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1. Einleitung: Triumph des Wissens

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Würde man die Frage gestellt bekommen, in welcher Gesellschaft wir denn heute eigentlich leben, dürfte man mit einiger Sicherheit als Antwort erwarten: in der Wissensgesellschaft. Mit dieser Diagnose verbindet sich die Vorstellung, dass sich seit einigen Jahrzehnten ein gesellschaftlicher Strukturwandel vollzieht, der ähnlich bedeutsam ist wie der Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft vor über 200 Jahren. Wissen, so die Erwartung, wird zur zentralen Triebfeder technologischer Innovation und wirtschaftlichen Wachstums und damit zum Garanten allgemeinen Wohlstands, kurz: zur zentralen Ressource spätmoderner Gesellschaften, wichtiger noch als Arbeit, Bodenschätze oder Kapital.

Klassische Beschreibungen der Wissensgesellschaft haben vor allem die Stabilisierungswirkung des Wissens, insbesondere wissenschaftlichen Wissens, hervorgehoben.1 Tatsächlich trägt Wissenschaft mittels Durchsetzung eines rationalistischen Weltbildes zur Stabilisierung der sozialen Ordnung bei, sorgt sie doch dafür, dass die Menschen – gleich welcher Klasse, Schicht oder Hautfarbe – in derselben Welt leben. Schließlich beziehen sie sich – wenngleich mit oftmals unterschiedlichen Absichten – auf dieselbe von der Wissenschaft entwickelte Infrastruktur von Fakten, Relevanzen und Evidenzen. Damit ergibt sich auf der Wissens- bzw. epistemischen Ebene ein Zusammenhalt, der – Stichwort Klassengesellschaft – auf sozialer Ebene fehlt.

Unsere Weltanschauung basiert auf Einsichten der Wissenschaft, und mit dem Siegeszug der modernen Wissenschaft etablieren sich neue Anforderungen an Logik, Vernunft und Konsistenz, die längst auch zur Richtschnur für unser alltägliches Denken und Handeln geworden sind. Versachlichung, Intellektualisierung des Lebens sowie die Vorherrschaft eines rechnerischen Kalküls: Schon Georg Simmel, einer der Gründerväter der Soziologie, hat dies als Kennzeichen der Moderne ausgemacht:

Der moderne Geist ist mehr und mehr ein rechnender geworden. Dem Ideale der Naturwissenschaft, die Welt in ein Rechenexempel zu verwandeln […] entspricht die rechnerische Exaktheit des praktischen Lebens […].2

Affekte und Leidenschaften haben natürlich auch weiterhin ihre Existenzberechtigung, aber nur in relativ eng abgezirkelten Bereichen. Wirklich ausleben können wir sie nur in Partnerschaft und Familie, ab und zu auch bei Sportveranstaltungen oder auf dem Oktoberfest.

In vielen gesellschaftlichen Bereichen jedoch stehen rationales Kalkül, Wissen und Expertise im Vordergrund. In der Politik wird wissenschaftliche Expertise als zentrale Legitimationsressource geschätzt, in der Wirtschaft gilt das Wissen (auch jenes der Konsumenten) als wichtigster Innovationsfaktor; in der Wissenschaft dreht sich sowieso alles um das Wissen, genauer gesagt: um die Produktion neuen Wissens, und im Bildungsbereich geht es nur am Rande um Persönlichkeitsentwicklung und soziales Lernen. Im Vordergrund steht die Vermittlung von (Lehrbuch-)Wissen. Entsprechend bildet (Experten-)Wissen die höchste Entscheidungsinstanz in vielen politischen Kontroversen. So stellt Wissen den wichtigsten Rohstoff gesellschaftlicher Reproduktion und sozialen Wandels in spätmodernen Gesellschaften dar.

Die Epistemisierung des Politischen. Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet

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