Читать книгу Der Wächter der goldenen Schale - Alexander Lombardi - Страница 15

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»Holt sofort den Grafen!«, rief Cäcilie von Beilstein, als ihr Sohn blutüberströmt in den Salon trat. Völlig fassungslos bei diesem Anblick, sprang sie auf und lief ihm entgegen.

Das angesprochene Dienstmädchen im schwarzen Kleid mit weißer Schürze verließ eilig den Raum.

»Was um alles in der Welt ist passiert?«, stieß die Mutter aus, während sie nach Ludwigs Arm griff.

Ludwig schwankte ein wenig und schloss die Augen. Jetzt, da seine Mutter ihn festhielt und er wusste, dass sie sich um seine Verletzung kümmern würde, wurde ihm schlecht. »Michi hat mich angeschossen«, flüsterte er und hielt sich an seiner Mutter fest, weil seine Beine nachgaben.

Sie stützte ihn. »Hier, leg dich erst einmal hin«, sagte sie beruhigend und führte ihn zu einem der Sofas.

Dann wandte sie sich Michi zu, der hinter Ludwig den Salon betreten hatte. »Was hast du angestellt?«, zischte sie ihn an. »Angeschossen? Was meint er damit?«

Ludwig sah verschwommen, wie sein Freund zurückwich.

»Es war keine Absicht«, stammelte der Junge. »Wir waren auf dem Speicher und da lagen diese alten Armbrüste. Ich wollte sie mir doch nur näher anschauen und einmal in die Hand nehmen. Dass eine von ihnen geladen ist, habe ich nicht wissen können.«

»Geladen? Was geht hier vor?«, polterte auf einmal Graf Maximilian von Beilstein, der nun auch zur Tür hereinkam.

Hastig erklärte die Gräfin: »Die Jungs haben sich wohl auf dem Speicher herumgetrieben, und Michi hat mit einer der Armbrüste, die dort herumliegen, auf Ludwig geschossen. Er hat ihn am Kopf verletzt.«

»Was? Das ist ja wohl die Höhe!«, brüllte der Graf und packte Michi am Arm.

»Es tut mir ja leid!«, jammerte der und wand sich im festen Griff des Mannes.

»Verschwinde!«, donnerte Ludwigs Vater, schleifte den Jungen zur Tür und warf ihn hinaus. »Das wird noch ein Nachspiel haben, verlass dich drauf!«, rief er ihm hinterher, bevor er die Tür des Salons zuzog.

Ludwig nahm wahr, wie sein Vater ans Sofa trat und sich über ihn beugte. »Lass mal sehen, mein Sohn«, sagte der Graf besorgt und drehte Ludwigs Kopf sanft zur Seite, um sich den Streifschuss näher anschauen zu können. »Wir brauchen eine Schüssel Wasser«, sagte er dann über die Schulter zu seiner Frau, »außerdem das Jod aus dem Medizinschrank und saubere Verbände.«

»Soll ich auch den Arzt rufen lassen?«, fragte die Gräfin, in deren Stimme immer noch Bestürzung mitschwang.

»Das ist, glaube ich, nicht nötig. Es ist wirklich nur ein Kratzer. Den kann ich selbst versorgen«, antwortete der Graf beschwichtigend. »Außerdem machen Narben interessant, nicht wahr, mein Sohn?« Er lächelte Ludwig an und strich ihm beruhigend über den Kopf.

Ludwig war froh, dass sein Vater da war. Langsam ließ der Schmerz nach.

Als seine Mutter Wasser, Jod und Tücher gebracht hatte, säuberte sein Vater Ludwigs Kopf und Haare. Er träufelte das Desinfektionsmittel – das noch einmal richtig brannte – auf die Wunde und wickelte anschließend einen Verband um Ludwigs Stirn. Die Gräfin befahl in der Zwischenzeit einem der Dienstboten, für Ludwig eine heiße Schokolade zuzubereiten.

Kurz darauf saß Ludwig frisch verbunden, mit mehreren Kissen im Rücken, auf dem Sofa und nippte an seinem Kakao. Er fühlte sich schon viel besser.

Seine Eltern setzten sich in die Sessel ihm gegenüber und sein Vater sagte: »Nun erzähl doch noch mal in Ruhe, was genau passiert ist.«

Daraufhin berichtete er von dem Ausflug auf den Speicher, der Entdeckung der Jagdwaffen und wie sie beide die Armbrüste ausprobiert hatten. »Es war wirklich nicht Michis Schuld«, schloss er und sah seinen Vater bittend an. »Er wollte mich nicht verletzten. Es war ein Unfall.«

Der Graf senkte den Kopf und runzelte die Stirn. »Das mag schon sein. Trotzdem stimmt es mich nachdenklich, dass dieser Junge so fahrlässig handelt.« Er hielt kurz inne und fuhr dann fort: »Es war ein Fehler, dass wir dir gestattet haben, mit dem Schuster-Jungen Umgang zu pflegen. Bei diesen Leuten kann man nicht vorsichtig genug sein.«

Seine Frau nickte bestätigend. »Du hast recht, Maximilian«, sagte sie. »Es stimmt wohl, was die Leute sagen: dass Juden andere hintergehen, wenn es ihrem Vorteil dient. Das hätten wir uns denken können.«

Ludwig sah seine Eltern erschrocken an. »Was meint ihr damit? Michi ist doch kein Jude, oder? Und warum sollte er mich hintergehen?«

Graf von Beilstein seufzte. »Der Vater von Michael Schuster war Jude. Er hat sich, nachdem Michis Mutter schwanger war, aus dem Staub gemacht.« Er zuckte mit den Achseln. »Einem Juden kann man offenbar nicht trauen, mein Sohn. Es heißt, dieses Volk sei nicht ehrlich, sondern würde versuchen, uns guten Christenmenschen zu schaden, wo es nur kann. Das läge in seinem Blut, behaupten die Leute.«

»Michi ist mein bester Freund!«, protestierte Ludwig. »Er ist immer ehrlich und kameradschaftlich gewesen. Es kann nicht stimmen, was du da sagst. Außerdem ist sein Vater doch kurz nach seiner Geburt gestorben!«

»Das hat er dir erzählt?«, fragte die Gräfin.

»Ja.«

»Dieser Bankert, typisch.« Maximilian von Beilstein schüttelte den Kopf.

»Bankert?« Ludwig sah seinen Vater fragend an.

»Ja, er ist ein uneheliches Kind, ein Bankert«, fiel jetzt die Gräfin ein. »Mein Sohn, wir haben Almuth, Michaels Mutter, aus reiner Nächstenliebe bei uns aufgenommen und ihr Arbeit gegeben. Sie wäre sonst verloren gewesen. Nachdem dieser Schuft sie im Stich gelassen hatte, wollte niemand sie mehr einstellen. Ihre Eltern haben sie verstoßen, weil sie sich mit einem Juden eingelassen hat. Wenn wir ihr nicht geholfen hätten, wäre sie auf der Straße gelandet.«

Ludwig schwieg entsetzt. Was kann denn Michis Mutter dafür, dass sie sich in einen Mann verliebt, der sie dann sitzen lässt?, dachte er. Außerdem wusste er, dass manche seiner Kameraden nicht viel Gutes über ihre eigenen Väter zu berichten hatten: Sie seien tyrannisch, gewalttätig und würden zu viel Alkohol trinken. Trotzdem gingen diese Männer regelmäßig zur Messe und galten als anständige Menschen.

Ob Christ oder Jude, Halunken gibt es überall, dachte er, sah seinen Vater an und sagte: »Michi war immer ein guter Freund; ich könnte mir keinen besseren denken. Seine Mutter ist freundlich und hilfsbereit, seinen Vater kenne ich nicht. Ich werde meine Freundschaft mit Michi nicht aufs Spiel setzen, nur weil sein Vater ein schlechter Mensch ist. Dafür mag ich ihn zu sehr.«

Das schien seinen Eltern überhaupt nicht zu gefallen. Die Gräfin sah nicht glücklich aus, der Graf schnaufte und sagte streng: »Dann verbiete ich dir eben ausdrücklich, weiterhin Umgang mit diesem Bankert zu pflegen! Konzentrier dich lieber auf das, was dich morgen erwartet. Freust du dich schon auf Friederike?«

Jetzt war es Ludwig, der die Stirn runzelte. Friederike von Höwarth, eine entfernte Cousine, war die Braut, die seine Eltern für ihn ausgewählt hatten. Ludwig hatte sie das letzte Mal vor vielen Jahren gesehen, als sie beide noch Kinder gewesen waren. Nun war er 16 und Friederike 15 Jahre alt, und ihre Eltern hatten beschlossen, dass es an der Zeit sei, Verlobung zu feiern.

»Ich kenne sie doch gar nicht richtig«, sagte er verdrossen. »Wie soll ich mich dann auf die Begegnung mit ihr freuen?«

Seine Mutter schmunzelte. »Warte es ab. Ich denke, du wirst schon sehen, dass du allen Grund zur Freude hast.«


Ludwig zögerte, bevor er an die Tür des Verschlags über dem Kutschenschuppen klopfte, wo Michi und seine Mutter wohnten. Es regnete in Strömen und Ludwig zog seinen Mantel enger um sich. Seine Kopfwunde pochte leise.

Schließlich öffnete sich die Tür einen Spalt und Michis Mutter spähte hinaus. Als sie den jungen Grafen erkannte, schob sie die Tür schnell ganz auf und lächelte. »Hallo, Ludwig, wie schön, dass du vorbeischaust.«

Ihr Blick glitt zu seinem Kopfverband, während er in die kleine Stube trat, und ihr Gesicht zeigte Besorgnis. »Tut es noch sehr weh?«, fragte sie.

»Es geht«, spielte Ludwig den Schmerz herunter. »Eigentlich pocht es nur noch.«

Sie nickte. »Das ist gut. Ich möchte mich für meinen Sohn entschuldigen. Was er getan hat, war unverantwortlich, und ich werde dafür sorgen, dass er seine Strafe bekommt.«

»Schon in Ordnung«, beeilte sich Ludwig zu widersprechen. »Er konnte nichts dafür. Dass die Armbrust gespannt und geladen war, haben wir beide nicht bemerkt. Es war ein Unfall.«

»Danke, dass du das sagst. Dein Vater sieht das aber wohl anders, habe ich gehört?«

Ludwig zuckte mit den Achseln. »Ja, das stimmt wohl. Trotzdem hätte er ihn nicht so rauswerfen dürfen.«

Almuth lächelte. »Mach dir nicht zu viele Gedanken«, sagte sie und griff nach einem Schultertuch, das über einem Stuhl lag. »Das sind Michi und ich leider schon gewohnt. Ich bin mir sicher, dass dein Freund trotzdem keinen Groll gegen dich hegt. Er freut sich bestimmt, dich zu sehen.«

Dann rief sie in Richtung von Michis Schlafkoje, die mit einem Vorhang abgetrennt war: »Michi! Ludwig ist hier!« Zu diesem gewandt fuhr sie fort: »Ich bin nur kurz gekommen, um das Abendessen auf den Herd zu stellen, und muss wieder an die Arbeit. Ihr kommt ja auch alleine klar, oder?«

Ludwig nickte, obwohl er sich etwas unsicher fühlte. Wie sein Freund wohl reagieren würde?

Almuth band sich das Schultertuch um, nickte ihm noch einmal zu und verließ die Wohnung.

Da ging Ludwig näher an Michis Schlafkoje heran und sah sich um. An der Wand hingen Zeichnungen, die sein Freund angefertigt hatte. Um sein Zeichentalent hatte Ludwig ihn schon immer ein wenig beneidet. »Michi?«, fragte er leise.

»Was willst du?«, kam Michis Stimme dumpf durch den Vorhang.

»Dich um Entschuldigung bitten. Mein Vater hat sich unmöglich benommen.«

Mit einem Ruck wurde der Vorhang zur Seite gezogen und Michi schaute Ludwig an. Stirnrunzelnd betrachtete er Ludwigs Kopf. Dann lächelte er traurig und sagte: »Du kannst nichts dafür, wie sich dein Vater benimmt. Mir tut es wirklich leid, dass ich dich verletzt habe.«

»Mach dir keine Gedanken. Ich weiß, dass das keine Absicht war. Mein Vater war einfach aufgebracht, keine Ahnung, warum.«

»Er hat schon immer etwas gegen mich gehabt«, antwortete Michi. »Mich wundert das nicht.«

»Jetzt hat er mir sogar verboten, mit dir zu sprechen«, berichtete Ludwig niedergeschlagen, »aber das ist mir egal. Du bist mein Freund und du bleibst es.« Er griff in seine Manteltasche. »Und damit du das weißt, möchte ich dir das hier schenken.« Als er die Hand wieder hervorzog, lag sein schönstes Taschenmesser darin. Er streckte es Michi entgegen.

Ludwig hatte lange überlegt, was er seinem Freund als Wiedergutmachung schenken konnte. Ein Kleidungsstück wäre zu auffällig gewesen, das hätte ihm die Gräfin sofort wieder weggenommen. Das Messer war ein Geschenk des Grafen gewesen, der offenbar hoffte, dass Ludwig doch noch einmal Interesse an der Jagd entwickeln würde. Bis jetzt hatte der Junge sich aber nicht dafür begeistern können, Tiere zu töten, und er hatte die Waffe nie benutzt. Es war ein ausgesprochen schönes Stück aus echtem Stahl, mit einem Griff aus geöltem Holz.

Michi nahm das Messer zögernd und betrachtete es. Dann sah er seinen Freund an. »Danke«, sagte er und lächelte.

»Sind wir wieder Freunde?«, fragte Ludwig.

»Das sind wir immer gewesen«, antwortete Michi.

Ludwig atmete erleichtert auf. »Das ist gut. Sollen wir uns morgen miteinander dieses Bild näher anschauen?«

»Morgen reisen doch die von Höwarths an und du feierst Verlobung. Wirst du da überhaupt Zeit haben?«

»Ach, stimmt ja«, seufzte Ludwig. »Das habe ich ganz vergessen. Keine Ahnung. Dann müssen wir wohl abwarten, was sich meine Eltern für mich ausdenken. Sie haben bestimmt jede Menge Aufgaben für mich. Oh Mann, ich wünschte, diese Friederike würde gar nicht existieren!«

Michi lachte. »Na, es gibt Schlimmeres, als die eigene Braut zu begrüßen. Vielleicht ist sie ja ganz nett!«

Ludwig sah seinen Freund zweifelnd an. »Das kann ich mir kaum vorstellen.« Er hatte die Tochter der von Höwarths als langweiliges, ängstliches Mädchen im Gedächtnis, das mit den rauen Spielen, die Michi und er bevorzugten, wenig anfangen konnte.

Der Wächter der goldenen Schale

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