Lampen verbrauchten viel zu viel Strom und brannten nie unnötig lange. In den Küchen stand zwar ein Herd mit elektrischen Platten und Backofen, aber noch immer weder Boiler mit Warmwasser noch Kühlschrank oder gar Geschirrspüler. Noch gab es keine Waschmaschinen, kaum Badezimmer und oft nicht einmal eine Waschküche. Die Schlafzimmer waren nicht heizbar und im Winter belegten sich die Fenster mit Eisblumen. Für Wärme in Wohnzimmer und Küche sorgten in der Regel kleine Öfen, in denen man Holz aus dem Wald verbrannte – wenn unbedingt nötig.
Für wirklich arme Leute war der Armen- und Waisenvogt zuständig. Er versuchte, mit möglichst wenig Geld die ganz Mittellosen zu versorgen. Er war auch befugt, uneinsichtige Väter aus dem Wirtshaus zu holen und zu irgendeiner schlecht bezahlten Arbeit zu verdonnern – als Hilfsarbeiter in einer Fabrik, als Taglöhner bei einem Bauern oder als Forstgehilfe im Wald. Auch war er dafür zuständig, Waisen und Halbwaisen bei Bauern zu verdingen, in Heime zu stecken und mittellose Witwen als Mägde zu vermitteln. Wer jemals in diese Mühle geriet, konnte ihr kaum mehr entrinnen. Angebotene Arbeit zu verweigern galt als unentschuldbares Vergehen und führte zum Abbruch jeder weiteren Hilfe.
Arbeit gab es auch bei Handwerkern und Gewerbetreibenden. Doch Ungelernte – und das waren fast ausnahmslos alle Frauen, aber auch sehr viele Männer – wurden in den Fabriken zu niedrigsten Löhnen für neun oder zehn Stunden an sechs Tagen die Woche angestellt. Nur in den Tabakfabriken gab es noch viel einfache Handarbeit, während in der Textilindustrie die Bedienung einfacher Maschinen, die ihrerseits den Arbeitsrhythmus diktierten, verlangt war.
In den Dörfern besass man kaum Autos und nur selten kam jemand mit einem solchen Vehikel dahergerattert. Nur die Kantonsstrasse war asphaltiert. Auf den anderen Strassen hinterliessen die seltenen motorisierten Karossen nach wie vor riesige Staubwolken. Die Leute begannen sich daran zu gewöhnen. Schliesslich waren es meist hoch vermögende oder gar einflussreiche Leute, denen man ausnahmslos mit Respekt zu begegnen hatte. Die Staubwolken gehörten zum Fortschritt. Zunehmend hatten diese Reichen oder Wichtigen auch ein Telefon, und wer sich als bescheidener Nachbar besonders anständig benahm, durfte im Notfall um eine Verbindung bitten oder wurde gar im Falle eines Anrufs benachrichtigt. Wer allerdings irgendwelchen aufmüpfigen Ideen frönte, als streikbereiter Gewerkschafter und Sozi galt oder sonst den besitzenden Bürgern suspekt war, musste den Weg bis zur Post in Kauf nehmen. So etwa lebte es sich in Sulzach am Ende des Zweiten Weltkriegs, als Waldemar, Rolf und Dölf Kinder waren.
Inzwischen sind mehr als 50 Jahre vergangen. Es gibt weder Schmied noch Wagner, weder Kürschner noch Küfer mehr, auch Molkerei und Käserei sind eingegangen. Noch sind da zwei Metzgereien, aber hier werden schon längst keine Rinder, Kälber oder Schweine mehr geschlachtet. Die Metzger beziehen ihr Fleisch vom grossen Schlachthof der Region – alle vom gleichen. Noch gibt es vier Bäckereien, aber nur eine von ihnen bäckt ihr Brot wirklich selbst und wenn schon, dann mit vorgemischtem Mehl – die Feinbackwaren beziehen ohnehin alle von der Grossbäckerei. Grossverteiler haben die kleinen Läden längst verdrängt. Aus Dutzenden kleiner Bauernhöfe sind ein paar Grossbetriebe geworden, die das Land ausserhalb der Agglomeration mit riesigen Traktoren bebauen. Ohne Subventionen und geschützte Preise müssten wohl auch sie aufgeben.
Spinnerei, Siederei und Tabakbetriebe sind infolge Konkurs, Umnutzung oder Aufgabe längst geschlossen. Die Walzi kämpft um ihr Überleben, die Besitzer konnten ihr Werk noch rechtzeitig an eine britische Gruppe verkaufen. Mosterei und Hutfabrik sind eingegangen – zahllose Betriebe scheiterten an der ungenügenden Wertschöpfung im schweizweiten, europaweiten, ja weltweiten Wettbewerb. Die hohen Kamine wurden gesprengt, sie verbreiten keinen Russ mehr. Auch die Zementfabrik im Nachbartal ist sauber geworden wie das Wasser im See. Aus seinem 100 Meter hohen Turm stösst das Kernkraftwerk jahraus und jahrein Wasserdampf in den Himmel – ein Merkmal fürs ganze Land.
Aus Arbeitern sind Bürolisten geworden, die in der Stadt oder in stadtnahen Büros am Schreibtisch und am Telefon sitzen. Wer es zu dieser Minikarriere nicht geschafft hat, muss sich Sorgen machen, Stellen mit einfachen Arbeiten sind überall rar geworden.
Hunde und pflegeleichter Rasen prägen den Alltag der Klein- und Kleinstfamilien in ihren putzigen Häuschen. Handy, Fernseher, Internet und Games bestimmen das Leben auch in den Wohnungen in den Wohnblöcken. Ein übergrosser Anteil von Kindern aus kaputten Welten und Familien fordert Lehrerinnen und Lehrer heraus. Die lokalen Politiker geben sich besorgt. Ihre Macht ist klein geworden und ihr Anspruch immer grösser – angeblich sind die Fremden schuld an allem.
Der Bau einer katholischen Kirche war in Sulzach schon in den 20er Jahren von Gesetzes wegen nicht mehr zu verhindern, auch wenn sich noch so viele ängstliche Reformierte dagegen auflehnten. Als während des Baubooms der 50er und 60er Jahre in der ganzen Seeweite mindestens ein halbes Dutzend weiterer katholischer Kirchen entstand, hatte es niemanden gekümmert. Im Gegenteil, auch reformierte Bauunternehmer hatten mit grossem Eifer ihren Beton in die Fundamente gegossen und dafür gutes Geld genommen. Das Thema, noch durch die ganze erste Jahrhunderthälfte da und dort hitzig diskutiert, hatte sich zumindest für den Grossteil der Bevölkerung in Nichts aufgelöst.
Doch jetzt fürchten sich die modernen und aufgeklärten Menschen der Seeweite vor Moscheen und Minaretten. Sie reden sich ein, Terroristen und Bombenbastler, Vielweiberer und Frauenschläger aus dem Orient und Afrika wollten die Macht im Land übernehmen. Ganz einfach.
Nun, nichts ist einfach.