Читать книгу Endora - Alegra Cassano - Страница 6
4. Wolf
ОглавлениеBales Aufmerksamkeit richtete sich auf jemand anderen, der in den Richtkreis gerufen wurde. Der Junge war groß, schmächtig und unglaublich dreckig. Bale wusste, dass er älter war, als er selbst, vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahre. Dimetrios erklärte, die Bäckerin bezichtige den Jungen, der Wolf hieß, des Diebstahls. Er solle einen Laib Brot aus der Backstube gestohlen haben. So wie Wolf aussah, traute ihm jeder sofort diesen Raub zu, aber die wenigsten verurteilten ihn dafür, denn viele Leute kannten die Geschichte des Jungen.
„Was hast du dazu zu sagen, Wolf?“, fragte Dimetrios in einem neutralen Ton. Er als Ratsältester und Richter durfte keine Partei ergreifen, auch wenn ihm das manchmal schwer fiel. Der Junge stand mit gesenktem Kopf da. Er trug zerlumpte Kleidung, die stellenweise nur noch von dünnen Fäden zusammengehalten wurde. Seine weichen Lederschuhe waren aufgeplatzt. Vorne schauten die Zehen und an den Seiten die nackte Haut hervor. Es war ein Wunder, dass sie überhaupt noch an seinen Füßen Halt fanden.
„Ich habe das Brot genommen. Es tut mir sehr leid“, brachte Wolf halblaut hervor. Seine Stimme klang viel zu jung, wie die eines Kindes. Eine Frau kämpfte sich durch die Umstehenden nach vorne.
„Bestraft ihn nicht! Ich werde das Brot bezahlen!“, rief sie, noch bevor sie den Platz erreichte. Wolf sah nicht zu ihr hin. Er bewegte sich überhaupt nicht, so als wäre er zu einer Steinfigur geworden.
„Ich bezahle das Brot“, wiederholte die Frau, als sie bei Dimetrios angekommen war. Nun trat auch die Bäckerin vor: „Er muss bestraft werden. Er soll endlich verstehen, dass er nicht stehlen darf“, forderte sie mit herrischer Stimme. Ihr kleiner, dicker Körper bebte vor Anstrengung.
„Mein Mann wird ihn bestrafen, sobald er zurück ist“, versicherte die andere Frau eilig. Dimetrios war überrascht und zugleich gefiel ihm nicht, dass er heute ständig von Weibern angesprochen wurde. Der Bäckerin als Anklägerin stand das gerade noch zu, aber jetzt mischte sich noch eine Frau ein, und schon herrschte das Chaos. Dimetrios wusste, dass Wolf keine Familie hatte. Eigentlich gehörte er in den Hort, aber von dort riss er ständig aus, und irgendwann hatten sie es aufgegeben, ihn zurückzubringen. Solange er keinen Ärger machte, wurde er im Ort geduldet.
„Wie stehst du zu dem Jungen?“, fragte er deshalb neugierig. Da der Mann dieser Frau nicht anwesend zu sein schien, musste er ihr wohl oder übel das Wort erteilen.
„Er arbeitet für uns“, gab sie ohne Zögern an. „Wenn Ihr ihn bestraft, dann bitte so, dass er seine Arbeit noch verrichten kann.“
Wolf stand die ganze Zeit mit gesenktem Kopf da und zeigte keine Regung, so als ginge ihn das alles nichts an.
„Warum hast du das Brot gestohlen?“, fragte Dimetrios.
„Ich hatte Hunger“, gab Wolf leise zurück.
„Bekommst du bei deiner Arbeit nichts zu essen?“, hakte der Richter nach. Wolf zögerte. Er warf einen scheuen Blick auf die Frau, die angeboten hatte, seine Schulden zu bezahlen.
„Manchmal“, entgegnete er dann ausweichend.
„Bekommst du etwas Anderes als Entlohnung?“, wollte Dimetrios wissen. Wolf schüttelte zögernd den gesenkten Kopf, doch dann fiel ihm noch etwas ein: „Ich darf im Schuppen schlafen“, sagte er, und für einen kurzen Moment huschte Freude über sein dreckverschmiertes Gesicht. Doch dann schien er sich wieder bewusst zu werden, welchen Verbrechens er hier angeklagt war und ließ mutlos den Kopf hängen. Dimetrios verlor allmählich das Interesse an dieser Geschichte, was daran liegen konnte, dass ihm selbst der Magen knurrte.
„Bezahle der Bäckerin das Brot und sorge dafür, dass er nicht mehr stiehlt. Noch einmal kommt er mir nicht so glimpflich davon“, schloss Dimetrios den Fall ab und schwenkte die Fahne Endoras. Damit war die Versammlung beendet und die Menschen entlassen. Zögernd löste sich der Pulk auf. Überall wurde getuschelt, wobei Wolfs Fall nebensächlich war. Ayda und Lando sorgten für Aufregung und die Leute stellten sich Fragen.
Warum hatte Ayda sich so schnell einen neuen Ernährer suchen müssen? War Jaron tot oder würde er zurückkehren? Was würde passieren, wenn der Todgeglaubte hier erschien und seine Familie zu einem anderen Mann gehörte, der zudem noch sein bester Freund war? So einen Fall hatte es in Endora noch nie gegeben. Manche Menschen schienen froh zu sein, dass sich endlich einmal etwas Spannendes ereignete. Sie überlegten sich immer neue Möglichkeiten, warum Jaron ersetzt worden war. Hatte jemand gesehen, wie er getötet wurde? Womöglich war er von einer Bestie gefressen worden! Es musste einen Grund geben, warum Dimetrios so handelte. Ayda, Jaron und Lando würden noch lange für Gesprächsstoff sorgen, das war sicher.
Bale nahm Banja bei der Hand und ging seiner Mutter voraus, wobei er Lando im Weggehen einen missmutigen Blick zuwarf.
„Bale ist nicht glücklich mit deiner Wahl“, seufzte Lando, als er mit Ayda in Richtung ihres Hauses lief.
„Er sollte glücklich und dankbar sein, dass Rubion nicht der einzige Anwärter geblieben ist“, meinte Ayda. Lando nickte. Mit seinen Gedanken war er jedoch bei Jaron.
„Was ihm wohl passiert ist“, fragten beide wie aus einem Mund. Sie stutzten und sahen sich schweigend an.
„Es tut mir leid“, sagte Lando dann.
„Was meinst du?“
„Es tut mir leid, dass du zu dieser Entscheidung gezwungen wurdest.“
„Ich danke dir sehr, dass du dich gemeldet hast, doch ich bin nicht sicher, ob das eine gute Entscheidung von dir war. Falls Jaron zurück kommt …“ Lando bemerkte sehr wohl den feuchten Schimmer in ihren Augen, denn sie senkte den Kopf nicht schnell genug.
„Ich weiß“, versuchte er sie zu beruhigen, „aber ich hatte keine Ahnung, was ich sonst hätte tun sollen. Ich konnte dich und die Kinder doch nicht Rubion überlassen.“
„Dein Leben wird sich nun sehr verändern“, stellte Ayda leise fest und wechselte damit gekonnt das Thema. Sie befanden sich kurz vor ihrem Haus. Von den Kindern war nichts zu sehen. Vielleicht waren sie schon hineingegangen, denn die Häuser durften in Endora nie verschlossen werden.
„Du solltest deine Sachen holen“, sagte Ayda sanft, ohne den Freund anzusehen. Lando nickte nachdenklich. Er musste bei der Familie im Haus wohnen. Seine einfache Junggesellenhütte war zu klein für sie alle.
„Ja, ich beeile mich“, sagte er und schlug den Weg nach links in Richtung der Stadtmauer ein.
Als er nun alleine den vertrauten Weg entlang ging, wurde ihm schlagartig die ganze Tragweite seines Handelns bewusst. Ihm wurde so übel, dass er sich einen Moment auf einen großen Stein am Wegrand setzen musste. Was hatte er nur getan?
Lando schüttelte über sich selbst den Kopf und rieb sich mit den Händen durchs Gesicht. Seine Gedanken wanderten zu Jaron, seinem Freund und Bruder. Sie waren in ihrer Jugend unzertrennlich gewesen, jedenfalls bis zu Landos Unfall. Jaron befand sich direkt neben ihm, als es geschah. Es hätte genauso gut ihm passieren können. Das Schicksal hatte jedoch Lando dazu auserwählt, in das Erdloch zu stürzen. Er war es, dessen Bein von einem angespitzten Holzpfahl durchbohrt wurde. Jaron war davon gelaufen, zu entsetzt von dem Anblick. So hatte es jedenfalls auf Lando gewirkt. Natürlich hatte der Freund Hilfe geholt, doch Lando fühlte sich alleine gelassen. Er hatte geglaubt sterben zu müssen und niemand war bei ihm! Das viele Blut, das aus der Wunde lief und die Angst, dass ein wildes Tier kommen würde, angelockt von diesem Blut, hatten ihn an den Rand des Wahnsinns getrieben. Damals hatte er bereits mit dem Leben abgeschlossen. Sein Freund hatte ihn im Stich gelassen, mit all seiner Angst! Das stimmte so nicht und das hatten sie auch später in vielen Gesprächen geklärt, aber Lando konnte immer noch das spüren, was er damals empfunden hatte, nicht nur den Schmerz, der erst später einsetzte, sondern vor allem die Todesangst. Zitternd und wimmernd hatte er in der Falle gelegen, unfähig sich zu verteidigen oder sich überhaupt zu bewegen. Er hatte geweint wie ein kleines Kind, hatte sich übergeben. Am deutlichsten konnte er sich daran erinnern, wie das Blut warm seine Kleidung durchdrang und dann in den Sandboden sickerte und diesen rot färbte.
Lando konnte Jaron nicht so vollständig vergeben, wie dieser es sich wünschte. Unzählige Male sprachen die Freunde über den Unfall und Lando war bewusst, dass er verblutet wäre, hätte sein Freund keine Hilfe geholt. Doch sein Gefühl und sein Verstand passten bei dieser Sache einfach nicht zusammen.
Er stand auf und schüttelte die Vergangenheit mit dem Straßenstaub von seiner Kleidung. Er durfte jetzt nicht an so etwas denken. Sein Freund war vermutlich tot, und er musste sich um dessen Familie kümmern. Das war jetzt sein Ziel. Man redete nicht schlecht über die Toten, und man dachte auch nichts Schlechtes über sie. Außerdem hatte Jaron ihn nicht verlassen. Er hatte Hilfe geholt! Warum ging diese Wahrheit nur nicht in seinen Kopf?