Читать книгу Die zeitlose Ayurveda-Küche - Alexander Pollozek - Страница 12
Die Historie aus indologischer/ethnologischer Sicht
ОглавлениеDer uns heute bekannte Ayurveda ist in dieser professionalisierten Form ein Kind des 20. Jahrhunderts. Seine Ursprünge liegen nicht allein in Indien. Vielmehr hat der asiatische Medizinpluralismus über Jahrhunderte, möglicherweise über Jahrtausende hinweg ein vielschichtiges Gewebe entwickelt, das man heute unter dem Begriff „Ayurveda“ zusammenzufassen versucht.
Die verschiedenen medizinischen Traditionen wurden über Jahrhunderte hinweg in Indien nur innerhalb bestimmter Familien weitergegeben. So kommen auch die verschiedenen Spezialisierungen der alten Traditionen zustande. Die Verwendung der klassischen Texte und Methoden spielten hier nachweislich keine Rolle. Die meisten Vaidya-Familien waren erwiesenermaßen nicht einmal des Sanskrit kundig („Kölner Ethnologische Arbeitspapiere“, Bonn 1992).
Nach den eigenen vedischen Quellen ist der Ayurveda göttlichen Ursprungs, d. h., er wurde durch Götter und Weise (Rishis) offenbart. Daran knüpfen sich die Jahrtausende alte Erfahrungswerte durch die praktische Anwendung des offenbarten Wissens. Durch das Verbundensein mit der religiösen Tradition Indiens erhebt der Ayurveda einen Anspruch auf Absolutheit und gleichzeitig darauf, wissenschaftlicher Urheber der Humanmedizin zu sein.
Bei einem genaueren Betrachten der historischen Hintergründe entsteht allerdings ein völlig anderes Bild. Wir haben für unsere Recherchen die ethnologische Magisterarbeit von Ronald Kaiser mit dem Titel „Die Professionalisierung der ayurvedischen Medizin und deren Rolle im indischen Medizinpluralismus“ eingehend studiert und dort die besten Belege über die Historie des Ayurveda gefunden.
Zum einen zeigen die dort angegebenen Quellen eine andere Entstehungsgeschichte als die ayurvedaeigenen Überlieferungen. Zum anderen entsteht ein anderes Bild der gegenseitigen Beeinflussung von indischer, arabischer, griechischer und graeco-arabischer Unani-Medizin. Danach ist viel wahrscheinlicher, dass mehr Teile des Ayurveda von anderen medizinischen Traditionen übernommen wurden als umgekehrt. Damit muss der Urheberanspruch des Ayurveda als älteste Medizin infrage gestellt werden.
Sowohl indologische als auch viele indische Quellen stehen im Widerspruch zueinander, was historische Fakten und Zeiträume betrifft. An dieser Stelle werden wir uns nur kurz mit den beiden grundlegenden Unverständlichkeiten der ayurvedischen Geschichte befassen:
Die grundlegenden Werke der klassischen Periode
• Caraka Samhita und Sushruta Samhita
• Die einseitige Einflussnahme des Ayurveda auf andere medizinische Traditionen
Die Werke des Altertums, die die Basisliteratur des Ayurveda darstellen, stammen nach den Indologen aus verschiedenen Epochen. Sie beziehen sich auf chinesische Dokumente, die einen Arzt mit Namen Chara oder Caraka am Hofe des Königs Kaniska erwähnen. Es ist nicht gesichert, dass er auch der Autor der nach ihm benannten Samhita ist. Selbst in der Caraka Samhita findet sich der Hinweis, dass einige Teile der Originalversion verloren gingen und im 12. Jahrhundert von einem Kashmiri namens Drdhabala ergänzt wurden.
Auch Sushruta lässt sich als historische Person nicht datieren und es existiert kein Beweis für seine Existenz. Sicher ist allerdings, dass ausgerechnet die Chirurgie eher in griechischer, mesopotamischer und arkadischer Medizin praktiziert und gelehrt wurde als in ayurvedischer. Die Sushruta Samhita beschreibt aber hauptsächlich das Thema Chirurgie. Sie beschreibt 121 Operationsinstrumente und Techniken der plastischen Chirurgie, z. B. die Entwicklung einer Nasenplastik sowie die Herstellung von Beinprothesen.
Die von Vedantisten behaupteten medizinischen Kenntnisse in Rigveda und Atharvaveda heben sich nicht über den Kontext Krankheit und Dämonologie hinaus, kennen keine Materia Medica und keine vielschichtigen Therapiemethoden. Lediglich die Existenz von Heilpflanzen wird erwähnt.
Der älteste genau datierte Nachweis über ein Tridosha-Konzept, eine Lehre über Verdauung, Einfluss von Jahreszeiten und benannten Krankheiten sowie Medikamenten, lässt sich im sogenannten Bower-Manuskript finden, das auf ca. 500 n. Chr. datiert wird. Die Sprache dieses Manuskripts ist älter als die der Caraka- und Sushruta Samhita, von denen heute nur Fassungen aus dem 11. oder 12. Jahrhundert existieren. Interessant ist aber an dieser Stelle, dass es arabische Übersetzungen der beiden Texte aus dem 8. Jahrhundert gibt. Die Texte existierten also schon vorher.
Der erste literarische Beweis über ein Ungleichgewicht der Säfte, das Krankheiten hervorrufen kann, findet sich in einem Manuskript von Katyayana von 313 v. Chr. Dazwischen existiert das sogenannte Quizil-Fragment aus dem 2.–3. Jahrhundert n. Chr., in dem ebenfalls die drei Doshas Wind, Galle und Schleim erwähnt werden. Das älteste bekannte Dokument der Caraka Samhita ist nach dem deutschen Indologen Julius Jolly in noch schlechterem Zustand als die Sushruta Samhita. Deren heutige Version wurde aus verschiedenen Kommentaren aus dem 11. und 12. Jahrhundert n. Chr. zusammengesetzt.
Die dem Autor Vagbhata zugeordnete Samhita stammt aus dem 6.–7. Jahrhundert n. Chr. und ist das jüngste der drei klassischen Standardlehrwerke. Alle zusammen werden Astangahrdaya Samhita genannt, das „Herz der acht Glieder“.
Es bleibt also zu bemerken, dass die frühe Datierung der Samhitas auf bis zu 1.000 Jahre v. Chr. wissenschaftlich nicht haltbar ist, auch wenn es vonseiten der Ayurveda-Bewegung immer wieder behauptet wird. Auch die von Indologen gemachten Angaben von 100/200–400 n. Chr. sind nur Schätzungen. Nachgewiesen wurde ein medizinisches Konzept, das über die Dosha-Lehre hinausgeht, erst im 5. Jahrhundert n. Chr.
Insgesamt nehmen die Autoren der Werke über Indologie an, dass sich die medizinischen Traditionen dennoch unabhängig voneinander parallel entwickelt haben. Es ist eine Tatsache, dass im 6. Jahrhundert v. Chr. griechische Ärzte an den Höfen der persischen Könige arbeiteten, zu deren Imperium auch Indien zählte. Eine einseitige Einflussnahme der ayurvedischen auf die griechische Medizin wird also eher ausgeschlossen.
In seiner heutigen Form ist Ayurveda ein Produkt des Zusammenschlusses vieler medizinischer Traditionen, auch europäischer. Die Behandlungsarten wie Aderlass, Einläufe und Ausleitungsverfahren finden im 16. Jahrhundert in den Krankenhäusern der portugiesischen Kolonialherren erstmalig in Indien Erwähnung. Auch das Pulsfühlen als Diagnosemethode wird erst spät von der Unani-Medizin übernommen. Zungenbelag mit der Verdauung in Zusammenhang zu bringen entstammt nachweislich der europäischen Medizin.
Während der Herrschaft der persischen Mogulkaiser ab dem 15. Jahrhundert fand ein ausgesprochen reger Austausch von medizinischem Wissen unter Unani-Ärzten, Vaidyas und buddhistischen Heilertraditionen statt. Die muslimischen Herrscher waren Patrone der Vaidyas, während die Hindukönige die Unani-Ärzte förderten. Von einer Unterdrückung der Ayurveda-Tradition durch Besatzungsmächte kann also nicht die Rede sein. Selbst die Briten unternahmen Anstrengungen, die indischen Heilkünste zu fördern und in diesem Bereich ein eigenes Bildungswesen aufzubauen. Leider war zu diesem Zeitpunkt (frühes 19. Jahrhundert) Indien voll von Heilern, die nur magisch-mystisch oder religiös in der Praxis orientiert waren, jede Menge Scharlatane inklusive.
Erste Bestrebungen der indischen Provinzregierungen entwickeln im 19. Jahrhundert ein medizinisches Bildungssystem. Es entstanden die ersten klassischen ayurvedischen Schulen, die, angelehnt an europäische Medizin, Anatomie, Chirurgie und Anwendungen der klassischen Ayurveda-Medizin lehrten. Auch hier spielte der Austausch zwischen Europäern und Indern eine wichtige Rolle. Die heute existierenden Schulen sind erst im letzten Jahrhundert (also nach der Unabhängigkeit Indiens 1947) eröffnet oder reaktiviert worden. Das einheitliche Bildungswesen für Ayurveda wird vom CCIM (Central Council for Indian Medicine) reguliert. Der indische Studiengang fängt beim Bachelor-Studiengang über fünf Jahre an und geht über insgesamt neun Jahre weiter bis zum Doktor der Medizin (M.D.).