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Erster Teil
VIII

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Ich begab mich wieder nach Evreux oder vielmehr in das Schloß -Reuilly.

Meine Abwesenheit hatte beinahe sechs Tage gedauert und Alfred von Senonches war von meiner Abreise nicht einmal in Kenntniß gesetzt worden.

Ich war so heiter und vergnügt, daß er mich erstaunt ansah.

»Du Glücklicher!« sagte er.

Ich antwortete nicht, ich wollte weder läugnen noch gestehen, daß ich glücklich war.«

»Ich weiß im Voraus, setzte er hinzu, »daß Du heute nicht mit mir nach Evreux kommen wirst.«

»Warum nicht?« fragte ich.

»Weil die Einsamkeit für Dich Bedürfniß ist, lieber Freund. Du sehnst Dich nach dem Rauschen der Bäume, nach dem Plätschern des Wassers, nach den durch das Laub dringenden Sonnenstrahlen. Mit diesen schönen Dingen habe ich nichts mehr zu thun und ich überlasse sie Dir zu meinem größten Bedauern. Ergehe Dich in deinen Träumen, verirre Dich in deinem Paradiese, Du Glücklicher; ich will dem Vaterlande nützliche Dienste leisten, ich will auf meinem Kanzleipapier schreiben; unterdessen schreibe Du auf deinem rosafarbenen Papier.«

Ich antwortete nicht, ich schloß ihn in meine Arme.

»Aha! Du bist noch mehr bei den Engeln, als ich glaubte,« sagte Alfred. »Und wenn ich mir denke, daß es eine Zeit gab, wo ich dem Wunsche, einen Freund zu umarmen, nicht widerstehen konnte, wo ich die Menschen meine Brüder nannte, wo ich alle Blumen des Paradieses hätte Haben mögen, um sie der Geliebten zu Füßen zu legen« – er lachte laut – »zum Glück ist jene Zeit vorüber. Wandle im Schatten der Buchen, träume und seufze; ich überlasse Dir Reuilly und gehe auf meine Präfectur.«

Alfred de Senonches warf sich in seinen Tilbury, nahm seinem Diener die Zügel ab, hieb auf sein Pferd ein und fuhr im Galopp davon.

Er ließ mich allein in der Einsamkeit des Parkes unter den hohen Bäumen, an dem silberklaren Strome – in der schönen Natur, der wahren Freundin der Menschen, der Glücklichen wie der Unglücklichen, die sich ihres Glückes freut, an ihren Leiden theilnimmt.

Sobald Alfred fort war, ging ich in den Park und suchte den einsamsten, schattigsten Ort auf, um mich wie ein Schüler in den Ferien in’s Gras zu legen.

Wie lange ich dort gelegen bin, weiß ich nicht; endlich erschien Georges und entriß mich meinen Träumereien.

Ich sah mich um.

»Entschuldigen Sie, daß ich Sie störe,« sagte Georges; »der Herr Pfarrer von Reuilly wünscht Sie in Abwesenheit – des Herrn Präfecten zu sprechen.«

Ich bemerkte wirklich den Pfarrer, der einige Schritte hinter dem Bedienten stand und den Hut in der Hand hielt.

Nichts rührt mich so sehr wie die Demuth bei einem Geistlichen, denn es ist eine Tugend seines Berufes, und es ist selten, daß der Mensch die Tugend seines Berufes ausübt.

Ich stand schnell auf, nahm meinen Hut ab und ging auf ihn zu.

Er war ein Mann von etwa vierzig Jahren. Seine Züge hatten einen sanften, wehmüthigen Ausdruck, seine Gesichtsfarbe war blaß und etwas kränklich. Er hatte große schwarze Augen und schöne weiße Zähne.

»Verzeihen Sie, daß ich Sie gestört habe,« sagte er mit sanfter Stimme; »aber Ihr Freund hat mich ein für allemal ersucht, zu jeder Stunde zu ihm zu kommen, wenn es sich um ein Werk der Wohlthätigkeit handle.«

»Daran erkenne ich meinen Misanthropen,« erwiederte ich lachend, und ersuchte den Pfarrer sich zu bedecken.

Aber er erwiederte wehmüthig lächelnd:

»Ich komme im, Namen der Armen und muß daher demüthig seyn, wie die, in deren Namen ich erscheine.«

Er bat mich seinerseits, meinen Hut aufzuseßen.

»Sie kommen im Namen Gottes,« antwortete ich, »es schickt sich daher für mich, vor Ihnen unbedeckt zu bleiben.«

»Ein kleiner, von sehr armen Leuten bewohnter Weiler,« fuhr der Pfarrer fort, »ist in Folge der Unvorsichtigkeit eines Kindes abgebrannt. Die nun in Trümmern liegenden Hütten, die nicht einmal einen Namen haben, sind kaum eine halbe Stunde von hier entfernt. Man hat eine Sammlung veranstaltet; Jedermann steuert nach Kräften bei; Gott sieht ja auf die gute Absicht und nicht auf die Größe der Gabe.«

Er zog ein Papier aus der Tasche. Es standen schon einige Unterschriften darauf.

Ich nahm zehn Louisd’or ans meiner Börse.

»Herr Pfarrer,« sagte ich, »hier ist meine Gabe. Haben Sie die Güte, mir Ihre, Liste hier zu lassen; mein Freund wird gewiß auch einen Beitrag zeichnen.«

»Es gehört zu den trostreichen Dingen in dieser Welt,« sagte der Pfarrer, »daß Gott den Reichthum oft in würdige Hände legt. Wenn ich noch zehn oder zwölf mildthätige Herzen fände, wie das Ihrige, so würden die armen Leute mehr wieder bekommen, als sie verloren haben.«

»O! Sie werden sie finden,« erwiederte ich, »zweifeln Sie nicht daran.«

Er verneigte sich, um sich zu entfernen.

»Ich werde Sie mit Ihrer Erlaubniß bis an’s Schloß begleiten,« sagte ich.

»Ich möchte Sie nicht bemühen —«

»Ich gehe in die Stadt.«

»Wenn das ist, nehme ich Ihre Begleitung mit Vergnügen an.«

Und da er seinen Hut nicht wieder aussetzen wollte, so gingen wir mit dem Hut in der Hand neben einander.

Vor der Thür fragte er mich:

»Wann erlauben Sie mir diese Liste wieder abzuholen? Ich sammle selbst die milden Gaben, und Ihre Freigebigkeit wird Andere vielleicht ebenfalls zur Freigebigkeit aneifern; von guten Beispielen erwarte ich viel.«

»Sie wollen nicht sagen: von der Eitelkeit und dem Stolz, Herr Pfarrer.«

»Ich sehe nur was man mir zeigt; Gott allein vermag die Herzen zu ergründen.«

»Ich will Sie nicht noch einmal hierher bemühen; ich werde mir die Erlaubniß nehmen, Ihnen die Liste mit den von mir eingesammelten Beträgen noch heute zu überbringen. Ich weiß wohl, schnelle Hilfe ist doppelte Hilfe.«

Der Pfarrer empfahl sich; erst vor dem Gitterthor setzte er den Hut auf.

Der Mann hatte mir mit seinem anspruchlosen und doch würdevollen Wesen ungemein gefallen; man erkannte in ihm auf den ersten Blick einen würdigen Diener Gottes.

Ich ließ einspannen; eine halbe Stunde nachher war ich in der Präfectur.

Alfred war sehr erstaunt mich zu sehen.

»Was ist denn geschehen?« sagte er.

»Wenn man mich gefragt hätte, wer da klopfte, so würde ich an Dich nicht gedacht haben. Brennt’s etwa in Reuilly? Ich hoffe doch, daß Du Dich wegen einer solchen Kleinigkeit nicht incommodiren würdest.«

»Nein,« antwortete ich, »es brennt nicht in Reuilly, aber draußen im Weiler scheint’s gebrannt zu haben.

»Ja, ich habe davon gehört; es sind fünf bis sechs Häuser abgebrannt.«

»Was für ein Mann ist dein Pfarrer?«

»Wie? mein Pfarrer? Habe ich denn einen Pfarrer?«

»Ich meine den Pfarrer von Reuilly?«

»O! ein vortrefflicher Mann – wenigstens halte ich ihn dafür.«

»Er muß wohl ein braver Mann seyn, da Du ihm unbedingten Zutritt bei Dir gestattet hast.«

»Das ist wahr.«

»Er hat diese Erlaubniß benützt, er hat gesammelt.«

»Ja, für die Abgebrannten. Der würdige Mann ist brustkrank; so wahr ich in zwei Jahren Deputirter seyn werde, wird er in zwei Jahren nicht mehr leben. Und trotzdem wird er vielleicht dreißig bis vierzig Stunden zu Fuß machen, um für die Abgebrannten tausend Francs zusammenzubringen. Solche aufopfernde Tugend bewundere ich, und nicht die dünkelhafte Mildthätigkeit unserer Excellenzen.«

»Ich widme ihr ebenfalls meine aufrichtige Bewunderung; ich habe nicht nur mein Schärflein beigesteuert, sondern auch eine Gabe von Dir versprochen.«

»Wie viel hast Du gegeben?«

»Zehn Louisd’or.«

»Aber Du ruinirst Dich!«

»Wie so?«

»Du wirst gewiß der Freigebigste im ganzen Departement seyn; aber der Präfect muß doppelt so viel geben wie der Freigebigste. Hier sind zwanzig Louisd’or. Ein andermal, Freund« ziehe meine Börse zu Rathe, und nicht die deinige, wenn Du wieder freigebige Anwandlungen bekommst.

Ich stand auf.

»Du willst schon gehen?« fragte Alfred.

»Ja, ich habe Vollmacht von dem Pfarrer und will ein gutes Haus in Contribution setzen. Diesen Abend bei Tisch sehen wir uns wieder.

Soll ich den Pfarrer einladen?«

»Lade ihn ein, aber er wird es ablehnen.«

»Warum denn?«

»Du weißt ja, daß er kränklich ist; er hält strenge Diät.«

»Das thut mir leid. Ich fürchte, daß ich gezwungen seyn werde, einen andern Abbé zu hassen, und es wäre mir gar nicht unlieb, diesen als Ersatz recht lieb zu haben.«

Ich verließ Alfred und stieg in mein Coupé.

»Zu Herrn von Chambray!« rief ich dem Kutscher zu.

Sie errathen, lieber Freund, warum ich dem Pfarrer die Liste abgenommen hatte.

Ich hatte darin sogleich einen schicklichen Vorwand zu einem Besuche bei Frau von Chambray gefunden.

Ich ließ fragen, ob Herr von Chambray zu Hause sey. Herr von Chambray war in Alencon.

Ich ließ fragen, ob Frau von Chambray sichtbar sey. Der Diener kam zurück und führte mich in den Solon.

Madame ließ mich ersuchen, einige Secunden zu warten. Ich sah mich um: prächtige Spiegel, schön verzierter Camin, weiche Teppiche, bequeme elegante Fauteuils und Sophas; kurz, ich sah, daß ich mich in einem reichen Hause befand.

Während ich den Solon musterte, that sich die Thür auf und Frau von Chambray erschien.

Sie trug ein kleines Spitzentuch unter dem Kinn zusammengebunden, und im Haar eine Narzrisse, weiß und bleich, wie ihr Gesicht.

»Entschuldigen Sie, Madame, daß ich mir die Freiheit nehme,« sagte ich mit mühsam behaupteter Fassung. »Ich hatte nach Herrn von Chambray gefragt, und man antwortete mir, er sey verreist; da erkühnte ich mich zu fragen, Sie sichtbar wären. Ich hoffte nicht, daß Sie die Güte haben würden, mich zu empfangen.«

»Es macht mir viel Vergnügen,« erwiederte sie; »denn seit unserer Unterredung habe ich mir mehr als einmal Vorwürfe gemacht, daß ich Ihnen nicht im Namen der Familie, der sie die Ruhe und Zufriedenheit wieder gegeben, gebührend gedankt habe. Nehmen Sie Platz und sagen Sie mir, was Sie von meinem Manne wünschten – wenn es sich nemlich zur Mittheilung an die Frau eignet.«

»Ich gestehe Ihnen aufrichtig, Madame, antwortete ich »daß ich nur aus Anstandsrücksichten nach Herrn von Chambray fragte; ich wünschte eigentlich Sie zu sprechen.«

Sie sah mich betroffen an.

»Oder wenn ich mich eines andern Ausdruckes bedienen soll, Madame,« setzte ich hinzu: »eine Geschäftssache führt mich zu Ihnen.«

Sie verneigte sich lächelnd.

»Als Sie mir gütigst erlaubten, Madame, etwas für Ihre Schützlinge zu thun, hatte ich die Ehre Ihnen zu sagen, daß ich an Sie denken würde, sobald sich die Gelegenheit zu einem guten Werke bieten würde —«

Sie stutzte.

»Diese Gelegenheit hat sich dargeboten, Madame. Ein kleines Dorf in der Nähe ist abgebrannt; der Pfarrer von Reuilly, der eine Sammlung für die Abgebrannten veranstaltet, kam diesen Morgen in das Landhaues meines Freundes Alfred von Senonches; Alfred war nicht zu Hause, ich nahm dem Pfarrer die Liste ab, übergab ihm mein Schärflein, eilte in die Präfectur, um Alfreds Gabe in Empfang zu nehmen, und komme jetzt zu Ihnen, um eine Beisteuer zu erbitten.«

Die zuvor sehr blassen Wangen der jungen Dame bedeckten sich mit einer lebhaften Röthe; sie schien zu zittern und wischte sich einige Schweißtropfen von der Stirn.

Aber plötzlich lächelte sie und zog einen Brillantring vom Finger.

»Hier ist meine Gabe,« sagte sie aufstehend.

Ich sah sie erstaunt an.

»Sie verweigern die Annahme?« fragte sie.

»Nein« Madame,« antwortete ich; »aber ich verstehe Sie nicht, dieser Ring ist fünfhundert Francs werth, ohne die Arbeit, die, wie es scheint, von Froment Meurice ist.«

Sie antwortete nicht und hielt mir fortwährend den Ring hin.

»Ich wollte Sie nur um eine kleine Gabe bitten,« setzte ich hinzu, »um ein Almosen, wie man es in die Büchse einer Sammlerei legt – einen Louisd’or zum Beispiel.«

Sie lächelte mit Wehmuth. Lieber Freund, dieses Lächeln werde ich nie vergessen!

»Herr von Villiers,« sagte sie, »einem Manne wie Sie sind kann man Alles sagen: einem Herzen wie das Ihrige kann man Alles anvertrauen.«

»Reden Sie« Madame.«

»Es gibt Augenblicke, wo es einer Frau, die über ihr Vermögen nicht verfügen kann, leichter ist einen Ring zu geben im Werthe von fünfhundert Francs – als einen Louisd’or.«

Sie ließ den Ring in meine Hand gleiten und verließ das Zimmer.

Ehe sie die Thür geschlossen hatte, hörte ich sie schluchzen.

Ich sah mich noch einmal im Salon um und war fast« entsetzt über den darin herrschenden Luxus.

»O mein Gott!« sagte ich, »ist es möglich, daß eine Frau, die ihrem Manne zwei Millionen Heirathsgut zugebracht, nach vierjähriger Ehe nicht einmal einen Louisd’or für Abgebrannte zu geben hat? Ach, eine solche Frau ist ärmer, elender, beklagenswerther, als die, für welche ihre Mildthätigkeit in Anspruch genommen wird.«

Ich drückte den Ring an meine Lippen und eilte aus dem Salon. Ich mußte in’s Freie, ich glaubte zu ersticken.

Und sie hatte sich in allen ihren Briefen an Josephine Gauthier nicht beklagt, sie hatte ihr zu verstehen gegeben, daß sie glücklich sei!

Sie mußte ein Engel seyn.

* * *

Denselben Abend brachte ich dem Pfarrer von Reuilly tausend Francs: vierhundert im Namen Alfreds, sechshundert im Namen der Frau von Chambray.

Diese sechshundert Francs waren der Werth des Ringes nach der Schätzung des ersten Juweliers in Evreux.

So sey es

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