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Der königliche Weg des Raja-Yoga

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Ein Haus bedarf fester Fundamente. Ohne die Grundregeln von Yama und Niyama zu praktizieren, die ein festes Fundament für den Aufbau des Charakters bilden, kann es keine einheitliche Persönlichkeit geben. Wenn man die Asanas ohne Yama und Niyama ausführt, sind sie nichts anderes als Akrobatik.

B. K. S. IYENGAR3

Yoga definiert sich als praktisch-methodischer und zugleich als psychologischer und mystischer Übungsweg, der seit Jahrtausenden hilft, verborgenes Potenzial im Menschen zu erkennen und zu entfalten. Die Philosophie des Yoga beinhaltet eine reichhaltige Sammlung von Empfehlungen, Techniken und ethischen Grundhaltungen, mit denen der Schüler durch Selbststudium und regelmäßige Übungspraxis schrittweise Erfahrungen auf seinem Weg sammelt. Ziel ist letztlich, den Suchenden seiner wahren Wesensnatur entgegenzuführen.

In einer Zeit von zunehmendem Stress, größer werdender Komplexität und ständig wachsenden Bedürfnissen bietet der Yoga Werkzeuge, die die Entwicklung von Gesundung, innerer Harmonie, geistiger Klarheit und friedvollen Beziehungen fördern. Seine Lehren sind dabei nicht auf eine bestimmte Erdregion, Menschengruppe, Religion oder ein bestimmtes Alter oder Geschlecht beschränkt. Der Wissens- und Erfahrungsschatz ist für jeden verfügbar und nutzbar. Was zählt, ist die eigene Bereitschaft, sich auf die Übungen und Philosophie einzulassen und diese umzusetzen.

Yoga blickt auf eine lebendige Tradition zurück, deren Anfänge im Mysterium der frühen Menschheitsgeschichte verschwinden. Niemand gilt als „Erfinder“, aber unter vielen schriftlichen Überlieferungen ragt ein Lehrer namens Patanjali hervor. Er verschlüsselte seine Erkenntnisse und Praktiken in einer Sammlung von 196 Versen, den Yoga-Sutras. Wann genau das geschah, ist unbekannt, aber manche Gelehrte datieren die Entstehung dieser Yogaschrift um etwa 200 Jahre vor unserer Zeitrechnung, also auf einen Zeitpunkt vor gut 2200 Jahren.

Patanjali beschreibt als ein Ziel des Yoga die Beseitigung allen Leidens. Als Weg dorthin empfiehlt er Ashtanga-Yoga, die achtblättrige Blüte des Yoga. Swami Vivekananda nannte diese Übungsmethodik Raja-Yoga, den königlichen Weg.

Abbildung 2: Raja-Yoga – Der königliche Yoga-Weg

Der achtgliedrige Aufbau beleuchtet die systematische Struktur des Raja-Yoga. Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund, egal ob Familienvater oder Eremit, können ihn gleichermaßen beschreiten. Patanjali verspricht Balance und Harmonie auf physischer, mentaler, energetischer und spiritueller Ebene – mit anschließender Verwirklichung und Entfaltung der innersten Persönlichkeit. Die Erkenntnis über das wahre Selbst wird nicht im Außen gesucht. Tief im Inneren vergraben, aber nicht hoffnungslos verschüttet, liegt ein verborgener Schatz, der durch aufrichtiges und ernsthaftes Üben des Raja-Yoga gehoben wird. Die Übenden werden Stufe für Stufe zum Samadhi geführt: einem Bewusstseinszustand, der in der Innenschau als „Eins-mit-Allem“ erlebt wird und der uns erkennen lässt, dass wir selbst Teil des kosmischen Bewusstseins sind.

Die einzelnen Stufen in der Übersicht:

1. Yamas sind fünf Empfehlungen hinsichtlich der inneren Einstellung und dem sozialen Verhalten zu anderen gegenüber. Sie fördern positive zwischenmenschliche Beziehungen in der Familie und der Gesellschaft. Ohne sie würden Auseinandersetzungen, Konflikte und Ablenkungen in einem Maße auftreten, die den Yoga-Weg massiv stören würden. Gewaltlosigkeit ist der Eckpfeiler und oberstes Gebot, auf dem jede soziale Interaktion mit anderen Lebensformen beruht. Die weiteren vier Yamas lauten: Wahrhaftigkeit, Nicht-Stehlen, sinnliches Maßhalten sowie Anspruchslosigkeit.

2. Niyamas beeinflussen unser Verhalten uns selbst gegenüber. Sie fördern die positive, zielorientierte Entwicklung einer erwachsenen Persönlichkeit und beschreiben eine innere Grundhaltung des Übenden, die nach Befreiung und Verminderung seines Leidens strebt. Die Niyamas umfassen Reinlichkeit, Zufriedenheit, Selbstdisziplin, Selbst-Studium sowie Hingabe (zum Göttlichen).

3. Asana bedeutet Körperhaltung; im populären Hatha-Yoga also physische Körperübungen, die Kraft, Flexibilität und Entspannung bewirken. Es wird unterschieden zwischen meditativen Körperhaltungen und Haltungen, welche die allgemeine Gesundheit fördern.

4. Pranayama beinhaltet Atem- und Energieübungen. Die „Wissenschaft vom Atem“ führt zu erhöhter Energie und Konzentration, verbunden mit gleichzeitiger Reinigung und Entgiftung des Körpers über die Atemwege.

5. Pratyahara reguliert eingehende Informationen, die als vielfältige Sinneswahrnehmungen in unseren Geist hineinströmen. Die Menge und die Qualität der empfangenen Eindrücke können die Ausgeglichenheit, Klarheit und Konzentration des Geistes beeinträchtigen. Mithilfe von Pratyahara können daher beispielsweise nicht förderliche Sinneseindrücke früher erkannt werden, wodurch einer Reizüberflutung Einhalt geboten werden kann.

6. Dharana – Konzentration. Diese Stufe ist nicht nur hilfreich auf spiritueller Ebene, sondern auf allen Ebenen des privaten und beruflichen Lebens. Sie hilft Aktivitäten schneller und fehlerfreier abzuwickeln und in den sogenannten „Flow“ zu kommen, indem wir mit einer Handlung vollständig verschmelzen. Stunden vergehen hierbei wie Minuten. In der Konzentration wird der zerstreute Geist gebündelt und durch bewusste Achtsamkeit zur Einpunktigkeit geführt.

7. Dhyana – Meditation. Sie ist das Ergebnis fortwährender, ununterbrochener Konzentration. Dharana macht den Geist einpunktig, klar und ruhig. Dhyana lässt eine Expansion des Geistes entstehen, über alle bewussten und unbewussten Ebenen hin zu Samadhi, dem überbewussten Zustand. Meditation erweckt inneres, intuitives Wissen und ist ein kraftvolles Instrument, den Alltag ruhiger und gelassener anzugehen.

8. Samadhi – kosmisches Bewusstsein und All-Eins-Sein. In diesem Zustand wird die Einheit mit dem höheren Selbst gefunden. Alle Begrenzungen werden überwunden – es gibt keine Fragen und keine Antworten mehr, da alle Polaritäten aufgehoben sind. Die Erfahrung dieses unbegrenzten Bewusstseins jenseits des Wachens, Träumens und Tiefschlafes ist das praktische und eigentliche Ziel des Yoga. Es ist das Ende aller Furcht, aller Wünsche, aller Fragen und allen Mangels.

Yamas und Niyamas bilden die ersten beiden Stufen auf der Treppe des königlichen Yoga-Weges. Für einen Yoga-Meister wie Iyengar wird durch sie das Fundament gegossen, auf dem das Haus des Yoga steht. Wie solche universellen Prinzipien ins Leben integriert werden und wie wir mit uns selber, mit anderen Wesen, der Umwelt und dem Planeten umgehen, hat entscheidende Bedeutung für die eigene, spirituelle Persönlichkeitsentwicklung. Auf dem Weg der Selbst-Transformation liegen viele mentale und körperliche Hindernisse, Ablenkungen und Zerstreuungen. Die Yamas und Niyamas halten die Konzentration aufs Wesentliche ausgerichtet und führen zu mehr individueller Zufriedenheit und Wohl-Sein (Well-Being).

In der Begeisterung für neue Asanas oder Atemübungen schenken Yoga-Übende manchmal diesen ersten beiden Schritten des Yoga-Weges weniger Beachtung. Aber Körper- und Energieübungen entfalten nur oberflächliche Wirkung, selbst wenn sie auf körperlicher und energetischer Ebene Gesundheit und Stressabbau fördern können.

Frieden sollte beispielsweise zuerst im Inneren aufblühen. Denn ist es sinnvoll, scheinbar perfekte und anspruchsvolle Körperhaltungen einzunehmen, wenn sie nicht mit Gewaltlosigkeit (Ahimsa, dem ersten Yama) praktiziert werden? Verletzungen könnten die Folge sein. Was nützt ein friedvoller und ausgeglichener Geist in dreißig Minuten Meditation, wenn wir den Rest des Tages auf den Mitmenschen herumtrampeln?

Unabhängig von den gewählten Methoden der Selbsttransformation sollte der Alltag so organisiert sein, dass persönliches Verhalten keine Störung oder existenzielle Bedrohung für irgendeinen Teil der Schöpfung hervorruft. Dazu dienen die zehn Lebensempfehlungen als essenzieller Teil eines „Yogic Lifestyle“. Sie entstressen das Leben, indem sie es vereinfachen. Durch sie entwickeln wir gesunde, heilsame und verantwortungsvolle Beziehungen sowie Respekt für uns und andere. Dadurch wird Liebe, Verständnis und Mitgefühl zu allem auf der Erde existierenden Leben geweckt. Ebenso finden wir die Kraft und Entschlossenheit, mit deutlichen Worten Missstände und notwendige Veränderungen anzusprechen.

Es ist kein leichtes Unterfangen, die gewonnenen Erfahrungen mit den Yamas und Niyamas in den Alltag zu integrieren. Trotzdem sollte das bisherige Leben nicht aufgegeben werden und weltliche Verpflichtungen, Bindungen und Freundschaften sollten nicht vernachlässigt werden. Ein Rückzug in Höhlen oder ins Schweigen ist nicht notwendig – im Gegenteil: Die unmittelbare Umgebung liefert ein mannigfaltiges Geflecht von Übungsmöglichkeiten. Anfangs fallen wir vielleicht in alte Gewohnheiten und Verhaltensmuster zurück. Wir ängstigen uns vielleicht, dass Mitmenschen unsere Bemühungen kritisieren und belächeln und nicht ernst nehmen könnten. Diese mangelnde Zustimmung sollte uns jedoch nicht entmutigen. Bevor beispielsweise Gewaltlosigkeit auf allen Ebenen perfekt praktiziert wird, werden wir bereits viele kleinere friedvolle Veränderungen an uns und unseren Mitmenschen wahrnehmen.

Die zehn Lebensempfehlungen des Yoga

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