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Die Prinzessin

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Mit ihrem kleinen Wagen raste Alice Pollux von der Autobahn in die Abzweigung, die sie in Richtung Stadtmitte führte. Sie war bereits zwanzig Minuten zu spät, und obwohl sie für die Verspätung nichts konnte, fühlte sie sich doch etwas schuldig.

Im Rückspiegel sah sie den kräftigen, roten Streifen der untergehenden Sonne. Die Welt um sie herum wurde zu einer märchenhaften und kitschigen Abendlandschaft. Dieser Moment gehörte zu ihrer Lieblingstageszeit.

Wie romantisch, dachte Alice.

Der rötliche Farbton der Dämmerung ließ ihr weißlackiertes Auto wie eine riesige, schimmernde Porzellanskulptur aussehen. Die rosa Sitzbezüge passten gut zum Außenlack des Wagens, was dem Ganzen ein edles und luxuriöses Erscheinungsbild gab. Das Auto war ein wunderbares Geburtstagsgeschenk von ihrem Vater.

Alice hielt sich genau an die Anweisungen auf dem Zettel, den sie von ihrer Freundin Lydia bekommen hatte. Ohne diesen Wegweiser hätte sie nicht gewusst, welche Abzweigung sie gefahrlos nehmen konnte. Seit den Ausschreitungen der gestrigen Nacht war der Großteil der Stadt gesperrt. Überall waren Polizeikontrollen, die sie angehalten und zum Umkehren gezwungen hätten.

Nach ungefähr einer halben Stunde erreichte Alice eine Kirche, vor deren Eingangstor eine drei Meter hohe Ritterstatue stand. Es wirkte so, als wolle der Ritter die Kirche vor all dem Chaos und der Gewalt, die momentan in der Stadt herrschten, beschützen. Instinktiv griff Alice nach ihrer Halskette, an der ein goldenes Kreuz hing. Das letzte Mal hatte sie eine Kirche mit ihrer Mutter besucht. Aber daran wollte sie jetzt nicht denken.

Hinter der Kirche befand sich eine weitläufige Wiese, die mit Zelten übersät war. Die Zelte besaßen die unterschiedlichsten Formen, Farben und Größen; es gab solche, wie man sie auf Campingplätzen sah, und solche, die an ein Zirkuszelt erinnerten. Es entstand der Eindruck einer kleinen Siedlung, die inmitten der Großstadt errichtet wurde.

Als Alice vor einem Zelt parken wollte, schüttelte eine Frau den Kopf und deutete auf den Wald, am Rande der Wiese. Trotz der vielen Wohnmobile, die zwischen den Zelten abgestellt waren, gab es anscheinend ein Parkverbot für Autos innerhalb der Zeltstadt.

Glücklicherweise handelte es sich bei den Bäumen im Wald um einfache Laubbäume, und somit hingen keine Tannenzapfen oder andere schwere Früchte an den Ästen. Alice hatte das Auto gerade erst neu lackieren lassen, und einen Kratzer hätte sie nicht überlebt. Da wäre ihr ein abgebrochener Fingernagel lieber gewesen.

Nachdem sie ihren Wagen am Waldrand geparkt hatte, betrachtete sie sich im Rückspiegel. Sie kontrollierte ihr Make-up und richtete ihre blond gefärbten Haare zurecht. Sie griff nach ihrer Designerhandtasche und verließ das Auto.

Bereits nach den ersten Schritten musste sie feststellen, dass ihr Cocktailkleid mit dem Tigermuster, ihre weißen Stiefel und ihre rosa Jacke nicht für diese Umweltbedingungen geeignet waren. Die Jacke war viel zu dünn, und trotz des lauen Sommerabends begann sie, zu frieren. Zwar hatte sie einen teuren Designermantel im Kofferraum, jedoch verschluckte er ihre Figur. All die Stunden im Fitnesscenter wären dann umsonst gewesen.

Der Wiesenboden war nach den regenreichen Tagen der letzten Zeit nass und uneben geworden, weshalb ihre weißen Stiefel tief in die weiche, matschige Erde versanken. Mit jedem Schritt wurden ihre schönen Schuhe dreckiger.

Die eher bescheiden gekleideten Bewohner der Zeltstadt musterten die junge Frau mit prüfenden Blicken. Mit ihrem Outfit sorgte sie für Aufsehen, aber damit hatte sie noch nie Probleme gehabt, tatsächlich genoss sie die Aufmerksamkeit der anderen.

Auf dem kleinen gelben Stück Papier, den ihr Lydia als Wegbeschreibung mitgegeben hatte, war zusätzlich – Zelt Nummer 7 – notiert worden.

Die Zelte waren einzeln nummeriert, womit es einfacher wurde, sich zu orientieren und den Überblick zu behalten. Offensichtlich hatte man die Zelte mit den höheren Nummern außerhalb des Lagers gestellt, und die mit den niedrigen Nummern in das Zentrum.

Nach einigem Suchen und Umherirren wurde Alice schließlich fündig. Das Zelt mit der Nummer 7 machte von außen nicht viel her und wirkte für ihren Geschmack ein wenig zu rustikal. Es war jedoch eines der größten Zelte im Lager.

Als sie das Zelt betrat, kam ihr ein modriger Geruch entgegen, der sich mit den Ausdünstungen der Leute vermischt hatte. Vor Ekel rümpfte sie die Nase. Ihre Instinkte schrien geradezu danach, sich umzudrehen, zurück zum Wagen zu gehen und weit, weit wegzufahren. Sie zögerte, und für einen Augenblick überlegte sie, ob sie es nicht wirklich tun sollte, doch dann kam der eigentliche Grund für ihr Erscheinen auf sie zu – Albert Krowley.

Albert Krowley war sozusagen der Anführer der Demonstranten, oder zumindest glaubte sie das. Sie war sich nicht ganz sicher, welche Stellung er im Lager hatte. Alice wusste nicht einmal genau, worum es bei diesen Demonstrationen ging. Im Radio hieß es, die hohe Arbeitslosigkeit wäre die Ursache für die Unruhen. Aber sie hatte schon andere Gründe gehört, von irgendwelchen Gesetzesänderungen oder so etwas Ähnlichem.

Obwohl ihr Vater, Richard Pollux, der Präsident des Landes war, hatte Alice nicht das geringste Interesse an der Politik. Die Politik war für sie zu trocken und zu langweilig, außerdem stellte sie fest, dass Politiker im Allgemeinen keine besonders attraktiven Menschen waren. Warum sich also damit beschäftigen?

Ihr Interesse an diesem Abend galt einzig und alleine Albert. Bereits im allerersten Moment, als sie ihn bei einer Party eines Bekannten erblickte, wusste Alice, dass sie füreinander bestimmt waren. Zwar war Albert bereits Mitte vierzig, also fast doppelt so alt wie sie, aber da sie mit Männern in ihrem Alter noch nie wirklich etwas anfangen konnte, störte sie der Altersunterschied nicht. Im Gegenteil, sie fand ihn deswegen umso attraktiver. Seine groß gewachsene Figur mit dezent antrainierten Muskeln, sein weiches Gesicht und seine haselnussbraunen Augen waren ihre Beweggründe zu demonstrieren. Wohin und weswegen sie demonstrierte, spielte für Alice keine Rolle, Hauptsache sie war in Alberts Nähe. Leider wusste er nichts von ihren Gefühlen zu ihm, aber das sollte sich ändern, denn heute Nacht wollte sie ihm ihre Liebe gestehen.

»Hallo! Gut, dass du gekommen bist!«, sagte Albert mit einem charmanten Lächeln.

»Danke, dass ich hier sein darf«, piepste sie zurück.

»Ich bitte dich. Jeder, der für unsere Sache kämpft, ist willkommen.« Albert sprang mit jugendhaftem Eifer auf einen Sessel, hob die Arme in die Höhe und rief den Leuten zu: »Hört her!« Alle Augen im Zelt waren auf ihn gerichtet. »Das ist … Steffi? Äh … Isabella? Nein! Sandra!« Albert runzelte die Stirn und blickte sie fragend an.

»Alice«, flüsterte sie ihm leicht verlegen zu.

»Alice! Natürlich! Das ist Alice! Sie wird mit uns marschieren, wenn wir diesem veralteten Polizeistaat eine Lektion erteilen, indem wir eine gerechte und soziale Kommune erschaffen! Lang lebe die spirituelle Revolution!«

Ein kurzer, zustimmender Applaus folgte.

Albert nahm ihre Hand und führte Alice zu einem anderen Teil des Zeltes, wo mehrere Personen lebhaft miteinander diskutierten. Sie konnte nicht feststellen, worüber sie sprachen. Nicht, dass es sie wirklich interessiert hätte, allerdings wollte sie Albert beeindrucken. Als sie näher herantrat, sah sie ihre Freundin Lydia.

Lydia hatte schulterlange, braune Haare, einen wohlproportionierten Körper und ein hübsches Gesicht. Sie studierte Biologie an der städtischen Universität. Alice selbst war Medizinstudentin und traf Lydia in einer Vorlesung über Humanethik. Eine langweilige und überflüssige Vorlesung, aber eine geschenkte Prüfung.

»Hallo Prinzessin! Ich dachte, du kommst gar nicht mehr.« Lydia umarmte Alice zur Begrüßung und küsste sie auf die Wangen.

»Ja, sorry, musste meinen Bruder noch bei seinem Freund abliefern. Was besprecht ihr gerade so Wichtiges?«, fragte Alice, mehr aus Höflichkeit als aus Interesse.

»Gestern Nacht gab es einen unglücklichen Zwischenfall mit der Polizei«, sagte Lydia mit besorgter Miene. »Niemand weiß was Genaues, aber angeblich ist ein Polizeitransporter, der voll mit Demonstranten war, explodiert.«

Alice konnte ihr schockiertes Gesicht nicht verbergen. »Ich dachte, wir würden nur ein paar Plakate herumtragen und friedlich herumspazieren … ähm … ich meinte, demonstrieren?«

»Keine Angst. Ist wahrscheinlich nur ein Gerücht«, beruhigte Lydia ihre Freundin. »Von solchen hört man im Lager viele. Die Nachrichten sind in dieser Hinsicht keine große Hilfe. Die zeigen auch nur das, was die Politiker ihnen vorgeben. Sie wollen uns Demonstranten als gewalttätige und aufständische Rebellen darstellen.«

Alice blickte auf ihre rosa Jacke und ihre weißen Stiefel. Dass jemand denken könnte, sie wäre eine Rebellin, amüsierte sie. Alice Pollux, die High-Society-Rebellin!

»Du bist nicht wirklich den Umständen passend angezogen«, meinte Lydia, als hätte sie ihre Gedanken gelesen.

»Typisch Prinzessin eben«, erwiderte Alice grinsend und strich sich dabei durch ihre blond gefärbten Haare.

Die Gruppe, die zuvor noch miteinander diskutiert hatte, verschwand mit Albert hinter einem purpurnen Vorhang. Alice wollte mit ihm mitgehen, doch ihre Freundin hielt sie zurück.

»Da dürfen wir nicht hinein. Ist so eine Art VIP-Bereich«, sagte Lydia.

Alice machte einen leicht verdutzten Gesichtsausdruck. »Ein VIP-Bereich in einem Zelt?« Sie konzentrierte ihren Blick, als wolle sie mit einem Röntgenblick durch den purpurnen Vorhang hindurchsehen. Aber all ihre Konzentration half nichts. Sie fragte sich, was wohl hinter dem Vorhang so Wichtiges und Exklusives passierte. Sie nahm sich vor, Albert beim nächsten Mal darauf anzusprechen.

»Lass uns gehen, Alice. Wir müssen für dich geeignete Klamotten finden.« Mit diesen Worten verließ Lydia das Zelt, und Alice folgte ihr.

Endgame

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