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Kapitel 2:

Streit

Am Starnberger See, Frühjahr 2019

Geschickt drückte Jaron seinen Gegner auf die Matte und hielt ihn fest, bis er die Niederlage eingestand.

»Sehr gut!«, lobte der Kung-Fu-Coach, der den Zweikampf beobachtet hatte. »Jaron, du machst große Fortschritte.«

Jaron richtete sich auf und zog seinen Kampfanzug zurecht.

Sein Gegner stand auf, sie verbeugten sich und beendeten so den Kampf.

»Gut, die Stunde ist zu Ende, bitte alle zum Schluss versammeln!«, rief der Coach den Trainierenden zu, die sich über den ganzen Saal verteilt hatten.

Als das Training offiziell beendet war und die meisten schon in der Umkleide verschwanden, nahm der Coach Jaron beiseite. »Jaron, du hast dich sehr verbessert, seit du bei uns bist«, sagte er.

»Danke«, antwortete Jaron verlegen, aber auch ein wenig stolz.

»Ich wollte dich fragen, ob du nicht Lust hast, in die Leistungsgruppe zu kommen.«

»Echt?«

»Ja, du hättest dann zwei Mal die Woche Training und würdest regelmäßig an Wettbewerben teilnehmen können, sogar an überregionalen.«

Jaron freute sich. Seit er vergangenen Sommer an den Starnberger See gezogen war, hatte ihm das Training viel mehr Spaß gemacht als vorher. Der Coach war besser als sein alter Trainer in Köln und der hiesige Verein viel besser ausgestattet. Jaron hatte sich schon lange gewünscht, in die Leistungsklasse aufgenommen zu werden. Nun war es endlich so weit.

»Gerne!«, antwortete er schnell.

»In zwei Wochen steht sogar schon ein Wettkampf an. Wenn du willst, kannst du daran teilnehmen.« Der Coach griff in seine Sporttasche, zog einen Zettel hervor und reichte ihn Jaron. »Hier sind die wichtigsten Informationen drauf. Alles Weitere kann ich ja dann mit deinen Eltern per E-Mail klären.«

Jaron nickte und steckte den Zettel ein. Nachdem er sich vom Coach verabschiedet hatte, zog er sich um und stopfte seine Trainingskleidung in seine Tasche.

Als er aus der Sporthalle trat, wartete schon seine Mutter im Auto. Sie saß zurückgelehnt auf dem Fahrersitz und öffnete die Augen erst, als Jaron die Beifahrertür öffnete.

Sie lächelte ihm müde zu und startete den Motor, während er sich anschnallte. »Na, war es gut?«, fragte sie.

»Und ob!«, antwortete er. »Du wirst nie raten, was heute passiert ist: Mein Coach lädt mich in die Leistungsgruppe ein!«

Sie sah ihn an. »Das ist ja super! Herzlichen Glückwunsch, mein Schatz.«

»Er hat gesagt, dass ich voll die Fortschritte gemacht habe, seit ich im Verein bin.«

»Das ist toll, das freut mich für dich.«

»Ab jetzt habe ich zweimal die Woche Training. In zwei Wochen ist sogar schon ein Wettkampf. Da will ich unbedingt hin.«

»Klingt toll! Wo ist denn dieser Wettkampf?«

Jaron kramte den Zettel, den der Coach ihm gegeben hatte, aus der Tasche. »Warte kurz, das steht hier irgendwo – in der Nähe von Nürnberg. Man fährt gemeinsam mit einem Bus hin und übernachtet sogar. Es kostet 180 Euro.«

»180 Euro! Das ist aber viel! Wieso kostet das denn so viel?«

»Hier steht: Für Anmeldegebühr, Übernachtung, Verpflegung und Busfahrt.« Jaron warf seiner Mutter einen Blick zu. Sie sah heute Abend wirklich sehr müde aus. Jetzt presste sie die Lippen aufeinander und Jaron ahnte nichts Gutes.

»Hm«, sagte sie und räusperte sich. »Schatz, das ist schon ganz schön viel.«

»Ja, ich weiß«, murmelte Jaron.

»Im Moment habe ich einfach nicht so viel Geld. Der Umzug war ziemlich teuer, und ich muss noch eine Weile die Raten für die neuen Möbel zahlen.«

Enttäuschung und Ärger stiegen in Jaron auf. »Aber das ist eine einmalige Chance!«, protestierte er.

»Das glaube ich nicht«, meinte seine Mutter. »Es wird sicherlich auch noch Wettkämpfe hier in der Nähe geben, die dann nicht so teuer sind.«

»Und woher willst du das so genau wissen?«

»Jaron, wir können uns das einfach nicht leisten. Ich verdiene weniger als früher. Und hier unten in Bayern ist alles viel teurer«, sagte seine Mutter energisch.

»Das ist nicht fair.« Jaron runzelte die Stirn.

»Ich weiß, dass das nicht fair ist, aber glaubst du, ich mache das mit Absicht? Ich kann das Geld leider nicht herzaubern!« Jetzt klang sie richtig gereizt.

»War ja klar«, knurrte er.

»Was war klar?«

»Nichts.« Jaron verschränkte die Arme und sah zum Seitenfenster hinaus.

»Schatz«, sagte seine Mutter betont ruhig, »ich würde mir das für dich wirklich wünschen, aber im Moment geht es einfach nicht.«

»Ja, nichts geht im Moment«, äffte Jaron sie nach. »Nichts, kein neues Rad, kein Urlaub, kein Wettkampf, einfach nichts!« Er konnte seine Enttäuschung nicht mehr zurückhalten. »Immer muss ich auf alles verzichten. Darauf habe ich keinen Bock mehr! Wenn Papa da wäre, dann würde er mir das erlauben!«

Schon in dem Moment, als ihm diese Worte über die Lippen kamen, wusste er, dass er einen Fehler gemacht hatte, und es tat ihm leid.

Seine Mutter sah ihn nicht an, sondern runzelte nur die Augenbrauen.

Den Rest der Fahrt schwiegen sie.

Auch als sie an der Seeburg angekommen waren, sagte keiner etwas. Während seine Mutter das Auto zuschloss und noch einmal im Büro vorbeischaute, ging Jaron in sein Zimmer. Sie bewohnten zu zweit eine kleine Wohnung im Ostflügel der Burg. Eine steile Holztreppe führte zur Eingangstür, die sich zu einer zentralen Wohnküche öffnete. Das Fenster in Jarons Zimmer ging auf den Innenhof der Burg.

Nachdem er seine Tasche abgelegt und seine Trainingssachen verstaut hatte, ging er unter die Dusche. Müde vom Training setzte er sich dann auf seinen Schreibtischstuhl und rubbelte seine Haare trocken. Sein Blick fiel auf den Bilderrahmen, der dort zwischen Schulheften, Büchern und den Flugzeugmodellen stand, an denen er gerne bastelte, wenn er alleine war.

Das Foto im Rahmen war acht Jahre alt. Es zeigte seinen Vater, Thomas Rahn, während eines Urlaubs, den sie an der Nordsee verbracht hatten. Jaron selbst, vier Jahre alt, saß auf den Schultern seines Vaters und lachte über das ganze Gesicht. Die Sonne schien beiden in die Augen.

Auch Thomas Rahn lächelte glücklich, während er seinen Sohn an den Händen festhielt. Der Wind hatte ihm das Haar zerzaust, seine Haut war gebräunt. Im Hintergrund war der Himmel so blau, dass er fast gefärbt wirkte. Auf einem grünen Deich waren ein paar Schafe zu sehen.

Jaron betrachtete seinen Vater nachdenklich. Er konnte sich gar nicht mehr richtig an ihn erinnern. Nur Bruchstücke waren geblieben: ein dunkles Lachen, kräftige Hände, die ihn in die Luft warfen und wieder auffingen.

Auf der Heimfahrt von einer christlichen Freizeit war jener schreckliche Unfall passiert, so viel wusste Jaron aus den Erzählungen seiner Mutter. Der Wagen war von der Straße abgekommen und gegen einen Baum geprallt.

Wenige Tage später war sein Vater im Krankenhaus gestorben, seine Mutter, die auf dem Beifahrersitz gesessen hatte, war schwer verletzt worden. Nur Jaron selbst, der in seinem Kindersitz hinter ihr auf der Rückbank gesessen hatte, war mit leichten Prellungen davongekommen.

Seufzend stand er schließlich auf und hängte das Handtuch über die Stuhllehne. Dann legte er sich auf sein Bett und schaute aus dem Fenster. Draußen war es längst dunkel, und er wusste, dass er sich eigentlich noch die Zähne putzen sollte. Doch stattdessen schlief er ein.

In seinem Traum war er wieder klein. Er merkte, dass er in einem Auto saß, konnte das Brummen des Motors hören. Auf einmal knallte es, er fühlte Schmerz.

Mit einem Schrei setzte Jaron sich im Bett auf. Für einen Moment wusste er nicht, wo er war. Dann sah er, dass er sich in seinem Zimmer befand. Doch er konnte den Schmerz immer noch spüren.

Diesen Traum hatte er schon oft gehabt, und er fühlte die Verzweiflung, die ihn immer erfasste, wenn er aus ihm erwachte. Obwohl Jaron nur verschwommene Erinnerungen an jenen schicksalhaften Abend hatte, fühlte er sich irgendwie schuldig. Ohne es begründen zu können, wusste er tief in seinem Innern, dass er schuld war am Tod seines Vaters.

Nach einer Weile verblassten die Bilder und Jarons Atem beruhigte sich. In diesem Moment kündigte sein Handy den Empfang einer Nachricht an. Schnell holte er das Smartphone aus seinem Rucksack, den er auf den Boden geworfen hatte. Die Nachricht war von Franky:

Na Kumpel, alles klar?

Jaron tippte seine Antwort:

Nicht wirklich. Hatte Streit mit meiner Mom.

O Mann. Worum ging es?

Ich darf jetzt in die Leistungsklasse beim Kung-Fu, kann aber nicht am nächsten Wettbewerb teilnehmen. Sie sagt, wir haben dafür kein Geld.

O nein. Schöner Mist.

Ja, ich hab ihr blöde Sachen an den Kopf geworfen.

Passiert. Hast du dich entschuldigt?

Nein, noch nicht.

Tu’s gleich. Du wirst dich hinterher besser fühlen. Ich weiß, wovon ich rede.

Franky hat recht, dachte Jaron. Ich muss mit Mama reden.

Als er aus seinem Zimmer trat, konnte er den Fernseher im Wohnzimmer hören. Gerade liefen die Nachrichten. Er spähte um die Ecke: Seine Mutter lag auf dem Sofa und sah immer noch sehr müde aus.

Sobald sie ihn bemerkte, richtete sie sich auf. »Jaron, bist du aufgewacht?«

Er nickte und setzte sich zu ihr.

Sie schaltete das Gerät auf stumm und sah ihn an. »Hast du Hunger? Du hast nach dem Training gar nichts mehr gegessen.«

»Nein, danke. Geht schon. Mama, es tut mir leid, was ich eben im Auto gesagt habe.«

Auf ihrem Gesicht erschien ein Lächeln. »Ist schon gut, das ist lieb von dir, Schatz. Danke, dass du dich entschuldigst.«

Jaron rückte noch etwas dichter an seine Mutter heran.

Daraufhin legte sie ihre Wolldecke um ihn und er lehnte sich an sie.

»Ich kann dich ja verstehen und es tut mir sehr leid.« Liebevoll strich sie ihm durch die Haare.

Es tat Jaron gut, ihre Wärme zu spüren und ihre sanfte Stimme zu hören. Als ihm der Traum wieder einfiel, wurde ihm bewusst, dass die Lücke immer noch schmerzte, die sein Vater hinterlassen hatte. Jaron hatte sich schon oft vorgestellt, wie es wäre, wenn sein Papa ihm bei einem Wettkampf zusehen würde. Wie er ihm zuwinken und ihm auf die Schulter klopfen würde, wenn er einen Pokal gewonnen hatte.

Manchmal, wenn Jaron alleine war, redete er mit seinem Vater, als würde er neben ihm stehen. Hätte ich doch damals im Auto nicht so einen Ärger gemacht, dann hätte sich Papa nicht umgedreht. Vielleicht wäre dann der Unfall nie passiert, schoss es ihm durch den Kopf.

»Ich vermisse Papa«, sagte er leise, und eine Träne kullerte seine Wange hinunter.

»Ach, mein Schatz«, seine Mutter drückte ihn fest an sich, »das darfst du auch, du darfst ihn vermissen. Das tue ich auch. Ich wünschte, er wäre bei uns.«

Sie schwiegen, doch es war keine unangenehme Stille.

Irgendwann sagte Angelika: »Ich schaue mal, ob ich das hinkriege mit dem Wettbewerb. Vielleicht fällt mir eine Lösung ein.«

»Danke«, sagte Jaron müde und lehnte sich zurück.

So saßen sie eine ganze Weile, während die Bilder stumm über den Bildschirm huschten.

Der Wächter der goldenen Schale

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