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Schlosshotel Unterallmannshausen, Frühjahr 2019

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Unter der Dachschräge, im hintersten Winkel, sah Jaron ein Möbelstück, das ganz an die Wand gerückt war.

Er ging um das Regal herum und zwängte sich zwischen den Gegenständen hindurch, die hier aufgetürmt waren: Stapel von vergilbten Büchern, zerbrochene Tische und Stühle, die aussahen, als hätten sie noch vor Kurzem in einem der Hotelzimmer gestanden. Weiter hinten gab es alte Hirschgeweihe und gerahmte Fotografien – alles Mögliche, was im Schlosshotel einmal seinen Dienst getan hatte und nun nicht mehr gebraucht wurde.

Während Jaron sich vorkämpfte, nahm er eine Menge Dreck mit. Und als er endlich vor dem Möbelstück stand, sah seine Jeans ganz weiß aus.

Der Sekretär hatte etwa Jarons Größe und bestand aus dunklem, gemasertem Holz. In den Aufsatz schienen, soweit das unter der dicken Staubschicht zu erkennen war, Muster in einem anderen Material eingearbeitet zu sein.

Jaron ließ den Schein der Lampe über jedes Detail gleiten und versuchte, das, was er sah, mit dem Ölgemälde zu vergleichen. Das muss es sein, dachte er. Zur Sicherheit schaute er sich noch einmal um, aber etwas Vergleichbares konnte er nirgends entdecken.

Obwohl das Möbelstück in einem schlimmen Zustand war – eine Schranktür war abgerissen und an dem oberen Schmuckelement fehlte eine Ecke –, strahlte es immer noch Reichtum und Luxus aus. Es war deutlich, dass es einmal sehr beeindruckend gewesen sein musste.

Als Jaron die Fächer oberhalb der Tischplatte betrachtete, machte sich Enttäuschung in ihm breit. Der Aufsatz war stark beschädigt, auch hier fehlten die Türen zu einigen Fächern. Ob da noch irgendwo etwas zu finden war?

Er beugte sich weiter vor und leuchtete in ein Fach rechts von der Aussparung in der Mitte. An der Rückwand hatte sich ein Brett verkantet. Und schließlich entdeckte Jaron sogar ein kleines Schlüsselloch, das er fast übersehen hätte.

Ob dort ein Geheimfach ist? Ob Ferdinand da wohl etwas aufbewahrt hat?

Er zog den kleinen silbernen Schlüssel aus seiner Tasche und musterte ihn. Würde er passen?

»Können wir jetzt endlich gehen?«, maulte Isabelle von Weitem. »Mir wird auch langsam kalt.« Sie hatte sich noch immer keinen Zentimeter vom Fleck gerührt.

Geh mir nicht auf die Nerven, dachte Jaron und sagte beschwichtigend: »Ja, gleich!«

Als Jaron und seine Freunde den silbernen Schlüssel in einer verborgenen Gruft unter der Sankt-Valentins-Kapelle gefunden hatten, hatten sie zunächst nichts damit anfangen können. Erst später hatten sie herausgefunden, dass das Monogramm FB auf Ferdinand von Beilstein hinwies, der Ende des 16. Jahrhunderts in jener Gruft ums Leben gekommen war. Die Freunde vermuteten, dass der Schlüssel zu einem Sekretär gehörte, der auf dem Porträt des jungen Grafen abgebildet war.

Jaron steckte den Schlüssel in das kleine Schlüsselloch. Er passte, und Jarons Puls beschleunigte sich. Vorsichtig drehte er den Schlüssel und brauchte dafür mehr Kraft, als er erwartet hatte.

Es knirschte, dann knackte es leise.

Jaron zog an dem Brett, bis es sich schließlich bewegte. Er fegte mit der Hand Staub und Schmutz beiseite, um besser in das Geheimfach hineinsehen zu können. Dann hob er sein Handy und leuchtete.

Das Fach war leer.


Schloss Unterallmannshausen, im Jahr 1894

Das dunkel gemaserte Holz des Sekretärs schimmerte im Zwielicht. Fein ausgearbeitete Ornamente schmückten den beschädigten Aufsatz.

»Ich glaube, wir haben das richtige Möbelstück gefunden. Da sind noch alte Papiere drin«, sagte Michi, während er sich bückte. »Briefe oder so.« Er griff in ein Fach und holte einen Stapel alter Briefumschläge heraus, die mit einem Lederstreifen zusammengebunden waren.

Ludwig trat noch dichter heran und spähte in die Fächer über der Tischplatte. »Leuchte mal hier hinein«, bat er seinen Freund.

Michi tat ihm den Gefallen.

Die meisten der kleinen Türen ließen sich nicht öffnen, als Ludwig an ihnen rüttelte. Schließlich nahm er seinem Freund die Lampe aus der Hand und beugte seinen Kopf über die Platte. Er sah, dass ein Teil der Rückwand aus ihrer Fassung gerutscht war.

»Genau wie Sepp beschrieben hat«, sagte er über die Schulter zu Michi. »Das sieht aus wie eine Geheimtür!«

»Zeig mal«, verlangte Michi und stieß Ludwig beiseite.

»He!«, protestierte der und wich zurück.

Michi murmelte: »Tschuldigung«, und tastete mit den Fingern an der Kante entlang. »Da ist auch ein Schlüsselloch«, sagte er. »Aber es sitzt ganz in der Ecke, nur schwer zu entdecken.« Er griff an das Brett und rüttelte daran.

Ludwig lachte. »So leicht kriegst du das bestimmt nicht auf.«

»Muss ich gar nicht«, keuchte Michi und zog kräftiger. »Ich will ja nur mal einen Blick hineinwerfen.« Und tatsächlich schaffte er es, die Tür ein wenig weiter nach außen zu biegen.

Mit einem Mal gab das Holz nach.

»Na toll, jetzt hast du es kaputt gemacht«, beschwerte sich Ludwig.

Michi zuckte mit den Schultern. »Ach was, das können wir leicht wieder einsetzen. Und jetzt können wir immerhin in das Fach schauen. Leuchte doch mal.«

Sein Freund hielt die Lampe höher, und Michi griff, so weit er konnte, in das Fach hinein.

Ludwig beobachtete, wie er im Schrank umhertastete und schließlich die Hand wieder ins Freie zog. Er hielt ein zusammengefaltetes Papier darin. »Das ist alles, was drin lag«, sagte er und faltete das dünne Blatt vorsichtig auseinander.

Neugierig beugte sich Ludwig darüber.

Es war eine Zeichnung mit schwarzer Farbe, die aussah wie Kohle. Es schien, als hätte jemand das Blatt auf eine unebene Oberfläche gelegt und das Darunterliegende abgepaust. Im schwachen Licht der Lampe konnte Ludwig leider kaum etwas erkennen.

Michi aber sagte: »Das ist ein Vogel! Ein Vogel auf einem Ast.« Er hob das Blatt näher an die Augen. »Und hier steht etwas: ›Der erste Hinweis auf das Versteck der Schale. Relief im Fels auf der Rottmannshöhe. Ferdinand von Beilstein, 1571.‹«

Er ließ das Papier sinken. »Es stimmt also, was Sepp erzählt hat«, sagte er und sah Ludwig triumphierend an. »Am Würmsee ist eine kostbare goldene Schale versteckt, die aus dem Tempel in Jerusalem stammt. Wie aufregend!«

Nachdem sie die Zeichnung wieder zusammengefaltet hatten, steckte Ludwig sie ein. Er freute sich schon darauf, sie bei besserem Licht zu studieren.

»Komm schon, lass uns gehen«, forderte er seinen Freund auf. »Hier gibt es wohl nichts Interessantes mehr zu entdecken.«

»Ich will erst noch die Tür wieder einsetzen«, meinte Michi und schaffte es auch tatsächlich, das herausgelöste kleine Brett wieder am richtigen Platz zu verstauen. Dann ging er seinem Freund hinterher.

Als sie bei dem Regal mit den alten Jagdwaffen vorbeikamen, blieb er jedoch stehen und griff noch einmal in ein Fach. »Schau mal, Luggi, die ist besonders schön.« Er hob mit beiden Händen eine Armbrust hoch, deren Griff und Schaft mit metallenen Ornamenten verziert waren. Er legte sie auf einen Arm und beugte den Kopf darüber.

Mit einem leisen Pfeifen schwenkte er die Waffe in Richtung Ludwig. Der sah ihm dabei zu und lächelte nur.

Dann drückte Michi den Abzug.

Brennender Schmerz durchzuckte Ludwigs Kopf. Im selben Moment ertönte hinter ihm ein Klirren, als ob eine Vase in tausend Scherben zersplittert sei.

Er schrie auf und griff sich über dem rechten Ohr an seinen Kopf. Als er die Hand zurückzog, war sie voller Blut.

Michi hatte die Armbrust fallen lassen und war mit zwei Schritten bei seinem Freund. »Luggi«, rief er erschrocken. »Was ist denn jetzt passiert?«

»Die Armbrust war geladen, du Idiot!«, schrie Ludwig ihn an. Tränen stiegen in seine Augen, und er hatte das Gefühl, dass Blut in den Kragen seiner Lodenjacke tropfte.

Auch in Michis Augen standen Tränen. »Das wusste ich nicht! Es tut mir so leid, Luggi. Lass mal sehen.«

»Lass mich!«, fauchte Ludwig verärgert. Die Stelle, wo ihn der Bolzen gestreift hatte, brannte heftig. Er fühlte, dass ihm ein wenig schwindelig wurde.

Schnell drehte er sich um und ging zu der Falltür zurück, durch die sie auf den Dachboden geklettert waren.

Michi folgte ihm schweigend.

Der Wächter der goldenen Schale

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