Читать книгу Endora - Alegra Cassano - Страница 3
1. Platz der Freude
ОглавлениеAls Lando den Platz endlich erreichte, war dieser von Menschen umringt. Wieder einmal befand er sich unter den Letzten. Sein Blick schweifte ärgerlich über die dicht gedrängt stehenden Leute, um eine Stelle zu finden, an der er sich zwischen den Wartenden hindurchzwängen konnte. Er zog sein rechtes Bein nach, wie er es seit seinem Unfall immer tun musste und fluchte, aber nur in Gedanken. In der Öffentlichkeit sollte man lieber vorsichtig sein, was man sagte, und besonders hier, auf diesem Platz. In der Menschenansammlung versteckten sich immer genug Leute, die sich beim Rat anbiedern wollten.
Nachdem Lando sich endlich durch die hinteren Reihen schwatzender Bürger gekämpft hatte, konnte er einen Teil des Platzes überblicken. Das Kopfsteinpflaster wirkte kalt und unfreundlich. Noch nicht einmal Unkraut wuchs hier. Alles war penibel sauber und würde es auch bleiben. Das Aussehen dieses Ortes stand im starken Gegensatz zu dessen Namen: Platz der Freude. Das, was an diesem Ort geschah, hatte kaum einen Menschen je fröhlich gestimmt. Eigentlich hätte der graue Stein rot sein müssen, vom Blut der Opfer, denn früher befand sich hier der Richtplatz. Taoman, der ehemalige Ratsälteste, war nicht zimperlich in der Wahl der Bestrafungen gewesen. Lando lief es bei diesem Gedanken kalt den Rücken herunter, und ihm wurde wieder einmal bewusst, welches Glück es war, dass jetzt Dimetrios regierte.
Die Bewohner von Endora versammelten sich um den Platz der Freude, sobald die Glocke des Turms geläutet wurde. Sie kamen zusammen, weil es Vorschrift war und natürlich auch aus Neugierde. Jedem, der diesen Treffen fern blieb, ohne krank oder bereits tot zu sein, drohten gewaltige Strafen, die niemand auf sich nehmen wollte, der bei Verstand war. Die Menschenmassen stauten sich mittlerweile zurück, bis an die ersten Häuser, die den Platz umgaben.
Lando fragte sich, warum die Glocke heute geläutet worden war. Es gab keine festen Zeitabstände zwischen den Versammlungen. Immer waren wichtige Ereignisse der Grund für diese Treffen, weshalb sich jeder Einwohner bereits auf dem Weg hierher Gedanken machte, was es wohl zu verkünden gab.
Der Ratsälteste trat in dem Moment auf sein hölzernes Podium, als Lando in der Menge Ayda und ihre Kinder entdeckte. Ayda war die Frau von Jaron, der für Lando wie ein Bruder war. Die Familien standen sich sehr nah. Lando, Jaron und Ayda waren fast gleichaltrig und schon als Kinder unzertrennlich gewesen.
Dimetrios stellte sich an das Geländer des erhöhten Bauwerks, wobei man ihm ansah, dass er der Festigkeit dieser Konstruktion nicht traute. Seine Finger krallten sich an die verzierte Holzleiste vor ihm, als er sich vorsichtig über die Brüstung beugte, um nach unten zu spähen. Das Podium wurde nur an den Versammlungstagen herbeigeschafft, damit man den Rat, der aus drei Mitgliedern bestand, besser sehen konnte. Nun richtete Dimetrios sich zu seiner vollen, imposanten Größe auf und eröffnete die Sitzung, indem er seine Hand zum Himmel streckte. Neben seinem emporgereckten Arm wehte die gelbrote Fahne Endoras in der leichten Brise, die die Hitze heute etwas erträglicher machte. Sobald der Ratsälteste sich der Aufmerksamkeit der Bewohner sicher war, und es ruhig wurde, nahm er den Arm herunter und hielt sich erneut fest, wobei er dieses Mal bereits entspannter wirkte. Die beiden anderen Mitglieder des Rates hatten auf Stühlen zu den Seiten des Ältesten Platz genommen. Wie üblich blieben sie stummes Beiwerk und trugen nichts zur Versammlung bei. So manch ein Bürger fragte sich, warum die Zwei überhaupt dort saßen. Dimetrios alleine traf die Entscheidungen und sprach als Einziger zu den Anwesenden.
„Bewohner Endoras! Ich heiße Euch willkommen!“, rief der Ratsälteste.
Lando richtete seine volle Aufmerksamkeit auf ihn. Dimetrios war ein großer Mann mit lichtem Haar. Stets trug er eine Kappe, die wie eine Blase aussah, welche um seinen Kopf zu schweben schien. Die fehlende Kopfbehaarung machte ein langer, weißer Bart wett.
„Ihr Leute hört mir zu“, sagte der Ratsherr mit einer tiefen, und trotz seines Alters noch kraftvollen Stimme.
„Wir haben heute zwei Dinge zu verhandeln.“
Jetzt wurde es still auf dem Platz. Sogar die Kinder wagten es nicht mehr, einen Ton von sich zu geben. Die Neugier auf das, was nun kommen würde, ließ alle verstummen.
„Ayda tritt vor“, hörte Lando die Aufforderung und sofort schoss ihm ein Stich der Angst ins Herz. Ayda? Was hatte das zu bedeuten? Hauptsächlich wurden hier Vergehen verhandelt. Was hatte sie getan?
Er beobachtete, wie die Frau seines besten Freundes gefolgt von ihren Kindern, dem zwölfjährigen Bale und der siebenjährigen Banja, den Platz betrat. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sie vollständig in Grau gekleidet war. Das war die Farbe, die die Frauen tragen mussten, deren Männer sich nicht im Ort befanden. Ayda war oft gezwungen, sich so zu kleiden, denn Jaron war Jäger und häufig für einige Tage außerhalb der Mauern, die den Ort umgaben. Ihre Schönheit hatte Ayda sich bewahrt, auch wenn sie bereits achtundzwanzig Jahre alt war. Ihr hellbraunes Haar trug sie wie eh und je in einem dicken Zopf auf dem Rücken, nur dass sie diesen jetzt unter dem Kragen ihres Kleides versteckt hatte. Es war üblich, den Frauen nach der Geburt des ersten Kindes die Haare bis auf Schulterlänge abzuschneiden und diese Frisur dann beizubehalten. Lando fragte sich, wie Ayda darum herum gekommen war. Noch brennender interessierte ihn jedoch, warum sie in den Richtkreis gerufen wurde, einem runden Mosaik in der Mitte des Platzes.
Während Dimetrios sprach, hielt Ayda ihre Kinder fest, jedes an einer Hand, als befürchtete sie, sie würden ihr weg genommen werden. Obwohl Bale zu alt dafür war, an der Hand seiner Mutter zu laufen, hielt er still.
„Ayda“, begann der Ratsälteste. „Dein Mann ist fort, und der Rat hat beschlossen, dass du dir einen neuen Ernährer suchen musst.“
Lando beobachtete, wie Ayda empört aufblickte, offensichtlich etwas entgegnen wollte, aber dann nur ungläubig den Kopf schüttelte. Ihm selbst verschlug es die Sprache, und auch die Menschen um ihn herum schienen wie erstarrt. Wie lange Jaron schon unterwegs war, konnte er nicht sagen, doch mit Sicherheit noch kein halbes Jahr und das war die Frist, die normalerweise abgewartet wurde.
Genau das versuchte Ayda jetzt wohl vorzubringen, aber Dimetrios unterbrach sie.
„Ruhe!“, donnerte er von oben herab. „Ich habe nicht nach deiner Meinung gefragt!“
Ayda senkte den Kopf. Als Frau stand ihr das Reden hier nicht zu, aber da kein Mann anwesend war, der für sie das Wort ergreifen konnte, hatte sie auf eine Ausnahme gehofft. Nun glühten ihre Wangen vor unterdrücktem Zorn.
„Meldet sich jemand freiwillig als Ernährer?“, fragte Dimetrios bereits in die Runde, ohne der verstörten Frau weitere Beachtung zu schenken.