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Die Coronakrise

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Die Coronakrise im Frühjahr 2020 war eine Sternstunde für die Wissenschaft, und dies in mehrfacher Hinsicht. Zum einen führte uns das Coronavirus vor Augen, dass wir viele Gefährdungen ohne die Wissenschaft gar nicht erkennen, erklären und wirkungsvoll behandeln können. Ohne die moderne Wissenschaft wäre das Coronavirus für uns gar kein Virus, sondern eine dunkle Heimsuchung des Schicksals. Ohne die Wissenschaft gäbe es außerdem wenig begründete Hoffnung auf Heilung.

Auch im Hinblick auf den politischen Umgang mit Corona offenbarte sich die große Abhängigkeit der Gesellschaft von wissenschaftlicher Expertise. Der hilfesuchende Blick der vom Virus überraschten Politik richtete sich sofort auf Virologie und Epidemiologie. Die maßgeblichen Statements, Interviews und Podcasts kamen von den Virologen, die in der Krise fast schon als Popstars gehandelt wurden. Die Namen von Anthony Fauci (USA), Anders Tegnell (Schweden) oder Christian Drosten (Deutschland) waren in den Medien allgegenwärtig. Die Politik richtete ihre Strategien an den Warnungen der Experten aus. Sogar der damalige britische Premierminister Boris Johnson verwarf seine eigenwillige Strategie der Herdenimmunität, als Forscher Hunderttausende Tote prognostizierten, und erließ – viel zu spät, wie viele Experten bemängelten – einen Lockdown. Es ist darum nur folgerichtig, dass die deutsche Bildungsministerin Anja Karliczek mit Blick auf das Verhältnis von Wissenschaft und Politik am 1. April 2020 festhielt: »Wissenschaftliche Erkenntnisse leiten die Politik und leiten uns wie selten zuvor.«9

Das bedeutet aber: Der Primat der Wissenschaft bzw. der Medizin unterstützte in der Frühphase der Krise eine Politik der Alternativlosigkeit. Virologen klärten über Infektionsrisiken, Verdopplungszeiten und Reproduktionsraten auf und lieferten der Politik die Argumente für ihr Handeln. In den Talkshows wurde erklärt und informiert, nicht gestritten. Die Angst vor dem neuen Virus auf Grund der alarmierenden Bilder aus der Lombardei erzeugte Konsens in ungeahntem Ausmaß – das Parlament war als genuiner Ort für eine kontroverse Debatte nicht gefragt. Angesichts Tausender Toter in China und nur wenig später in Italien und Spanien bekam der Gesundheitsschutz bald überall oberste Priorität eingeräumt. Die kollektive Opferbereitschaft quer durch alle Bevölkerungsschichten sorgte dafür, dass kein grundsätzlicher Dissens in Bezug auf das übergeordnete Handlungsziel der Politik entstand, nämlich eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern und auf diese Weise ethisch heikle Fragen der Priorisierung medizinischer Hilfsmaßnahmen zu vermeiden.

Auf Grund des weitreichenden Konsenses konnte sich die Politik in den ersten Wochen auf das Administrieren beschränken. Konkret bedeutete das: Es ging vor allem darum, durch Ausgangsbeschränkungen und Versammlungsverbote die Ansteckungsrate zu reduzieren, mehr und schnellere Tests zur Verfügung zu stellen, ausreichend Schutzbekleidung und Atemmasken zu organisieren und die Kapazitäten in der medizinischen Intensivbetreuung zu erhöhen.

All das sind natürlich ernste Probleme, aber sie sind nur Probleme verwaltungstechnischer Art. Eine solch rein administrative Politik ist aber nur dann möglich, wenn Wertefragen außen vor bleiben. Wenn es, mit anderen Worten, einen breiten Wertekonsens gibt. Dann muss nur über die richtigen Mittel, nicht aber über den Zweck (wie etwa Gesundheitsschutz) debattiert werden.

Im Fall von Corona entwickelte sich jedoch bald eine Grundsatzkontroverse um die Verhältnismäßigkeit der angewendeten politischen Maßnahmen. Unter dem Eindruck der wirtschaftlichen Talfahrt kamen als Erstes ökonomische Fragen auf die Agenda. Nicht nur das Coronavirus könne tödlich sein, so die Anklage mancher Ökonomen. Auch Arbeitslosigkeit könne Leben verkürzen, und so wurden bald Coronatodesopfer gegen potentielle Opfer der globalen Wirtschaftskrise aufgerechnet. Das heißt, die eigentlich ökonomisch motivierte Kritik argumentierte mit den gesundheitlichen Folgen von Wirtschaftskrisen. Noch der Dissens bestätigte die Sonderstellung jenes Basiswerts (Lebensschutz), der dem politischen Krisenmanagement zugrunde lag.

Doch je länger der erste Lockdown andauerte, desto stärker fanden auch Vertreter anderer Disziplinen Gehör. Diese Erweiterung des Radius relevanter Expertise machte deutlich, dass Corona ein vielschichtiges Problem mit ökonomischen, psychosozialen und politischen Facetten darstellt, das man nicht allein im Rekurs auf medizinisches Fachwissen lösen kann. Der Deutsche Ethikrat beispielsweise drängte darauf, Werteaspekte sichtbar zu machen und prominent zu halten – ganz im Gegensatz zur Leopoldina, auf die sich Kanzlerin Merkel gerne berief. Der Ethikrat versuchte in seiner Stellungnahme dafür zu sensibilisieren, dass die Coronakrise eine Reihe normativer Konflikte heraufbeschwört, die keineswegs allein auf (natur-)wissenschaftlicher Grundlage entschieden werden können.10 Indem der Ethikrat die ökonomischen, psychischen und sozialen Folgekosten thematisierte, nahm er – gewollt oder ungewollt – der Coronapolitik ihren Anschein von Sachzwanghaftigkeit.

Bald entwickelte sich denn auch ein fundamentaler Wertekonflikt, der mit jeder neuen Coronawelle wiederkehren wird. Die Grundfragen lauten: Wie ist Lebensschutz gegenüber anderen Werten abzuwägen, z. B. mit individuellen Freiheitsrechten oder Partizipationschancen? Welches Maß an wirtschaftlicher Depression muss man hinnehmen, um Selektionszwänge im Gesundheitswesen zu vermeiden? Welche Lasten darf man Eltern und Kindern durch den brisanten Mix aus Homeschooling und Homeoffice zumuten?

Sobald sich derartige Wertekonflikte entwickeln, ist es mit dem Charme administrativer Politik vorbei. Dann bricht unausweichlich die Zeit der politischen Kontroversen an – also der demokratische Normalbetrieb. Im Kontext von Wertekonflikten erhöht sich die Autonomie der Politik; im Zusammenhang mit Wissenskonflikten hingegen lauert immer die Gefahr des Szientismus.

Die Epistemisierung des Politischen. Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet

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