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Erster Teil
III
ОглавлениеEs war mir ein Bedürfniß, lieber Freund, Ihnen alles dies mitzutheilen. Ich habe beim Schreiben viel geweint, und dies hat mir wohl gethan.
Ich will Sie daher mit der Erzählung der weiteren für mich so schmerzlichen Vorgänge verschonen.
Vor Allem befahl ich, in dem Zimmer meiner Mutter nichts zu verändern.
Ich brachte hier die ersten Tage nach ihrem Tode zu.
Abends ging ich auf den Friedhof; erst spät begab ich mich wieder in’s Schloß, und mein erster Gang war in das Zimmer meiner Mutter. Immer ohne Licht.
In den ersten Nächten schlief ich auf dem Armsessel, der noch vor dem Bette stand. Ich hoffte die Verewigte werde mir erscheinen, doch ich hoffte vergebens.
Ich dachte mit Schmerz, ja fast mit Vorwürfen an die Zeit, die ich bei meiner Mutter hätte zubringen können und die ich fern von ihr verlebt hatte; ich dachte an die langen Reisen, auf denen ich freiwillig auf das Glück, sie zu sehen, verzichtet hatte. Und dieses Glück würde ich mir jetzt um jeden Preis erkauft haben.
Es schien mir, daß mein Leben künftig verfließen würde, ohne mich den Freuden und Genüssen der Gesellschaft wieder zuzuführen. Der Sommer verging, ohne daß es mir einfiel zu reisen; der Herbst kam und ich dachte nicht an die Jagd; es war mir nicht einmal in den Sinn gekommen, mit jenen weiblichen Bekanntschaften zu brechen, welche in dem gewöhnlichen frivolen Treiben der eleganten Welt die Liebe ersetzen sollen.
Ich hätte es in meiner Trauer für einen Frevel gehalten, in meinem Schmerz an eine jener Bekannten zu schreiben, selbst um ihr anzuzeigen, daß ich ihr nicht mehr schreiben würde. Ich glaubte nie mehr lieben zu können.
So lebte ich vier Monate in meiner Einsamkeit.
Zuweilen sprach ich den jungen Arzt, der meine Mutter, leider erfolglos behandelt hatte.
Er hatte nach und nach eine gewisse Gewalt über mich bekommen; auf seinen oft wiederholten Rath, eine Reise zu machen, entschloß ich mich endlich, Friéres zu verlassen.
Aber dreimal kehrte ich zurück; ich war mit tausend Banden an das Zimmer, an das Grab meiner Mutter gefesselt.
Endlich entfernte ich mich, aber ich mied Paris: die Einsamkeit war noch Bedürfniß für mich. Ich wollte in einem kleinen belgischen oder holländischen Seehafen, wo ich keinen Menschen kannte, im Angesicht des Orcans ein paar Monate bleiben.
Ich warf einen Blick auf eine Karte, die ich in einem Gasthof zu Peronne fand, und ich wählte Blankenberg drei Stunden von Brügge.
Dort« dachte ich« werde ich allein seyn.
Ich war zu Pferde abgereist, um weder im Postwagen noch im Waggon mit andern Menschen in Berührung zu kommen. Es war mir ziemlich gleichgültig, ob ich einen Tag oder eine Woche unterwegs war.
Ich rastete, wenn mein Pferd müde war, ich ward nie müde, ich schien unermüdlich. Ich fragte nicht einmal nach dem Namen einiger Städte, in denen ich übernachtete, und ich würde gar nicht bemerkt haben, daß ich die Grenze überschritten, wenn man nicht nach meinem Paß gefragt hätte.
Ich hatte in einem Städtchen unweit Brüssel übernachtet; ich wollte in Brüssel nicht anhalten, sondern in einem Dorfe jenseits dieser Stadt rasten. Als ich am botanischen Garten vorüberritt, hörte ich mich bei meinem Taufnamen rufen.
Ich kann Ihnen nicht beschreiben, wie unangenehm mir dies war.
Ich gab meinem Pferde die Sporen, um zu entfliehen, aber man trat mir in den Weg.
Es war Alfred de Senonches, einer meiner besten Freunde.
Aber in meiner damaligen Stimmung waren mir selbst meine besten Freunde unerträglich.
Ich war indeß so innig mit ihm befreundet, daß mein Schrecken gemildert wurde, als ich ihn erkannte.
Er war erster Gesandtschaftssecretär in Brüssel, und ich war der Schnelligkeit seiner Carriere nicht fremd gewesen.
Er bestürmte mich mit Fragen; ich deutete auf den Flor am Hut.
Er drückte mir die Hand.
»Ich verstehe,« sagte er. »Armer Freund, später werden wir —«
»Ja wohl,« unterbrach ich ihn, »später wird es mir viel Vergnügen machen, Dich zu sehen.«
»Willst Du nicht bei mir bleiben?«
»Ich halte mich in Brüssel gar nicht auf.«
»Wohin reisest Du denn?«
»An irgend einen Ort, wo ich allein seyn kann.«
»So reife glücklich!« sagte er, »Du bist noch zu krank, armer Freund, als daß man deine Heilung unternehmen könnte. Aber vergiß nicht, daß ein großer Schmerz eine wohlthuende Ruhe ist; Du wirst nach überstandener Trauer stärker-werden, als Du vorher warst.«
Ich sah ihn erstaunt an.«
»Bist Du etwa unglücklich gewesen?« fragte ich ihn.
»Ein geliebtes Wesen hat mich betrogen.«
Ich sah ihn an und zuckte die Achseln. Ich hielt es für unmöglich, daß man durch getäuschte Liebe so viel leiden könne, wie ich gelitten hatte.
»Und jetzt?« fragte ich.
»Jetzt bin ich sehr glücklich; ich spiele, rauche, trinke. Ich glaube, daß ich bald Präfect werde: Du kannst denken, daß mir an meinem Glücke nichts fehlen wird.
Dieses Mal sah ich ihn traurig an. Konnte wirklich ein Mensch unglücklicher seyn als ich?
Er errieth meine Gedanken, als ob ich sie laut ausgesprochen hätte.
»Lieber Max,« sagte er, »außer vielen anderen Arten des Schmerzes, die ich mit Stillschweigen übergehe, gibt es einen traurigen Schmerz: diesem bist Du verfallen. Dann gibt es einen bittern Schmerz, und diesen fühle ich. Ich möchte wohl tauschen, aber Dir rathe ich: tausche nicht. – Adieu, Du wirst mich doch in meiner Präfectur besuchen? Du mußt mein Hans als das deinige betrachten; ich werde Dich ruhig weinen lassen, vorausgesetzt, daß Du mir erlaubst, nach Herzenslust zu lachen. Hast Du Feuer bei Dir? ich möchte meine Cigarre anzünden. – Entschuldige, ich hatte vergessen, daß Du nicht rauchst, Adieu.«
Er redete einen Arbeiter an, der eine Meerschaumpfeife rauchte, zündete seine Cigarre an und ging, mir noch einige Male zuwinkend, auf die Vorstadt Schaerbeck zu.
Ich sah ihm nach, bis ich ihn aus dem Gesicht verloren hatte.
Dann ritt ich weiter und dankte Gott« daß er mir keinen so profanen Schmerz geschickt hatte.
Drei Tage nachher war ich in Blankenberg.
Drei Monate blieb ich im Angesicht des Oceans, des unendlichen.
Täglich ging ich am Strande hin, zu einer Felsengruppe, an welcher einige Tage vor meiner Ankunft ein Schiff gescheitert war.
Die fünf Seeleute, welche sich am Bord befunden, waren umgekommen; die menschliche Maschine war zuerst vernichtet worden.
Der Rumpf des Schiffes war mit solcher Gewalt zwischen zwei Felsen geworfen worden, daß er festsaß.
Am ersten Tage, wo ich das gestrandete Schiff besuchte, hatte es noch einen Mast, das Bugspriet und den größten Theil des Takelwerks. Aber es war Winter und das Meer immerfort unruhig; das Schiff verlor daher täglich etwas von seinem Takelwerk. Heute war’s eine Segelstange, morgen ein Mast, übermorgen das Steuerruder. Wie ein Rudel Wölfe einen Leichnam anfällt, so wälzten sich die Wogen auf das Wrack und rissen ein Stück davon ab,
Bald war das Schiff völlig abgetakelt. Nach dem Oberwerk wurde das Unterwerk abgerissen; die Planken wurden zertrümmert, dann sprang das Verdeck in Stücke, dann wurde das Hintertheil von den Wellen weggespült, endlich verschwand das Vordertheil.
Lange noch hing ein Stück des Bugspriets an seinem Tauwerk fest.
Endlich in einer stürmischen Nacht rissen die Taue, und der Mast würde von den Wellen fortgerissen.
Die letzte Spur des Schiffbruches war unter dem sich immer wiederholenden Andrang der Wogen, unter dem gewaltigen Flügel des Windes verschwunden.
Ach, lieber Freund, ich mußte mir selbst gestehen, daß, es mit meinem Schmerz ebenso ging, wie mit dem gescheiterten Schiffe, von welchem täglich ein Stück losgerissen und in das unendliche Weltmeer getrieben wurde. Endlich kam die Zeit, wo äußerlich nichts mehr sichtbar blieb, und wie an der Stelle, wo das Wrack auf den Klippen festgesessen, nur noch diese Klippen geblieben waren, ebenso blieb da, wo mein Schmerz nach und nach verschwunden war, nur ein Abgrund zurück.
Wer sollte diesen Abgrund ausfüllen? Ob wohl die Freundschaft genügen würde oder ob es nur die Liebe vermochte?
Ich kehrte nach Frankreich zurück.
Mein nächstes Reiseziel war das Schloß Frières. Als ich die Reihe geschlossener Fenster, als ich das Zimmer, wo meine Mutter gestorben war, das Grab« in welchem sie ruhte, wiedersah, fand ich die Thränen wieder, die ich versiegt geglaubt.
In den ersten Tagen durchlebte ich noch einmal alle Stadien meines früheren Schmerzes.
Man zeigte mir an der Mauer das Erinnerungszeichen an Ihren Besuch. Ich erkannte Sie, obgleich Ihr Name nicht darunter stand.
Ich hatte meinem Schmerz zu viel zugetraut, als ich wieder nach Frières kam; er war nicht mehr stark genug, um zu bleiben: ich fühlte, daß diese ehrwürdige Stätte für mich dasselbe werden würde, was die Kirche für den Priester. Ich gewöhnte mich daran.
Ich fühlte das Bedürfniß, diesen Wohnort, von welchem ich mich vor vier Monaten kaum loszureißen vermochte, zu verlassen.
Statt mit Thränen zu scheiden, ging ich mit trockenen Augen, aber mit gepreßtem Herzen fort.
Ich hatte geglaubt, daß ich Paris nie wiedersehen würde, und nun ging ich aus freiem Antriebe dahin.
In Paris fand ich das gleiche bunte, fieberhaft bewegte, sorglose, selbstsüchtige Leben, welches zwischen den Zähnen dieses sich unaufhörlich drehenden, in das Weltgetriebe eingreifenden Riesenrades Alles zermalmt, den Besitz, die sociale Stellung der Menschen, die Throne und Dynastien. Das öffentliche Leben wurde von scandalösen Prozessen durchzuckt; überall hörte man die Namen Teste, Praslin, Villefort.
Ich weiß nicht, ob ich durch meine Abwesenheit, durch meinen Schmerz, durch meine lange Einsamkeit, durch meinen Aufenthalt am Ocean eine gewisse Sehergabe bekommen hatte, aber ich glaubte in diesem moralischen Chaos etwas Dunkles, unergründliches, eine politische Sündflut zu sehen, in welcher eine ganze Epoche untergehen müsse.« Ich sah im Geiste das große stattliche Schiff, welches den Namen »Frankreich« führt, mit ausgespannten Segeln auf offenem Meere; der Himmel war heiter, keine Klippen zeigten sich in der Nähe, aber das Schiff versuchte unaufhörlich gegen Wind und Strömung zu fahren; ich sah am Steuerruder den mürrischen Lootsen, den ernsten Geschichtschreiber, den starren fühllosen Mann, dem ein altersschwacher, verblendeter König die Lenkung des Schiffes anvertraut hatte – und dachte an die wahren Worte, welche der Herzog von Orleans einst zu mir gesprochen: »Dieser Mann legt uns beißende Senfpflaster auf und wir brauchen erweichende Umschläge!«
Der kluge, einsichtsvolle Prinz hatte Recht gehabt: Herr Guizot legte der französischen Nation, deren Nervensystem schon überreizt war, Senfpflaster auf.
Ich war ganz erstaunt über dieses Phantasiegebilde. Hätte der Herzog von Orleans noch gelebt, ich wäre zu ihm gegangen und hätte ihn gefragt: »Habt ich mich geirrt? Sehen Sie nicht auch, was ich sehe?
Aber er ruhte in seiner Familiengruft zu Dreux; er wenigstens war sicher, aus dem ihm so theuren Frankreich nicht verbannt zu werden.
Mich kümmerte es nicht, ich nahm an nichts mehr Theil.
Ich dachte an zwei Freunde: an Sie und an Alfred de Senonches.
Sie waren eben mit der Gründung eines Theaters beschäftigt und dies gab Ihren Gedanken eine von den meinigen ganz verschiedene Richtung.
Vom künstlerischen Standpunkte betrachtet, war Ihr Unternehmen gut und schön, ich wollte Sie dabei nicht stören.
Ich erkundigte mich nach Alfred de Senonches; er war Präfect in Evreux.
Die Normandie war mir eben recht mit ihren schönen schattigen Wäldern, mit ihren klaren Bächen und grünen Triften.
Ueberdies hatte ich dort Gelegenheit, ein krankes Herz zu studiren, zu trösten, vielleicht zu heilen.
Ich beschloß nach Evreux zu reisen.
Als Gast wollte ich indeß nicht zu meinem Freunde kommen; ich wollte ihn auf der Durchreise besuchen, das Uebrige sollte von der Aufnahme abhängen, die ich bei ihm finden würde. Wenn ich nicht mit ihm zufrieden war, wollte ich weiter reisen.
Eines Morgens kam ich auf die Präfectur. Ich fragte nach dem Herrn Präfecten.
Man antwortete mir« der Herr Präfect habe ungeheuer viel zu thun und lasse Niemand vor.
Ich antwortete, es sey keineswegs meine Absicht, ihn zu stören, ich sey ein Freund von ihm und auf der Durchreise. Der Amtsdiener entschloß sich endlich, meine Karte zu übergeben.
Einige Secunden nachher ging die Thür auf.
Es war Alfred de Senonches in eigener Person. Er schob den Amtsdiener auf die Seite und nannte ihn einen Einfaltspinsel, weil er mich nicht erkannt hatte.
»Sie hätten doch an der Haltung dieses Herrn, an dem Schnitt seines Fracks, an der Form seiner Karte erkennen sollen, daß dieser Herr kein Beamter meines Verwaltungsbezirkes ist, und daß es mir folglich sehr angenehm seyn würde, ihn zu empfangen. Derlei Versehen dürfen Sie künftig nicht mehr machen.«
Er schlang einen Arm um meinen Hals und zog mich in sein Cabinet.
»Da bist Du ja!« sagte er, »Ich habe Dich schon lange erwartet, aber heute glaubte ich das Vergnügen nicht zu haben. Du kommst wie gerufen, lieber Max; der Generalrath ist heute versammelt, morgen tractire ich alle hervorragenden Persönlichkeiten des Departements de l’Eure. Wenn Du dummen Stolz, maßlose Eitelkeit, eingebildete Hohlköpfe suchst, so lösche deine Laterne aus, Diogenes, Du hast deine Leute gefunden.«
»Ich glaube vielmehr,« erwiederte ich, »daß ich sehr zur Unzeit gekommen bin und daß ich Dich belästige. Du hattest Befehl gegeben, Niemand vorzulassen, Du hattest Dich eingeschlossen und dachtest an die uns bedrohenden schweren Ereignisse —«
»Ich! Lieber Freund, warum soll ich an solche Dinge denken? Ich habe zwanzigtausend Francs Renten in Grundstücken, die mir durch kein Ereigniß, wie schwer es auch sey, genommen werden können. Ich bin zum Garcon geboren, habe als Garcon gelebt und werde wahrscheinlich als Garcon sterben. Eine Geliebte hatte mich betrogen und ich hätte mir aus Verzweiflung fast eine Kugel durch den Kopf gejagt; denke Dir das Unglück, wenn’s meine Frau gewesen wäre. Sie hätte dann freilich eine gute Entschuldigung gehabt, sie würde gesagt haben: Ich konnte Dich nicht verlassen! Die Andere hatte eben denselben Grund, aber es ist ihr nicht eingefallen, ihn geltend zu machen. Die Weiber sind so launenhaft! – Aber was wolltest Du sagen? Ich habe es ganz vergessen.«
»Ich sagte, Du hattest Dich eingeschlossen und Befehl gegeben, Niemand Vorzulassen —«
»Ja richtig« ich hatte mich eingeschlossen und Befehl gegeben, Niemand vorzulassen, um – den Küchenzettel auf morgen zu machen.«
»So! den Küchenzettel?«
»Ja wohl. Ich nehme mir um meiner selbst willen die Mühe und nicht wegen der plumpen Kinnladen, die ich zu Tische haben werde. Wer zu der politischen Schule eines Romieu und Véron gehört, hat in Bezug auf die Befriedigung des Magens eine gewisse moralische Verantwortung; wer Courchamps und Montron gekannt hat, steht natürlich in dein Ruf eines Feinschmeckers. Ich werde den Generalräthen ein Diner geben, welches dem Schmause Monte-Cristo’s zu Auteuil nicht nachstehen soll – bis auf die Störe aus der Wolga und die Vogelnester aus Indien. Als ich die diplomatische Laufbahn verließ, um in das Verwaltungsfach zu treten; als ich mir dachte, dass ich ungeachtet meiner Intelligenz noch zehn bis zwölf Jahre dienen müßte, um Gesandter in Baden oder Geschäftsträger in Rio Janeiro zu werden, daß ich als Präfect hingegen leicht Deputirter werden und es als Deputirter leicht sehr weit bringen könnte: da wurde ich lieber Präfect. Und als ich hier installirt war, ließ ich mir von meiner würdigen Mama ein sehr werthvolles Geschenk machen – nicht etwa mein Erbtheil, Gott behüte! mein Geld ist in ihren Händen besser aufgehoben als in den meinigen – nein, ich ließ mir ihren Koch schenken. Zum Glück, lieber Max, hatte ich mich der Diplomatie bereits zehn Jahre gewidmet; wenn man mir die Aufgabe stellte, England zur Herausgabe Schottlands an die Stuarts, Rußland zur Zurückgabe Kurlands an die Familie Biron, Preußen zur Anerkennung der Rheingrenze zu bewegen, ich würde es durchsetzen; aber nie würde ich die Eroberung Bertrand’s zum zweiten Male unternehmen.«
»Bertrand heißt der große Mann?«
»Ja, lieber Freund; wenn er einmal bei guter Laune ist, will ich Dich ihm vorstellen. Merke Dir als Reiseerinnerung eine bisher unbekannte Speise und gib ihm das Recept dazu. Bertrand denkt wie Cambacéres: wer eine neue Speise erfindet, steht bei ihm in höherem Ansehen als der Entdecker eines neuen Sternes; denn Sterne, meint er, gäbe es ohnedies schon genug, und die neuentdeckten könnten gar nichts nützen.«
»Bertrand ist ein großer Philosoph.«
»Ein unvergleichlicher Mensch, lieber Max. Ich kann von ihm sagen was Ludwig XIII. in »Marion Delorme« von Langely sagt: »wenn ich ihn nicht hätte, um mich ein bischen zu unterhalten —« aber zum Glück habe ich ihn; morgen wirst Du seine Speisen kosten. Was gedenkst Du inzwischen zu thun?«
»Lieber Freund, ich wollte Dich nur auf der Durchreise begrüßen und dann weiter reisen.«
»Wohin?«
»Das weiß ich wirklich nicht.«
»Du lügst, Max; Du bist jetzt in dem Stadium des Schmerzes, wo man Zerstreuung braucht. Du hast an mich gedacht und bist zu mir gekommen; ich danke Dir dafür. Aber sey nur ruhig«,die Zerstreuung soll nicht toll seyn, sie soll an die noch ein bischen stumpfen Winkel deines Schmerzes nicht anstoßen; denn ich sehe wohl, die spitzen Winkel sind verschwunden. Jeder Schmerz vergeht, wenn auch langsam; ein großes Unglück vergißt man nicht, aber man gewöhnt sich daran. Du kennst ja die Worte, welche Shakespeare dem Claudius, der Hamlet zu trösten sucht, in den Mund legt:
Doch denkt, auch eurem Vater starb ein Vater,
Dem seiner, und dem Ueberlebenden
Gebot die Pflicht des Kindes gleichenfalls,
Ihn zu betrauern für die nächste Zeit.
Hier, lieber Max, wirst Du eine ernste Zerstreuung finden, die der Langweile so ähnlich ist, daß man ein scharfer Beobachter seyn muß, um zu bemerken, daß es nur die Schwester derselben ist. Und wenn Dir diese Zerstreuung nicht mehr genügt, so gehst Du fort und suchst Dir eine andere, die mit deiner Herzensstimmung im Einklange ist. Sey ruhig, wenn Du es nicht bemerkst, so will ich Dich aufmerksam machen, ich werde es gewiß bemerken, ich bin Schmerzensarzt.«
»Warum curirst Du Dich selbst denn nicht, armer Freund?«
»Lieber Max, Du weißt ja, daß Lännec, der das beste Werk über die Brustkrankheiten geschrieben, an der Lungensucht gestorben ist. Jetzt verlange ich nicht von Dir zu hören, ob ich Recht oder Unrecht habe, ich sage Dir ganz einfach: ich habe eine halbe Stunde von hier an der Eure ein sehr hübsches Landhaus, das ich gegenwärtig gemiethet habe, aber in der nächsten Revolution kaufen werde; ich fahre jeden Abend hinaus, und da ich Dich schon erwartet hatte, so findest Du einen Pavillon zu deinem Empfange eingerichtet.«
Er klingelte. Ich wollte eine Einwendung machen, aber er winkte mir Stillschweigen zu.
Der Amtsdiener erschien.
»Lassen Sie das Pferd anspannen,« sagte der Präfect zu ihm, »und sagen Sie Georges, er soll diesen Herrn nach Reuilly fahren; um fünf Uhr soll er zurückkommen, um mich zu holen.«
Der Amtsdiener entfernte sich.
»Dann ist mein Tagewerk Vollbracht,« setzte Alfred hinzu.
»Und was hast Du bis fünf Uhr zu thun?«
»Vor Allem, lieber Max, muß ich den Küchenzettel fertig machen. Dies ist die Hauptsache – und die erste wirklich bedeutende Arbeit, die ich seit meiner Ernennung zum Präfecten zu machen habe; ich darf sie natürlich nicht vernachlässigen.«
Fünf Minuten nachher war ich auf der Straße nach Reuilly.