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10. Überraschung

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Bale war früh aufgestanden. Die Sonne ging gerade erst auf, und Banja schlief noch friedlich in seinem Bett. Sie kam nachts oft zu ihm und suchte seine Wärme. Bale packte seine Anziehsachen, die über einer Stuhllehne hingen. Vorsichtig öffnete er die Tür, die etwas knarrte, aber er war schlank und konnte sich durch einen kleinen Spalt zwängen. Auf dem Flur lauschte er, hörte jedoch kein Geräusch, das darauf hinwies, dass schon jemand wach war. Gut. Bale schlich zur Treppe und sah hinunter. Er wusste, wie sehr die Stufen knarrten, doch das war kein Problem für ihn. Er schwang sich auf das Geländer und rutschte einfach hinunter, wie er es schon so oft getan hatte.

Unten sah er sich noch einmal besorgt um, bevor er hinunterstieg. Erst kurz vor der Haustür schlüpfte er in seine Hose. Die Schuhe, die seine Mutter ihm erst vor ein paar Tagen gemacht hatte, standen draußen, und das Oberteil, in dem er geschlafen hatte, musste als Hemd herhalten.

Bale öffnete vorsichtig die Tür und spähte hinaus. Es war nicht kalt, aber nebelig. Früher hatte er die aufsteigenden, weißen Luftmassen unheimlich gefunden. Jetzt war er zwölf Jahre alt, fast erwachsen, wie er fand. Angst kannte er nicht. Die empfanden nur Schwächlinge.

Zielstrebig ging Bale zum Schuppen, die Schuhe in der Hand. Seine Mutter bestand darauf, dass Schuhe im Haus nichts zu suchen hatten, und so dachten viele. Bales Gedanken schweiften zu Wolf ab und zu den kaputten Latschen, die der Junge getragen hatte. Eigentlich könnte Wolf sich doch einfach ein Paar Schuhe von einer der Haustüren nehmen, aber das traute er sich wohl nicht. Diebstahl wurde bestraft, und der alte Dimetrios ließ nicht jeden Dieb einfach so laufen, wie er es gestern mit Wolf getan hatte.

Als Bale die Schuppentür aufstieß, erstarrte er.

„Guten Morgen“, sagte Lando, der auf einem umgedrehten Eimer saß und ein Seil flocht. Bale wäre am liebsten einfach wieder gegangen, aber irgendetwas ließ ihn innehalten.

„Gut, dass du kommst. Ich wollte sowieso mit dir reden“, fuhr Lando fort. Bale wandte sich ihm notgedrungen zu und starrte ihn an.

„Willst du dich nicht setzen?“, fragte Lando freundlich. Der Junge schnaubte abfällig und blieb stehen, so dass der Mann zu ihm hochsehen musste. Landos Hände arbeiteten geschickt weiter, während er fragte: „Was ist los Bale? Was hast du für ein Problem mit mir?“

Diese Offenheit verblüffte den Jungen. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen einen Holzpfosten und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Du kannst nicht einfach …“, fing er an und suchte nach den passenden Worten, die ihm aber nicht einfielen. Lando half ihm nicht. Da musste er schon selbst durch.

„… nichts tun“, beendete Bale lahm den Satz.

„Du findest, ich sollte deinen Vater suchen?“, hakte Lando ruhig nach. Bale nickte heftig: „Natürlich! Ihr seid doch Freunde. Du kannst nicht einfach seinen Platz einnehmen. Das ist nicht gerecht!“

Lando bemerkte, wie der Junge darum kämpfte, die Fassung zu bewahren. Er war schon groß und wollte sich vor seinem neuen Ernährer keine Blöße geben. Lando versuchte aufzustehen, rutschte aber weg und fiel unsanft zurück. Das hatte ihm gerade noch gefehlt! Bale machte einen Schritt auf ihn zu, blieb jedoch stehen, als er Landos Gesichtsausdruck sah.

„Dann sag mir, wo ich ihn suchen soll, Bale“, presste Lando hervor und richtete sich mit einem Ruck auf. Er unterdrückte einen Schmerzenslaut und hielt die Luft an, bis das Stechen in seinem Bein nachließ. Bale beobachtete ihn besorgt.

„Sieh mich nicht so an!“, zischte Lando, entschuldigte sich aber sofort.

„Tust du mir einen Gefallen?“, fragte er nach einer Weile. Bale war überrascht, nickte aber.

„Kannst du mich zu meiner Hütte begleiten? Ich muss da noch etwas erledigen, und wir können auf dem Weg reden“, schlug Lando vor.

„Kannst du denn gehen?“, rutschte es Bale heraus. Er wusste, warum Lando gerade so wütend geworden war, und jetzt würde er wieder sauer sein. Aber der Mann ignorierte die Bemerkung. Er hatte einen Stock, auf den er sich stützen konnte. Zwar benutzte er ihn nicht gerne, aber manchmal ging es nicht anders.

„Komm, Bale. Es wäre wirklich nett von dir, wenn du mir hilfst.“ Der Junge schüttelte den Kopf, setzte sich aber in Bewegung. Er merkte, dass Lando Schmerzen hatte, und auf einmal wurde ihm bewusst, dass er deswegen nicht nach seinem Vater suchte. Er war dazu einfach nicht in der Lage.

„Wo wolltest du so früh hin?“, fragte Lando, als sie schon ein Stück gegangen waren. Bale musterte den festgetretenen Boden vor sich und zuckte die Schultern.

„Du wolltest deinen Vater selbst suchen, richtig?“

Der Junge seufzte tief.

„Ich verstehe dich doch. Meinst du, ich wäre noch hier, wenn ich eine Chance sehen würde, ihn zu finden? Meinst du denn, mir gefällt es, dass Jaron verschwunden ist? Ich kann nicht ändern, was der Rat beschlossen hat. Wir alle müssen das akzeptieren. Du kannst natürlich hinaus gehen und ihn suchen, aber was meinst du denn, wie weit du kommen würdest, ohne Waffen? Oder hast du Waffen?“

Lando war stehengeblieben und sah den Jungen forschend an.

„Ich habe eine Schleuder“, sagte Bale kleinlaut.

„Die habe ich dir gemacht. Bale, die taugt nur für Kleintiere. Eine Bestie machst du damit nur wütend. Es ist dir doch klar, dass da draußen gefährliche Tiere leben, oder?“

Bale verzog missmutig den Mund: „Vater hat davon erzählt“, gab er zu.

„Die Bestien in den Wäldern sind riesig. Du musst so gute Waffen haben, wie dein Vater wenn du eine Chance haben willst, lebend zurückzukommen. Du musst lernen sie zu benutzen, und du musst lernen zu kämpfen. Kennst du dich im Wald aus? Weißt du, was du essen kannst, wo du Wasser findest, wie du dich orientierst, wo du sicher schlafen kannst?“

Lando wurde eindringlicher. Bale musste verstehen, dass er nicht einfach in den Wald spazieren konnte. Er musste begreifen, wie gefährlich das war. Der Junge lief nachdenklich neben ihm her.

„Was wird aus deiner Mutter und Banja, wenn du weg gehst?“, fragte Lando.

„Die haben ja jetzt dich“, platzte der Junge heraus. Lando schüttelte bekümmert den Kopf.

„Ich kann Jaron nicht ersetzen und ich kann auf keinen Fall dich ersetzen. Ich bin nur ein Platzhalter und ich hoffe, ein wenig eine Hilfe zu sein, mehr nicht.“

Irgendwie machten diese Worte Bale traurig. Er wusste, dass Lando keine Familie hatte, und auf einmal erinnerte er sich an die Tage, die sie zusammen mit seinem Vater verbracht hatten. Männertage. Lando hatte ihm immer geduldig alles erklärt. Er hatte Waffen für ihn hergestellt. Einen Speer zum Fischefangen, eine Falle für Kleintiere und die Schleuder. Auf einmal tat es ihm leid, wie er Lando bisher behandelt hatte, aber er konnte es ihm nicht sagen. Seine Gefühle waren im Moment zu durcheinander.

Endora

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