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Kapitel 2: Regeln
ОглавлениеWie befohlen, versammelten sich die in Zivil gekleideten Polizisten im Klassenzimmer 8B.
Die Klasse befand sich im obersten Stock der Schule, von wo aus man auf die ganze Innenstadt blicken konnte. In der klaren Sommernacht wirkte die Stadt überraschend ruhig. Es gab weder Brände noch sonstig irgendwelche Anzeichen eines Aufstandes. Aber die Nacht hatte gerade erst begonnen.
Das Klassenzimmer selbst war grau und farblos. Auf der grünen Tafel wurde mit weißer Kreide ein Dreieck gekritzelt. Ein Überbleibsel aus einer vergangenen Unterrichtsstunde. Wahrscheinlich hatte man die Schule in großer Eile evakuiert und darauf vergessen, die Tafel zu reinigen, oder ein Schüler war einfach nur zu faul dafür. An einer Wand hing eine Weltkarte, gleich daneben wurden einige Zettel angebracht, die kommende Prüfungen ankündigten.
Adam fand in der ersten Reihe einen freien Platz. Zwei Sitze neben ihm saß der dürre Kollege mit der dicken Hornbrille, dem er vorhin im Schulhof geholfen hatte. Der junge Mann nickte ihm dankend zu.
In den hinteren Reihen befand sich der Kollege mit den blonden Haaren, mit dem Adam die handgreifliche Auseinandersetzung hatte.
Viele der Polizisten hatten Probleme, es sich auf den niedrigen und etwas zu kleinen Sesseln bequem zu machen. Die Stühle waren für Kinder und Jugendliche gedacht, nicht für Erwachsene. Auch Adam rutschte hin und her und versuchte, sich an den spärlichen Platz zu gewöhnen. Er lachte innerlich über den seltsamen Anblick der ausgebildeten und kampferprobten Männer und Frauen der Polizei, die wieder die Schulbank drücken mussten. Manche von ihnen erkannten ebenfalls die Absurdität der Situation und scherzten über fehlende Hausaufgaben und mangelnde Prüfungsvorbereitungen. Adam schien also nicht der Einzige gewesen zu sein, dem solche Gedanken durch den Kopf gingen.
Jetzt fehlt nur noch der Lehrer, dachte er zu sich, als gerade ein Polizeihauptmann das Klassenzimmer betrat und ohne Umwege zum Lehrerschreibtisch marschierte. Der Hauptmann musterte die Beamten eindringlich.
Adams Kollegen wurden wach und konzentrierten sich. Auch er spürte, wie die Anspannung in ihm stieg. Er schätzte das Alter seines Vorgesetzten um die fünfzig herum. Mit seiner stämmigen Erscheinung und dem Vollbart, der fast sein ganzes Gesicht bedeckte, wirkte der Hauptmann klein aber kräftig.
»Kollegen, wir fangen an!«, brummte der Hauptmann mit seiner tiefen Bassstimme, die zu seiner robusten Statur passte. »Wie einige von euch vielleicht schon wissen – mein Name ist Joseph Bär. Ich bin Hauptmann dritten Grades und der Oberkommandierende dieser Einrichtung.«
Adam war über den schroffen Ton und der zackigen Ausdrucksform, die selbst für einen Polizisten übertrieben klang, verwundert. Er nahm an, dass Hauptmann Bär eine militärische Ausbildung hinter sich hatte, was nichts Ungewöhnliches war. Als der Staat dringend Polizeibeamte brauchte, wurden die Aufnahmekriterien gelockert und das Gehalt erhöht, woraufhin viele Soldaten zur Bundespolizei wechselten.
»Zuerst möchte ich euch die allgemeine Lage erklären«, fuhr der Hauptmann fort. »Wie ihr wisst, gibt es seit ein paar Wochen im ganzen Land heftige Auseinandersetzungen und Unruhen seitens der Bevölkerung. Besonders hier, in der Hauptstadt, kommt es fast täglich zu neuen Demonstrationen. Leider gab es dabei bereits einige Verletzte und Tote. Die Kanzlerin hat deswegen eine Ausgangssperre über die gesamte Stadt verhängt, wobei sich nicht alle daran halten.« Der Hauptmann griff nach dem Lehrersessel und machte Anstalten, sich hinzusetzen, entschied sich jedoch dagegen. »Viele von euch kommen aus einer anderen Stadt oder aus einem anderen Teil des Landes. Aufgrund der derzeitigen Situation sind wir unterbesetzt, und wir brauchen jeden Mann und jede Frau, die wir bekommen können. Die Lage hat sich in den letzten Tagen enorm zugespitzt. Auslöser dafür war der Mirabella-Vorfall.«
Es wurde still im Raum. An den Gesichtszügen der anwesenden Polizisten konnte man erkennen, dass sie an die kleine Mirabella dachten, auch Adam senkte gedankenversunken seinen Kopf.
Mirabella war ein achtjähriges Mädchen, das an einer Demonstration teilnahm und dabei schwer verletzt wurde.
Es begann mit der Streichung der staatlichen Familien- und Kinderbeihilfe. Viele Eltern zogen mit ihren Kindern auf die Straße, um ihren Unmut kundzugeben. Bis heute weiß man nicht, was genau geschah, oder wie es dazu kam, aber irgendwie geriet die Demonstration außer Kontrolle. Es kam zu Übergriffen und Mirabella wurde von der panischen Menschenmasse niedergetrampelt. Sie erlitt ersnthafte Körperverletzungen, Quetschungen und sogar innere Blutungen. Das Mädchen befand sich für eine lange Zeit im kritischen Zustand, die Ärzte kämpften um ihr Leben. Natürlich gab jeder dem anderen die Schuld für den Vorfall. Die Eltern gaben den Polizeibeamten die Schuld, und die Polizei beschuldigte die Politiker. Die Politiker wiederum wälzten die Schuld auf die Eltern ab und meinten, dass eine Demonstration keine geeignete Veranstaltung für ein Kleinkind wäre.
Eine Woche später wurde das Polizeihauptquartier angegriffen. Der Vater von Mirabella hatte sich beim Angriff beteiligt. Nun drohte ihm eine mehrjährige Haftstrafe.
Nach einer kurzen Pause berichtete der Hauptmann weiter: »Nach dem Angriff auf das Polizeihauptquartier entschied sich das Polizeipräsidium dafür, die Kräfte aufzuteilen, um so besser und schneller agieren zu können.«
Hauptmann Bär winkte zwei Kollegen zu sich, die außerhalb des Zimmers bereits auf sein Zeichen gewartet haben. Die beiden Männer betraten die Klasse und befestigten eine Karte an der grünen Unterrichtstafel.
Die Karte zeigte einen Umriss der Stadt, die in vier Zonen aufgeteilt wurde. Jede Zone war mit einer anderen Farbe markiert.
Der Hauptmann nahm einen langen Zeigestab in die Hand und wies damit auf die Stadtkarte. »Die rote Zone kennzeichnet das Stadtzentrum. Der äußere Teil der Innenstadt befindet sich in der gelben Zone. Die Außenbezirke sind blau markiert, und die Stadtgrenze gehört zur grünen Zone.« Hauptmann Bär tippte mit der Spitze des Stabes auf die Innenstadt. »Wie ihr seht, liegt das Parlament sowie das Polizeihauptquartier und auch das Krankenhaus in der roten Zone, also dem heißen Bereich. In diesen Bezirken fanden bisher die meisten Unruhen und Angriffe statt. Das Polizeihauptquartier ist für diese Zone zuständig. Wir sind in der gelben Zone stationiert. Bei uns müssen wir mit Plünderungen und allerlei Sachschäden rechnen. Unsere Aufgabe wird es sein, die gelbe Zone zu kontrollieren und dafür zu sorgen, dass sich der rote Bereich nicht noch weiter ausbreitet. Der grüne Bereich ist sicheres Territorium. Um dieses Gebiet brauchen wir uns nicht zu kümmern. Die dort befindlichen Familienhäuser werden von unseren Streifenwagen beobachtet, aber es sind bis jetzt keine Einbrüche gemeldet worden.«
Eine Frau, die neben Adam saß, hob ihre Hand, um eine Frage zu stellen: »Was ist mit den Außenbezirken? Der blauen Zone?«
»Die blaue Zone ist relativ sicher. Das Industrieviertel hat keine Priorität für uns. Im Süden der Stadt, bei der Kirche des St. Luzis haben die Demonstranten ihr Zeltlager aufgestellt. Wie ihr seht, grenzt ihr Lager an einem Waldgebiet, das sich bereits in der grünen Zone befindet. Ursprünglich haben wir für das Lager einige Streifenwagen auf Patrouille geschickt, aber seit dem Mirabella-Vorfall sind Polizeibeamte dort nicht mehr gerne gesehen. Wir haben deshalb unsere Präsenz in diesem Teil der Stadt aufgegeben. Wir lassen sie in Ruhe, und sie lassen uns in Ruhe. Allerdings vermuten wir, dass einer der Anführer der Demonstranten der Hauptproduzent der roten Fee ist. Ich nehme an, dass jeder von euch mit dieser neuen Droge vertraut ist.«
Adam und seine Kollegen nickten einheitlich. Bei der roten Fee handelte es sich um ein neuartiges Rauschmittel, das kurz vor dem großen Wirtschaftskollaps auf dem Schwarzmarkt erschien. Die rote Fee war ein Gemisch bestehend aus LSD, Absinth und dem Gift von Skorpionen. Eingenommen wurde die Droge über die Augen. Durch die Netzhaut gelangten die chemischen Komponenten viel schneller zum Gehirn, wodurch der Rauschzustand um ein Vielfaches intensiver wirkte.
Die rote Fee sorgte für eine gesteigerte Wahrnehmung und bewirkte Halluzinationen. Diese Halluzinationen ließen den Konsumenten glauben, dass er Teil eines Märchens wäre. Es gab Berichte über einen Mann, der dachte, er wäre ein Kreuzritter und er müsse gegen einen Drachen kämpfen. Jedoch handelte es sich bei dem eingebildeten Drachen lediglich um einen roten Ferrari, den er mit einem Golfschläger demoliert hatte. Leider gab es auch ernste Vorfälle. So wollte etwa eine junge Mutter ihre eigenen Kinder in einem Ofen backen. Sie war davon überzeugt, eine Hexe zu sein, und glaubte, dass ihre Kinder Hänsel und Gretel wären. Zum Glück konnte ihr Ehemann sie noch rechtzeitig daran hindern, die Kinder bei lebendigem Leibe zu verbrennen.
Des Öfteren erschien in diesen märchenhaften Halluzinationen ein rot leuchtendes Wesen, das einer Fee ähnelte. Daher nannte man die Droge einfach nur rote Fee. Die Nebeneffekte dieser Droge konnten jedoch verheerend sein. Neben Panikattacken gab es auch Fälle von Blindheit und schweren Gehirnblutungen.
Die Nachfrage nach der roten Fee stieg in den letzten Monaten rapide an, und der Verkauf der Droge auf dem Schwarzmarkt boomte. Je schlimmer die Krise wurde, und je ärmer die Leute, umso mehr Menschen konsumierten das Rauschmittel. Die rote Fee war besonders bei Jugendlichen populär.
»Die rote Fee wird wahrscheinlich im Zeltlager verteilt und verkauft«, erzählte der Hauptmann weiter. »Wir haben schon einige Demonstranten festgenommen, die im Besitz dieser Droge waren. Wie dem auch sei, das Zeltlager ist momentan das kleinere Übel.«
»Und was ist das größere Übel?«, fragte Adam seinen Vorgesetzten.
Hauptmann Bär legte den Zeigestab weg, und seine Miene wurde bedeutend ernster. »Bisher haben die Nachrichten nichts darüber berichtet, aber es gibt eine neue radikale Gruppe, die sich selbst das Sirius-Kollektiv nennt. Wir sind uns sicher, dass die meisten, wenn nicht sogar alle gewalttätigen Ausschreitungen auf deren Kappe gehen. Wahrscheinlich ist diese Gruppe auch für den Angriff auf das Polizeihauptquartier verantwortlich. Wir haben keine Ahnung, wie viele Mitglieder dieses selbsternannte Kollektiv hat, und, wo sie sich treffen. Diese feigen Hunde wagen sich nur nachts hinaus. Sie mischen sich unter die Demonstranten und sorgen für Unruhen. Ihr erkennt sie an ihrem schwarzen Halstuch, auf dem das Abbild eines grinsenden Totenkopfes zu sehen ist. Solltet ihr jemanden mit so einem Tuch sehen, dann nehmt ihr die Person am besten gleich in Gewahrsam. Wir hatten bisher keine Möglichkeit, ein Sirius-Mitglied festzunehmen und zu verhören, weswegen unser Wissen über diese Gruppe mangelhaft ist. Der Erste, der einen dieser Hunde fängt, bekommt eine Kiste Bier von mir.« Zustimmender Jubel ertönte durch die Schulbänke. Der Hauptmann wartete, bis sich die Beamten wieder beruhigt hatten. »Noch irgendwelche Fragen?«
Jemand hob die Hand: »Kann es zum Einsatz des Militärs kommen?«
»Nein. Die Situation ist unter Kontrolle. Mir wurde mitgeteilt, dass der Präsident und die Kanzlerin bereits im Parlament sitzen und an einer Lösung arbeiten. Aber ich will ehrlich mit euch sein. Die Sache gestern Nacht, mit dem Transporter, war alles andere als schön. Leider gab es auf unserer Seite einige Tote, jedoch sind die Umstände nicht so übel, wie es die Medien berichten. Tut, was ich euch sage, und ihr werdet spätestens Morgen wieder zu Hause sein.« Der Hauptmann blickte durch den Raum, und nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »In ungefähr zehn Minuten treffen wir uns im Turnsaal. Dort bekommt ihr eure Uniformen sowie entsprechende Bewaffnung. Danach geht es zu eurem ersten Einsatz.« Als er merkte, dass es keine Fragen mehr gab, sagte er: »Bis auf Weiteres bin ich euer Vorgesetzter, euer Ansprechpartner, euer Kollege, und wenn ihr wollt … auch der Direktor dieser Schule.«
Lautes Gelächter breitete sich im Raum aus. Der Hauptmann entließ sie zur Pause und marschierte aus dem Klassenzimmer.
Während seine Kollegen die Pause dazu nützten, um zu rauchen oder das Ergebnis des letzten Fußballspiels zu diskutieren, suchte Adam nach einem Telefon.
Er wollte seine Verlobte anrufen und ihr Bescheid geben, dass er in die Stadt versetzt wurde. Adam erhielt seinen Versetzungsbefehl erst heute Mittag, weshalb ihm keine Zeit mehr blieb, um zu packen. Leider hatte er zu spät gemerkt, dass er sein Handy zu Hause vergessen hatte, weswegen er seiner Verlobten über seine Anreise nicht informieren konnte.
Hinzu kam die Tatsache, dass es sich bei seiner Verlobten um Eva Scheppert handelte. Seitdem Eva zur Kanzlerin gewählt wurde, beschäftige sie sich verständlicherweise intensiv mit der kritischen Lage des Landes. Seit Wochen bemühte sie sich mit aller Kraft, eine Lösung für die Krise zu finden. Darunter litt ihre Beziehung, da sie kaum noch Zeit füreinander hatten. Außerdem lebte Adam auf dem Land, was unweigerlich zu einer Fernbeziehung führte.
Frustriert musste er feststellen, dass es im gesamten Schulgebäude keine Münztelefone mehr gab. Er wollte sich gerade auf den Weg zum Hauptbüro machen, um dort nach einem Telefon zu fragen, als eine dürre Gestalt auf ihn zukam. Es war der junge Kollege, dem er im Schulhof beschützt hatte.
»Kann ich helfen?«, fragte der junge Polizeibeamte dezent und etwas schüchtern.
»Hast du ein Handy? Ich muss jemanden anrufen«, erwiderte Adam.
»Sicher doch!«, sagte der Junge, zog ein dünnes, etwas ungewöhnlich aussehendes Handy aus seiner Hosentasche und gab es seinem Kollegen.
Adam nahm das flache Telefon an sich und reichte dem Jungen seine Hand. »Danke! Mein Name ist Adam.«
»Lukas Kruger«, antwortete der Junge und schüttelte Adams Hand. »Das ist das Mindeste, was ich für dich tun kann, nach deiner Hilfe mit diesem blonden Idioten.«
Adam nickte verständnisvoll und wählte Evas Nummer. Er hörte es klingeln, aber niemand hob ab. Nach dem dritten Versuch ließ er es bleiben. Etwas nervös rieb er mit seinen Fingern am Verlobungsring. Wahrscheinlich befand sich Eva bereits inmitten einer wichtigen Besprechung und hatte deshalb keine Zeit für ihn. Er dachte daran, ihr eine Nachricht auf der Sprachbox zu hinterlassen, doch er wollte mit ihr lieber persönlich reden. Er gab Lukas das Telefon zurück und betrachtete das seltsame Design des kleinen Gerätes.
»Ist das ein neues Modell?«, fragte Adam. »So ein Handy habe ich noch nie zuvor gesehen.«
»Nein, es ist nicht neu. Ich kann dir versichern, dieses Handy wirst du nirgends auf dem Markt finden.« Lukas bemerkte, dass Adam seine Antwort nicht ganz verstand, und fügte hinzu: »Ich will es einmal so ausdrücken – ich bin Bastler, und das Design ist eine Eigenkreation. Ich habe das Handy mit … speziellen Funktionen ausgestattet. Es ist sozusagen ein Unikat.«
Adam genügte die Erklärung und wollte nicht weiter nachfragen.
Mit den kurz geschorenen braunen Haaren, der etwas zu großen Nase für das schmale Gesicht und seinen zwei schwarzen Knopfaugen wirkte Lukas mehr wie eine Karikatur als ein Polizeioffizier. Die dicke Hornbrille half auch nicht besonders fürs Äußere.
»Wen musst du so dringend anrufen?«, fragte Lukas und steckte sein Telefon in die Hosentasche zurück.
»Meine Verlobte«, antwortete Adam.
»Verlobte? Gratulation! Wann wird geheiratet?«
»Wir haben uns noch auf keinen Termin einigen können.« Adam wollte nicht wirklich darüber reden, insbesondere deswegen nicht, da ihn Eva schon seit Wochen mit derselben Frage nervte. »Bist du neu bei der Polizei?«, fragte er, um das Thema zu wechseln.
»Ja, ich habe gerade erst die Ausbildung abgeschlossen und da schicken diese Irren mich tatsächlich hierher. Was haben die sich nur dabei gedacht?« Lukas bückte sich leicht nach vorne und senkte seine Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. »Ich denke nicht, dass es so harmlos war.«
»Wovon sprichst du?«, erwiderte Adam, der ebenfalls zu flüstern begann.
»Von dem Polizeitransporter, der in der gestrigen Nacht angegriffen wurde. Es gibt da einige Gerüchte im Internet. Viele glauben, dass der Angriff schon lange vorher von diesem Sirius-Kollektiv geplant wurde und dass die Unruhen in der Stadt Teil einer Regierungsverschwörung sind.«
Adam erinnerte sich daran, wie sie in den Nachrichten und im Radio über den Transporter sprachen, aber niemand wusste etwas Konkretes. Vielleicht war im Internet mehr über diesen Zwischenfall zu finden. An einer Regierungsverschwörung glaubte er keinesfalls. Was für Vorteile hätte die Regierung von all dem Chaos? Momentan hasste das Volk die Regierung. Er musste wieder an Eva denken. Die Tatsache, dass er sich ohne ihr Wissen in der Stadt aufhielt, nur einige Kilometer von ihr entfernt, machte ihn nervös.
»Wenn alles so unter Kontrolle ist, wie es uns der Hauptmann gesagt hat«, setzte Lukas fort, »wozu brauchen wir dann so unerfahrene Leute wie mich?«
Die Worte seines jungen Kollegen bereiteten Adam Sorgen. Genauso wie Lukas, zweifelte auch er daran, dass die Umstände so harmlos waren, wie es der Hauptmann ihnen glauben machen wollte. Natürlich redete Eva mit ihm über ihre Arbeit als Kanzlerin, aber sie wusste ebenfalls nicht, wie ernst die Lage wirklich war. Niemand wusste es.
Lukas machte ein paar unbeholfene Gesten, die zur Tür zeigten. »Wollen wir an die frische Luft gehen?«
Adam hatte nichts gegen ein wenig Gesellschaft. Er mochte es nicht, sinnlos herumzustehen und nur Däumchen zu drehen. Da ihnen noch genug Zeit blieb, bevor sie sich im Turnsaal melden mussten, verließen sie das Gebäude durch einen Seitenausgang.
Die Nachtluft wehte etwas stürmisch, aber irgendwie erfrischend. Sie spazierten zum Sportplatz der Schule.
»Du kommst von außerhalb?«, fragte Lukas und unterbrach damit ihr Schweigen.
»Ja, aus einem kleinen Dorf, etwa zwei Stunden entfernt von hier. Irgendwer dachte sich wohl, dass dieses Kaff eine eigene Polizeistation bräuchte.«
»Ist viel los bei euch?«
»Nein. Meistens nur Schnellfahrer gestoppt und Langeweile bekämpft. Einmal wurde einem Tierzüchter ein Schwein gestohlen. Aber es stellte sich heraus, dass der Züchter selbst das Schwein geschlachtet hatte. Er war nur zu betrunken, um sich noch daran zu erinnern. Was ist mir dir, Lukas? Woher kommst du?«
Adam sah zum jungen Kollegen hinüber, der den Sportplatz begutachtete, als wäre er ein völlig fremdes Terrain für ihn.
»Ach, da gibt es nicht viel zu berichten. Ich komme aus dem Norden. Ich bin ziemlich gut mit dem Computer, weswegen mich die Polizei auch angeheuert hat. Ihnen fehlt es an erfahrenem Personal für die Bekämpfung der Cyberkriminalität. Ich hätte nie gedacht, dass ich bei der Polizei landen würde. Aber wenigstens habe ich eine Arbeit.«
»Wie alt bist du?«, wollte Adam wissen.
»Bin gerade erst achtzehn geworden«, antwortete Lukas. »Wegen meiner technischen Kenntnisse musste ich nicht das gesamte Aufnahmetraining auf der Akademie mitmachen, wenn du verstehst.«
Nun wurde Adam einiges klar. Mit der dürren Figur und den jungen Jahren hätte Lukas es nie durch das Basistraining der Polizeiakademie geschafft. Aufgrund seines technischen Talents hatte man ihn sozusagen durch die Aufnahmeprüfungen geschleust.
Es wurde an der Zeit, zum Turnsaal zu gehen. Adam und Lukas waren die Letzten, die im Saal eintrafen. Adam erspähte den blonden Kollegen, der den beiden einen verächtlichen Blick schenkte.
Anstatt irgendwelcher Turngeräte standen etliche Kartonschachteln herum. Zwei Unteroffiziere entnahmen aus den Kartons Uniformen und Ausrüstungsgegenstände, die sie geordnet auf einen Tisch aufreihten. Die Schusswaffen hatte man in einem abgeschlossenen Eisenschrank untergebracht.
Hauptmann Bär bat um Ruhe und begann zu sprechen: »Uns bleibt nicht mehr viel Zeit, deswegen wollen wir gleich anfangen.« Er stellte sich vor den Tisch. »Was ihr vor euch seht, ist die Ausrüstung, die ihr für den heutigen Einsatz bekommen werdet. Das Meiste davon habt ihr wahrscheinlich bereits in der Ausbildung oder im aktiven Dienst verwendet, trotzdem möchte ich eure Erinnerung kurz auffrischen.« Der Hauptmann hob einen Gegenstand in die Höhe. »Was wir hier haben, ist eine Splitterschutzweste. Ich kann gar nicht oft genug betonen, wie wichtig die Weste ist. Zwar erwarten wir keine Granatenangriffe, aber es werden Steine und Flaschen fliegen, und eines könnt ihr mir glauben, die Glassplitter wollt ihr nicht abbekommen. Des Weiteren bekommt ihr einen Schutzschild aus brech- und biegsicherem Plexiglas. Zusätzlich erhaltet ihr einen Helm mit Schutzvisier. Geht nie ohne Helm in den Einsatz. Jetzt zu den Waffen.«
Es wurde totenstill im Turnsaal.
»Eure Primärwaffe ist der klassische Schlagstock aus Hartgummi. Ihr alle habt damit trainiert, und ich hoffe, ihr erinnert euch noch an den Kampfdrill aus der Grundausbildung. Manche von euch werden dieses Schmuckstück verwenden.« Er nahm einen Granatwerfer in die Hand, knickte den vorderen Teil nach unten und legte eine zylinderförmige Patrone in den Lauf. »Einfach zu laden und zu entladen. Es werden Tränengaspatronen und Rauchgaspatronen benützt. Wir haben leider nicht genug Granatwerfer, deshalb bekommen nur einige von euch so ein Ding. Aber, womit jeder von euch bewaffnet sein wird, ist das hier.« Der Hauptmann hielt eine handflächengroße Spraydose in die Höhe. »Eine Pfefferspraydose. Die Dose hat nur eine begrenzte Reichweite und Menge, also vergeudet nichts davon. Seid euch sicher, auf wen oder was ihr sprüht.«
Nach der Einweisung gingen die Beamten zu den Umkleidekabinen und zogen die Polizeiuniformen an, danach holten sie die Ausrüstung ab: einen Helm, Handschuhe, Armschutz, Beinschutz, Schulterschutz, eine Splitterschutzweste, einen taktischen Einsatzschild, ein Walkie-Talkie, eine Pfefferspraydose und einen Schlagstock. Als Adam merkte, dass Lukas mit dem Equipment überfordert war, half er dem Jungen beim Aufrüsten. Der Blonde beobachtete die beiden und konnte sich ein höhnisches Grinsen nicht verkneifen.
Nachdem sie fertig aufgerüstet waren, erklärte der Hauptmann ihnen den ersten Einsatz: »Die Demonstranten planen einen Protestmarsch beim städtischen Zoo. Euer Auftrag lautet, sie zu begleiten und dafür zu sorgen, dass es zu keinem Zwischenfall kommt.« Der Hauptmann trat näher heran, und seine Stimme wurde tiefer. »Der Zoo liegt gefährlich nahe am Stadtzentrum, deshalb wird uns das Hauptquartier Verstärkung schicken. Trotzdem solltet ihr extrem vorsichtig sein. Passt auf euch auf.«
Vor der Schule wartete bereits ein Polizeitransporter auf sie. Adam, Lukas und der Blonde stiegen mit zehn weiteren Kollegen in das Fahrzeug. Nachdem der Transporter vollbesetzt war, begann die Fahrt in Richtung Stadtzentrum – der roten Zone.
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Der kleine, weißlackierte Wagen bot nicht wirklich genug Platz, um sich umzuziehen, doch Alice kannte ein paar Tricks, um sich den nötigen Spielraum zu verschaffen. Ihre weißen Stiefel, die nach dem Herumlaufen auf der matschigen Wiese alles andere als weiß waren, verstaute sie unter dem Beifahrersitz ihres Autos. Ihre rosa Jacke schmiss sie auf den Rücksitz. Von Lydia bekam sie eine alte Jeans, ein Paar gebrauchte Sportschuhe und einen dicken, grauen Pullover.
Die Sachen gefielen Alice überhaupt nicht. Die Sportschuhe waren zwar bequem, zeigten aber bereits Verschleißerscheinungen, und in der alten Jeans sah ihr Hintern fett aus. Der hässliche Pullover übertraf jedoch alles. Nicht nur, dass der Wollpullover sie am gesamten Oberkörper kratzte, er verschluckte auch ihre kurvenreiche und durchtrainierte Figur. Sie fühlte sich darin einfach nur plump und dick. All die Stunden auf dem Laufband und das Pilates-Training waren umsonst, stellte sie frustriert fest. Das Outfit ruinierte das äußere Gesamtbild, ihr äußeres Gesamtbild. In dieser Aufmachung würde es schwer werden, Albert zu verführen. Sie gab ein wehmütiges Schluchzen von sich.
Lydia trug eine enganliegende Jeans, die ihre langen Beine betonte, und ein hautenges T-Shirt. Ihre Freundin war schöner anzusehen als sie selbst, empfand Alice. Es grauste ihr vor den geborgten Kleidungsstücken und entschied sich dafür, Lydia die Sachen wieder zurückzugeben. Geschwind schlüpfte sie in ihr Cocktailkleid mit den Tigerstreifen und in ihre weißen, mit Dreck beschmutzen Stiefel. Statt der rosa Jacke nahm sie ihren schwarz-weiß gestreiften Designermantel, den sie in der letzten Season gekauft hatte. Nach dem erneuten Umziehen fühlte sie sich um einiges wohler.
»Denkst du, das alles hier …«, Alice deutete auf die Zelte, »… wird morgen vorbei sein?« In Gedanken hatte sie bereits ihren ersten romantischen Urlaub mit Albert geplant.
»Ich hoffe doch sehr, dass sich die Lage bald wieder beruhigen wird«, meinte ihre Freundin und faltete den grauen Pullover zusammen. »Die Stimmung und Moral der Leute ist seit dem Mirabella-Vorfall ziemlich im Keller.«
»Mirabella-Vorfall?«, fragte Alice ahnungslos.
»Lebst du auf dem Mond? Das kleine Mädchen, das fast zu Tode getrampelt wurde.«
»Ach ja genau, … das Mädchen. War furchtbar die Sache.« Da Alice keine Nachrichten schaute, sondern sich nur für den neuesten Klatsch und Tratsch aus der Filmwelt interessierte, hatte sie nicht die geringste Ahnung, wovon Lydia sprach.
Sie nahm das rosa Make-up Kästchen aus ihrer Handtasche und schminkte ihre Augenpartien mit einem blauen Lidschatten und einem Kajalstift, der ihre grünen Augen besser zur Geltung brachte. Sie entschied sich dafür, keinen Lippenstift zu benützen, stattdessen verwendete sie einen Vaselinestift, um spröde Lippen zu vermeiden. Die Nacht war zwar warm und feucht, trotzdem wollte sie lieber nichts riskieren. Außerdem wäre es peinlich, wenn sie Albert mit aufgesprungenen Lippen küssen würde. Schlussendlich lockerte sie ihre blond gefärbten Haare noch ein wenig auf.
Als sie aus dem Auto stieg, deutete Lydia auf die Designertasche. »Ich denke, die solltest du lieber im Wagen lassen, sonst wird’s unpraktisch.« Alice sah die Handtasche an und gab ihrer Freundin recht. Die Leute im Lager machten auf sie keinen vertrauenswürdigen Eindruck, und sie vermutete, dass die Tasche wahrscheinlich mehr gekostet hat, als diese Menschen in einem Monat verdienen würden. Sie nahm die Autoschlüssel, ihr Handy, ein Kondom (nur für alle Fälle), eine Zigarettenpackung und ihr rosa Feuerzeug aus der Handtasche und steckte die Sachen in die Seitentaschen ihres Mantels.
Nachdem sie das Auto abgeschlossen hatte, spazierten beide Frauen zurück ins Zeltlager. Alice wollte jedoch nicht mit diesen schmutzigen Stiefeln herummarschieren. Es wäre ihr unangenehm gewesen, wenn Albert sie in diesem Zustand gesehen hätte. Lydia erklärte sich bereit, sie zur Wasserversorgungsstelle zu bringen, wo sie ihre Schuhe reinigen konnte.
Das Zeltlager wirkte auf Alice wie ein Armenviertel, zumindest stellte sie sich so ein Armenviertel vor. Nicht, dass sie je wirklich eines besucht hatte.
Alice Pollux kam aus einer wohlhabenden Familie. Die Pollux-Dynastie ging aus einem alten Adelsgeschlecht hervor, sogar ein König befand sich im Stammbaum der Familie. Aber das lag schon viele hunderte Jahre zurück. Ihr gefiel jedoch der Gedanke, dass sie einer königlichen Blutlinie abstammte. Sie fühlte sich dadurch wie eine richtige Prinzessin. Natürlich hätte sie das nie laut ausgesprochen, schließlich sollte sie niemand für arrogant und eingebildet halten.
Aufgrund der langen Geschichte der Pollux-Dynastie bekleideten viele Mitglieder der Familie hohe gesellschaftliche und politische Stellungen. So auch ihr Vater, Richard Pollux, der zum Präsidenten des Landes gewählt wurde. Glücklicherweise gehörte ein gewisses Maß an Anonymität zum guten Ton in der Polluxfamilie, weshalb ihr Vater dafür gesorgt hat, dass die Medien seine zwei Kinder in Ruhe ließen, und es den beiden so möglich war, ein anonymes Leben zu führen.
Alice lernte bereits in jungen Jahren, ihren vollen Namen geheim zu halten. Besonders bei ihrem Medizinstudium wäre es extrem störend gewesen, wenn jeder darüber Bescheid gewusst hätte, dass sie die Tochter des Präsidenten war. Da sie weder Lydia noch Albert gut genug kannte, um ihnen zu vertrauen, verschwieg sie den beiden ihre Herkunft. Doch heute Nacht wollte sie Albert ihre wahre Identität preisgeben. Wenn er erfährt, von welch edler Familie sie abstammte, würde er sich sofort in sie verlieben. Jedenfalls hoffte sie das.
Fasziniert, aber auch angeekelt beobachtete Alice das Zeltlager und deren Bewohner. Die Menschen lebten in einfachsten Verhältnissen. Zwar standen ein paar Wohnmobile herum, doch die überwiegende Mehrheit besaß nur Zelte, von denen die meisten schlicht und klein waren. Während einige Zeltbewohner mit ihren Gasbrennern Dosenfutter erwärmten, sammelten sich andere wiederum bei den großangelegten Lagerfeuern. Viele von ihnen schienen bereits seit Wochen oder sogar noch länger hier zu leben. Alice fragte sich, wie Menschen nur so existieren konnten, ohne ein ordentliches Dach über den Kopf zu haben. »Woher kommen all diese Leute? Ich dachte, nur Studenten nehmen an den Demos teil?«
»Nein, es kommen schon seit längerem nicht nur Studenten hierher«, antwortete Lydia. »Wir sind eine buntgemischte Truppe. Bei den meisten Fällen handelt es sich um Menschen, die dank der Regierung nichts mehr besitzen. Arbeiter ohne Jobs, Familien ohne Häuser, Schüler ohne Schulen, Studenten ohne Universitäten, Pensionisten ohne Altersheim, Ärzte ohne Praxen und Asylanten ohne Heimat.« Kleine Kinder liefen an den beiden jungen Frauen vorbei und spielten mit einem Hund. »Viele haben nach dem großen Wirtschaftskollaps ihr Hab und Gut verloren und mussten ihre Häuser zwangsräumen.«
Lydia schien sich an die Armut bereits gewöhnt zu haben, Alice hingegen hatte eine völlig andere Vorstellung von dem Abend gehabt. Sie stellte sich die ganze Sache witziger und romantischer vor, mehr wie eine Party oder ein Open Air Festival mit jungen, knackigen Burschen. Nie hätte sie sich gedacht, eine derart triste Umgebung vorzufinden.
»Dort ist die Wasserversorgungsstelle!«, rief ihre Freundin und zeigte auf eine Reihe von Containern, die randvoll mit Wasser gefüllt waren.
Die beiden beobachteten, wie eine Frau eine leere Plastikflasche unter einem Zapfhahn stellte, den Hahn aufdrehte und die Flasche mit Wasser füllte. Alice tat es der Frau gleich, ging zum nächstgelegenen Container, hielt ihre dreckigen Stiefel darunter und betätigte den Zapfhahn. Das Wasser sprudelte nur so gegen ihre Stiefel, und der Schlamm löste sich langsam auf, bis ihre Schuhe wieder in ihrem ursprünglichen Weiß erstrahlten.
»Hey, ihr da! Was soll der Blödsinn?«, rief ein Mann ihnen zu. »Dreht sofort das Wasser wieder ab!«
Alice tat, wie befohlen.
»Was glaubt ihr, was ihr da macht?«, schrie der Mann die beiden Mädchen an.
»Ich musste meine Schuhe putzen, sie waren dreckig«, stammelte Alice als Antwort.
»Ach, die Schuhe musste sich die feine Dame putzen!«, sagte der Mann spöttisch. »Ich glaube, ich spinne! Wisst ihr denn nicht, dass das unser Trinkwasser ist? Das brauchen wir zum Überleben und nicht fürs Reinigen von ein paar läppischen Schuhen.«
Hätte der Mann gewusst, wie teuer diese Stiefel waren, hätte er sie nicht »läppisch« genannt, dachte sich Alice.
»Regen Sie sich ab!«, keifte Lydia zurück. »Es war ja nicht viel Wasser. Außerdem werden die Container mit dem Regenwasser wieder neu aufgefüllt, und laut der Wettervorhersage wird es heute Nacht noch regnen. Also nur keinen Stress.«
»Nur keinen Stress? Haut ab, bevor ich euch Stress mache! Und lasst euch hier nicht wieder blicken, ihr verzogenen Gören!« Der Mann untermalte seine Worte mit einer drohenden Faust, aber die beiden Mädchen rannten bereits kichernd davon. Als sie weit genug weg waren, wuchs das Kichern zu einem lauten Lachen.
Sie kehrten zum Zelt mit der Nummer 7 zurück, wo sich einige Jugendliche um Albert Krowley geschart hatten. Er stand auf einer Kiste und hielt eine leidenschaftliche Rede. »Wir werden diesem starren und verkrusteten Herrschersystem zeigen, dass es keine Macht mehr über uns hat. Die Zeit des Patriarchen ist vorbei. Das weibliche Yin wird sich mit dem männlichen Yang harmonisieren. Wir erschaffen eine neue Gesellschaftsform, in der es keine Tyrannei geben wird, die uns unterdrücken und ausbeuten kann. Wir werden eine empathische Kommune bilden, die selbst eure kühnsten Träume und Erwartungen übersteigen wird. In dieser Kommune wird jeder gleichbehandelt, und niemand soll benachteiligt sein. Jedem wird der freie Zugang zu Bildungsstätten und Gesundheitseinrichtungen gewährt, ob Mann oder Frau, reich oder arm, jung oder alt. Niemand wird ausgeschlossen. Jeder wird sein eigener Herr sein; sein eigener Erlöser. Ich prophezeie euch, meine Brüder und Schwestern, dass unsere Kommune wachsen wird, wie einst die Bäume im Garten Eden wuchsen. Die Früchte unserer Bäume werden die Erkenntnis einer neuen spirituellen Wahrheit tragen, von denen wir uns laben können, sooft und soviel wir wollen. Und kein überpotenter, rachsüchtiger Patriarch wird im Stande sein, es uns zu verbieten. Ihm wird es nicht möglich sein, uns aus unserem eigenen Paradies zu verbannen. Stattdessen werden wir diejenigen sein, die diesen alten Greis aus dem Garten hinauswerfen. Er wird keinen Zutritt zu unserem Königreich der Erleuchtung haben. Meine Brüder und Schwestern, ich prophezei euch eine neue Bewusstseinsebene. Das Zeitalter der Ignoranz und der Unterdrückung ist vorbei! Heute Nacht beginnt das Zeitalter der Erleuchtung und der Freiheit!«
Die Menschen im Zelt jubelten, pfiffen und klatschten vor Begeisterung in die Hände. Albert verbeugte sich vor seinem enthusiastischen Publikum. Auch Lydia und Alice applaudierten, obwohl Alice nicht wirklich verstand, was er mit diesem esoterischen Geschwafel meinte, aber er sah dabei sexy aus, und das ist alles, was für sie zählte.
Die Leute klopften Albert zustimmend auf die Schulter, und er schüttelte seinen Mitstreitern die Hände, während er auf die beiden jungen Frauen zuging. »Hey! Wo seid ihr so lange geblieben?«
»Ich musste aus dem Auto noch ein paar Sachen holen. Hast du uns vermisst?«, fragte Alice in der Hoffnung, ein »Ja« zu hören, doch er wich ihrer Frage aus.
»Hast du dein Auto abgesperrt, Alice? Es gibt im Lager einige Diebe, die diese unglückliche Situation ausnützen.«
»Ja, das habe ich«, erwiderte sie etwas enttäuscht über seine Antwort. Zu allem Überfluss war sie sich jetzt nicht mehr sicher, ob sie ihren Wagen tatsächlich abgesperrt hatte. Sie hasste es, wenn das passierte. Zurückgehen wollte sie jedoch auch nicht, dann würde sie nur als dumme Kuh dastehen. Der Gedanke, dass jemand ihr schönes Auto stehlen könnte, machte sie nervös. Zur Beruhigung beschloss sie eine Zigarette zu rauchen und nahm die Zigarettenpackung aus ihrer Manteltasche. Gerade als sie die Zigarette anzünden wollte, schnappte Albert danach und warf sie auf den Boden.
»Wir rauchen nicht!«, sagte er in einem strengen Tonfall. »Du weißt doch: Rauchen schadet deiner Gesundheit. Zigaretten vergiften deinen Körper und verschmutzen deine reine Seele, außerdem verursachen sie Lungenkrebs. Im Übrigen wollen wir diese korrupte und verlogene Tabakindustrie nicht auch noch unterstützen.«
»Oh! Natürlich! Diese Teufel! Nieder mit der Tabakindustrie!«, antwortete Alice mit vorgeheucheltem Protest. Bei jedem anderen wäre sie nach einer solchen Aktion ausgerastet, nicht jedoch bei Albert. Sie konnte ihm nicht böse sein, dafür sah er einfach viel zu gut aus. Sie musste sich wohl in Enthaltsamkeit üben.
»Ich hoffe, ihr seid bereit für eure erste Demonstration«, sagte er mit einem charmanten Lächeln.
»Wo findet sie statt?«, fragte Lydia.
»Wir haben beim Zoo einen Protestmarsch geplant.«
Protestmarsch? Das klingt anstrengend, dachte Alice und stöhnte innerlich.
»Unser Gemeinschaftsbus wird uns abholen.« Kaum hatte Albert den Satz ausgesprochen, da kam das Fahrzeug auch schon laut hupend beim Zelt an.
Alice hoffte, im Bus endlich genug Zeit alleine mit Albert verbringen zu können. Ein Ausflug war immer eine gute Gelegenheit zum Flirten. Außerdem wollte sie ihn nach dem purpurnen Vorhang im Zelt befragen, zu dem sie keinen Zutritt hatte. Alice hatte noch nie Probleme gehabt, in die VIP-Lounge der besten Clubs zu gelangen. Warum hätte es hier anders sein sollen? Es war nur eine Frage der Zeit, bis ihr der Zutritt hinter diesem mysteriösen Vorhang gewährt werden würde.
Als Albert und Lydia in den Bus stiegen, hob Alice heimlich die am Boden liegende Zigarette wieder auf, wischte den Dreck ab und steckte sie zurück in die Verpackung. Die werde ich noch bitter nötig haben, dachte sie und ging zum Bus.
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Kanzlerin Eva Scheppert und Präsident Richard Pollux befanden sich gerade auf dem Weg zum Plenarsaal, als sie die Nachricht erhielten, dass die Sitzung verschoben wurde. Der Gewerkschaftsrat verspätete sich, und so wie es aussah, würde es noch einige Zeit dauern, bis die Krisensitzung beginnen konnte.
Eva wunderte sich nicht über die Verspätung. Wegen des Streiks kam es zum Stillstand des öffentlichen Nahverkehrs. Hinzu kam die Arbeitsverweigerung der Müllmänner, wodurch der herumliegende Abfall die Straßen und Gassen blockierte. Außerdem bestand die Gefahr, von Plünderern oder anderen Verbrechern überfallen zu werden, weswegen ein Spaziergang zu Fuß nicht zu empfehlen war. Aufgrund dieser Zustände wollte auch niemand das Parlamentsgebäude ohne Sicherheitsschutz verlassen. Aber das Parlament zu verlassen, war sowieso keine Option, schließlich mussten sie eine Lösung für die derzeitige Krise finden.
Das Parlamentsbüro des Präsidenten war geschmackvoll eingerichtet. Neben den stilvollen Möbelstücken und Extras wie Mini-Kühlschrank und Fernseher war das Zimmer sogar mit einem Bad ausgestattet. In der Mitte des Raumes befand sich ein Glastisch, auf dem ein Schachbrett stand. Die schwarzen und weißen Schachfiguren waren bereit für eine neue Partie.
Eva setzte sich auf die Ledercouch und holte ihren Computer aus der Tasche. Sie versuchte, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, aber es schwirrten ihr unzählige Gedanken durch den Kopf. Wie sollte sie eine Lösung für die Krise finden? Was wird mit den Menschen da draußen geschehen? Wie konnte es zu diesem Schlamassel kommen?
Sie musste an Adam denken, der – wie sie zu diesem Zeitpunkt noch annahm –, sich außerhalb der Stadt in einem kleinen Dorf aufhielt. Seit dem großen Wirtschaftskollaps füllte sich ihr Terminkalender, weshalb sie ihn nur noch an den Wochenenden sah, wenn überhaupt. Nach dem gestrigen Überfall auf den Transporter, der den Tod zweier Polizisten zur Folge hatte, war sie zum ersten Mal froh darüber, dass Adam seinen Polizeidienst auf dem Land fernab von dem Chaos der Großstadt verrichtete. Sie nahm ihr Handy aus der Tasche und sah auf dem Display die unzähligen unbeantworteten Anrufe. Keiner der Nummern gehörte zu ihrem Verlobten. Enttäuscht legte sie das Telefon wieder zurück.
Es klopfte an der Tür.
Draußen am Korridor stand ein älterer Herr im Sportanzug. Es war Jacomo, der Friseur des Präsidenten.
Nachdem die Sitzung verschoben wurde, ließ Pollux nach ihm rufen. Natürlich wäre Jacomo lieber bei seiner Frau und seinen drei Kindern geblieben, als dem Präsidenten mitten in der Nacht die Haare zu schneiden. Besonders bei all den Unruhen wollte er seine Familie nicht alleine lassen, aber das hätte sich Jacomo nie getraut, dem Präsidenten ins Gesicht zu sagen. Er lächelte nur freundlich und hoffte auf ein baldiges Ende.
Während der Friseur die nötigen Vorbereitungen traf, um Teile des Büros in einen improvisierten Haarsalon umzuwandeln, nutzte Eva die Gelegenheit, die Daten auf ihrem Computer zu durchforsten.
»Woran arbeiten Sie«, fragte der Präsident neugieriger.
»Ich werte die Zahlen der letzten Quartale aus, um für die Verhandlungen mit dem Gewerkschaftsrat eine geeignete Basis zu finden.«
Präsident Pollux brummte zustimmend und genehmigte sich ein Glas Scotch. Auf Jacomos Wunsch hin, setzte er sich in den drehbaren Ledersessel, vor dem der Friseur einen Spiegel aufgestellt hatte. Jacomo band dem Präsidenten eine schwarze Schürze um und begann dessen Haare nachzufärben.
Die grauen Haare mussten weg.
Nicht unbedingt, weil der Präsident eitel war, sondern aufgrund der Popularität. Die letzten Umfragen hatten ergeben, dass Politiker mit grauen Haaren oder Politiker mit Glatze eine bis zu dreißig Prozent geringere Beliebtheit bei den Wählern erzielten, als Politiker mit vollem, kräftigem Haar. Da noch einige Pressetermine für diese Nacht geplant waren, wollte der Präsident sich von seiner besten Seite zeigen. Deshalb befahl er Jacomo, seine grauen Haare mit einem gesunden, jungen Haselnussbraun zu kaschieren. Sicher spielte, wie bei den meisten Politikern, auch die Eitelkeit eine Rolle, darüber sprach man jedoch nicht.
Was die Wähler nicht wussten, war die Tatsache, dass Pollux von Natur aus rote Haare hatte. Seit seiner Jugend ließ er sie braun färben. Laut einer Studie misstrauten die Leute einen Politiker, der rotes Haar hat. Mit dem Alter kamen die grauen Haare, und vom roten Farbton war nichts mehr zu sehen. Außer ein paar alten Jugendfotos bewiesen nur noch seine zwei Kinder, Alice und Peter, seine einst feuerrote Haarpracht. Beide Sprösslinge erbten dieses markante Erscheinungsbild von ihm. Der Präsident hatte aber dafür gesorgt, dass die Medien die Kinder nie zu Gesicht bekamen, so ersparte er sich auch etwaige Fragen bezüglich seiner Haarfarbe.
Derweil Jacomo die Haare des Präsidenten färbte, erledigte Eva einige Telefonate mit ihren Parteimitgliedern, die entweder nicht kommen konnten oder bereits auf dem Weg waren. Es gab viel zu tun. Leider konnte ihre Assistentin, Frau Mirna, nicht bei ihr sein und ihr bei der Arbeit aushelfen. Sie traute sich nämlich vor Angst nicht aus dem Haus. Während Eva vollstes Verständnis für Frau Mirnas Verhalten hatte, zeigte sich der Präsident mit seiner Assistentin nicht so nachsichtig. Er kündigte sie fristlos, nachdem sie nicht zur Arbeit erschien.
Nach etlichen Telefongesprächen gönnte sich die Kanzlerin eine Pause und ließ sich wieder in die bequeme Couch fallen.
Der Präsident bemerkte Evas Erschöpfung. »Sie machen sich zu viele Sorgen, Frau Scheppert«, beschwichtigte er. »Schonen Sie Ihre Kräfte für die Krisensitzung.«
»Danke, aber ich glaube, die Kanne Kaffee, die ich heute getrunken habe, wird mich noch für einige Zeit wach halten.«
»Diese einfältigen Leute!«, stieß Präsident Pollux zornig hervor. »Wären sie nicht so undankbar und gierig, wären wir alle nicht in dieser Lage.«
»Von wem sprechen Sie, Herr Präsident?«, fragte Eva, die nicht ganz genau verstand, worauf er hinaus wollte.
»Natürlich vom Volk, Frau Scheppert! Ich spreche vom Volk! Reden wir doch einmal offen miteinander. Auf dieser Welt gibt es nur zwei Klassen von Menschen: die Klasse, die führt und herrscht, und die Klasse, die folgt und dient. So funktioniert unsere Gesellschaft. Als noch die Pharaonen, Cäsaren, Könige und Imperatoren regierten, unterwarf sich das Volk bereitwillig der göttlichen Macht ihrer Herrscher und verehrte sie dementsprechend. Die Leute kannten ihren Platz in der Gesellschaft und akzeptierten ihn. Damals wusste man, dass nicht jeder zum Herrscher geboren ist, sondern nur ausgewählte Menschen dieses Privileg besitzen. Menschen mit dem richtigen Blut. Aber mit der Zeit wurde das Volk anmaßend und überheblich, es stellte sich mit den Herrschern auf eine Stufe.«
»Ich muss zugeben, dass ich über Ihre Ansichten etwas schockiert bin«, erwiderte Eva. »Schließlich stamme ich selber aus einer einfachen Arbeiterfamilie. Und trotz meiner bescheidenen Herkunft, meiner Hautfarbe und meinem Geschlecht, habe ich mir diese Stellung hart erarbeitet. Ich denke, jeder kann durch ehrliche Arbeit und Fleiß an die Spitze gelangen, unabhängig seiner Abstammung und seines Blutes.«
Präsident Pollux nahm einen weiteren Schluck Scotch und murmelte: »Wenn Sie das glauben wollen, Frau Scheppert.« Nachdem er das Glas geleert hatte, fuhr er fort: »Wäre die Klasse von Menschen, die folgt und dient, nicht so unersättlich und würden sie sich mit dem zufriedengeben, was ihnen zusteht, so wäre diese Krise erst gar nicht entstanden. Zuerst war es das Wahlrecht, danach kam der freie Zugang zu den Schulen und anderen Bildungseinrichtungen, gefolgt von der freien medizinischen Versorgung und so weiter und so fort. Alles soll gratis und für jeden frei zugänglich sein, aber niemand möchte dafür bezahlen. Kaum reicht man ihnen den kleinen Finger, schon wollen sie die ganze Hand. Natürlich musste es früher oder später so weit kommen.« Der Präsident wurde still. Jacomo nahm seine Schere und begann, die nun braun gefärbten Haare zurechtzuschneiden.
»Ich glaube«, sagte Eva, »die Leute sehen die Situation etwas anders als Sie es tun, Herr Präsident. Die Bürger sind der Ansicht, dass die Elite auf Kosten des Volkes immer gieriger wird.«
»Gierig? Wir sind nicht gierig«, meinte der Präsident energisch. »Wir nehmen nur das, was von Geburt an rechtmäßig unser ist. Wir gehören immerhin zur gehobenen Klasse, der Führungsklasse. Herrscher haben Privilegien, und das Volk sollte dankbar darüber sein, für diese Privilegien aufkommen zu dürfen. Gäbe es uns nicht, wären die Menschen wie Kinder ohne Eltern. Wer sonst würde ihnen sagen, was sie zu tun haben und was nicht? Wenn es uns nicht gäbe, würden die Leute verzweifelt und kopflos umherirren. Niemand würde für die nötige Struktur und Ordnung sorgen. Ohne uns bekämen sie nichts mehr zustande. Ohne Herrscher gäbe es nur unkontrollierbares Chaos. Das ganze Land, ja sogar unsere ganze Zivilisation würde zusammenbrechen. Ohne die Führung und die Vision der Elite wären die Menschen nichts weiter als herrenlose Tiere, die sich gegenseitig zerfleischen würden. Niemand würde sie im Falle eines Krieges kommandieren. Niemand würde ihre Schulen und Krankenhäuser organisieren, und sie hätten niemanden, der ihnen sagt, wann sie den Müll zu beseitigen haben. Schauen Sie hinaus, Frau Scheppert! Sehen Sie, wie der ganze Abfall unsere Straßen verstopft? Man kann bereits den verfaulten Gestank bis hinauf ins Parlament riechen. Die Bürger verhalten sich wie Kinder, die ihre Zimmer nicht aufräumen wollen und lieber in ihrem eigenen Mist ersticken. Und der Gewerkschaftsrat verwöhnt diese Arbeiterklasse auch noch mit Begünstigungen und Rechten. Dieses Schmarotzerpack ist einfach nur faul und … Ouch! … Pass doch auf Jacomo!«
Der Friseur hatte ihn mit der Schere am Ohr geschnitten. »Verzeiht mir, Herr Präsident!«, sagte er und holte ein Taschentuch, das er gegen die Verletzung drückte. Nachdem die Wunde aufgehört hatte zu bluten, setzte er seine Arbeit fort.
Eva wollte die Aussage des Präsidenten, die sie als sehr verstörend empfand, widerlegen, als ihr Telefon anfing zu läuten. Nach einem kurzen Gespräch legte sie wieder auf.
»Mir wurde soeben mitgeteilt, dass die Medien über die erste Demonstration der heutigen Nacht live berichten werden.« Sie nahm die Fernsteuerung des Fernsehers, der an einer der Wände des Büros befestigt war, und schaltete das Gerät ein.
Jacomo wurde mit seiner Arbeit fertig und räumte seine Sachen zusammen. Präsident Pollux betrachtete mit zufriedener Miene seine neue Frisur im Spiegel. Jacomo bekam für seine Dienste weder eine Bezahlung noch Trinkgeld, aber das kümmerte ihn nicht. Er war einfach nur froh, dass er endlich wieder zu seiner Familie gehen konnte.
»Wo soll die Demonstration stattfinden?«, fragte Pollux.
»Beim Zoo«, erwiderte Eva, die einen Nachrichtenkanal suchte. »Sie demonstrieren beim städtischen Zoo, Herr Präsident.«
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Peter holte mit seiner neuen Axt weit aus und schlug einer ausrangierten Schaufensterpuppe den Kopf ab. Dank des Holzgriffes war die Axt leicht zu handhaben. Die stählerne Schneide war scharf wie eine Rasierklinge und schnitt durch den Puppenkopf wie durch warme Butter. Sein Hieb traf die Puppe mit solch einer Wucht, sodass sich der Keil in die Erde bohrte und dort stecken blieb. Es bedarf Peter einiges an Anstrengung, um die Axt wieder aus dem Erdboden herauszuziehen.
Da im Industrieviertel allerlei Müll herumlag, musste er nicht lange suchen, um etwas zu finden, an dem er seine Waffe ausprobieren konnte. Eigentlich wollte er an lebenden Objekten üben, aber er konnte weder eine Ratte noch eine herumstreunende Katze aufstöbern.
Peter war gerade auf der Suche nach einem weiteren Gegenstand, an dem er sich austoben konnte, als A1 auf ihn zukam. »Nettes Spielzeug, A76667«, sagte der Anführer des Sirius-Kollektivs.
»Danke!«, erwiderte der Junge stolz.
Sie befanden sich auf dem Parkplatz vor der Autofabrik, in der vor Kurzem ein Treffen aller Kollektivmitglieder stattgefunden hatte. Die Zusammenkunft zeigte ihre wahre Stärke als Kollektiv. Die Anzahl der Anhänger beeindruckte Peter, und laut A1 waren sie der Polizei zahlenmäßig bei weitem überlegen.
»Darf ich einmal?«, fragte A1.
Peter überreichte dem Anführer die Axt.
A1 führte einige schwunghafte Bewegungen aus. »Da hast du eine hervorragende Wahl getroffen, A76667«, lobte er den Jungen und gab ihm die Axt wieder zurück. »Dein Kamerad, A2013, hat mir von eurem Ausflug zum Eisenwarenladen erzählt, und wie du den Besitzer und seinen Freund in Schach gehalten hast. Du musst ein guter Kämpfer sein, wenn du dich mit zwei ausgewachsenen Männern messen kannst, und noch dazu als Sieger hervorgehst.«
»Ich hatte ein paar Stunden in Kickboxen«, meinte Peter verlegen. »Aber es ist nicht der Rede wert.«
»Lass mal sehen«, sagte A1 und nahm eine Kampfstellung ein.
Peter sah verwirrt drein und fragte verblüfft: »Jetzt? Hier? Wie …«
Er konnte den Satz nicht mehr beenden, denn A1 verabreichte ihm einen Fußtritt gegen die Brust, wodurch der Junge rücklings zu Boden fiel. Die Axt glitt ihm dabei aus seiner Hand.
»Nicht reden, A76667! Kämpfen!«, forderte ihn sein Gegenüber auf und vollführte eine zweite Beinattacke. Diesmal war Peter vorbereitet und wich dem Angriff aus. Nicht nur das, er konterte mit einem Gegenangriff und brachte A1 fast aus dem Gleichgewicht. Aber nur fast.
A1 rollte seitwärts an ihm vorbei, wobei Peter nicht bemerkte, wie der Mann mit seiner rechten Hand ein wenig Erde vom Boden mitnahm. Als die beiden sich wieder gegenüberstanden, bereit für ein weiteres Kräftemessen, täuschte A1 einen Angriff vor. Während Peter versuchte, den vorgetäuschten Angriff zu blocken, erkannte er zu spät, wie ihm sein Gegner eine Handvoll Dreck ins Gesicht schleuderte. Peter sprang überrascht zurück und wischte sich den Schmutz aus seinen Augen und aus seinem Gesicht. Bevor er die Augen wieder öffnen konnte, spürte er einen Ruck an seinem Bein, und er fiel zu Boden. Mit verschwommenem Blick sah er, wie sich A1 über ihn beugte. Der Anführer presste sein Knie gegen den Kehlkopf des Jungen. Schwere Gurgelgeräusche quälten sich aus Peters Mund. Der Junge versuchte verzweifelt nach Luft zu schnappen.
»A76667, das war der älteste Trick der Welt«, sagte A1 emotionslos. »Aber es ist keine Schande, darauf rein zu fallen. Wie du gesehen hast, ist dieser Trick noch immer sehr wirkungsvoll. Nur die Dummen und die Toten kämpfen mit Ehre. Denk daran, wenn du da draußen mit jemandem kämpfst, der dir überlegen ist.« A1 entfernte sein Knie von Peters Kehlkopf, wodurch der Junge wieder leichter atmen konnte.
»In diesem Leben wird dir nichts geschenkt, A76667. Entweder du nimmst dir, was du brauchst, oder ein anderer nimmt es dir weg. Und ich versichere dir, es gibt immer einen anderen. Unsere Politiker sind diese anderen. Sie nehmen sich, was sie kriegen können, und das Volk ist zu schwach und zu dumm, um etwas dagegen zu unternehmen. Zwar protestieren sie auf den Straßen, aber so handeln nur liberale Weicheier. Glaubst du etwa, Politiker fürchten sich vor Demonstranten? Denkst du, ihnen zittern die Knie beim Anblick all dieser Hippies, Hipsters, Warmduscher und Schlappschwänze? Nein, natürlich nicht. Dafür habe sie Polizisten, ihre treuen Wachhunde, die die Drecksarbeit für sie erledigen. Das Einzige, was den Politikern Angst macht, ist eine ernstzunehmende Gefahr, die ihr eigenes, feiges Leben bedroht. Nur, wenn ihre sichere Welt da oben im Parlament zu brennen beginnt, und wenn ihr eigenes Leben auf dem Spiel steht, nur dann werden die Politiker wirklich etwas verändern. Und genau das werden wir vom Sirius-Kollektiv durchsetzen. Das Volk und diese Demonstranten sind einfach zu schwach und zu gutmütig für diese Aufgabe. Ihnen mangelt es an Stärke. Sie könnten nie das tun, was wir beabsichtigen zu tun. Sie haben diese Politiker gewählt, ihre Lügen geglaubt, und jetzt bekommen sie eben die Rechnung dafür serviert. Das Volk verdient keine bessere Behandlung als die Politiker. Die dümmsten Schafe wählen ihre Schlächter immer selbst. Vergiss meine Worte nie, A76667.
»Das werde ich nicht«, sagte Peter demütig.
»Ich beobachte dich schon seit längerem, du hast viel Potential. Du bist ein geborener Krieger und könntest einer meiner besten Soldaten werden.« A1 reichte dem Jungen die Hand und half ihm beim Aufstehen. »Komm, lass uns zu deinem Kameraden gehen.«
Die Worte von A1 ermutigten Peter und ließen jeden Zweifel in ihm verschwinden, er war fürs Kämpfen geboren.
Sie betraten die Autofabrik, in der ein reges Treiben herrschte. Mehrere Geländewagen wurden modifiziert und mit Panzerplatten bestückt. Gestohlene Autos wurden demontiert und für den Transport ins Ausland vorbereitet, wo man sie schließlich verkaufen würde. Der Handel mit gestohlenen Fahrzeugen zählte zu einer der Hauptgeldquellen des Sirius-Kollektivs.
A1 und Peter gingen zu einem großen Metalltisch, auf dem bereits etliche Molotowcocktails standen. Während Peter mit A1 trainiert hatte, zeigte man seinem Kameraden A2013, wie diese speziellen Cocktails hergestellt werden. Und nach der Anzahl der fertigen Flaschen zu urteilen, musste A2013 fleißig gewesen sein.
»Ich will euch noch einen gut gemeinten Ratschlag geben«, sagte A1. »Wenn ihr mit dem Feuer spielt, dann kann euch das passieren …« Zuerst zog er seinen schwarzen Pullover aus und entblößte seinen Oberkörper, danach legte er seinen rechten Lederhandschuh ab. Peter und A2013 holten tief Luft, als sie die Brandnarbe von A1 sahen. Die Wunde bedeckte den rechten Teil seiner Schulter, ging weiter zum rechten Arm und endete an der rechten Hand, die teilweise entstellt war. Die Fingerkuppen und Nägel waren komplett abgebrannt.
»Das passiert, wenn euch die Angst beherrscht und ihr zuviel nachdenkt, anstatt zu handeln«, sagte A1 und zog sich wieder an. »A2013, zeig‘ deinem Kameraden, was du gelernt hast.«
Peter legte seine Axt auf dem Boden und nahm eine leere Flasche, die auf dem Tisch stand. A2013 lehrte ihm, wie man Molotowcocktails herstellte. Peter gefiel es. Es war anders und vor allem aufregender als die Dinge, die er in der Schule lernen musste.
Zuerst konnte ich die Axt stehlen und nun lerne ich das hier, dachte er. Das sind die besten Sommerferien meines Lebens.
Nachdem er fertig war, überprüfte A1 seine Arbeit. Er schien zufrieden zu sein. »Sehr gut. Nehmt die Flaschen gleich mit, wir werden sie für die Operation: Magischer Wald benötigen.«
»Was ist Operation: Magischer Wald?«, fragte A2013.
»Das werdet ihr noch früh genug erfahren.«
»Und wohin soll es gehen?«, wollte Peter wissen.
Ein sadistisches Grinsen breitete sich auf dem Gesicht von A1 aus, als er fragte: »Wann wart ihr das letzte Mal im Zoo?«