Читать книгу Waidmannsruh - Alexandra Bleyer - Страница 10
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ОглавлениеVinzenz krallte seine Finger um das Lenkrad. Er hatte lange mit sich gerungen, ob er Walters Einladung zum Hirschfeiern folgen sollte oder nicht. Er stellte das Auto am Straßenrand ab – Walters Hauseinfahrt war schon von anderen Fahrzeugen zugeparkt – und legte sich die Hand auf den Bauch. Ärger wie dieser schlug ihm immer auf den Magen. Er hatte vermutlich schon ein Geschwür. Oder einen Krebs. Gleich am nächsten Montag würde er zum Arzt und für mindestens eine Woche in den Krankenstand gehen.
Er hasste Konfrontationen und ging einem Streit aus dem Weg, wo er nur konnte. Böse Zungen behaupteten, er ließe sich unterbuttern, so wie im Job, wo er bei Beförderungen regelmäßig übergangen wurde. In diesem Fall war er aber sicher, dass nicht er es war, der den Kampf mit Walter ausfechten musste; oh nein. Es genügte voll und ganz, Sepp über Walters Verstoß gegen das Jagdgesetz zu informieren, und dann würde der dem Hundling den Kopf herunterreißen, während Vinzenz händereibend danebenstand. Ha! Da ging es seinem Magen gleich ein wenig besser.
Walters Haus präsentierte sich strahlend weiß; nur Dach und Fenster waren dunkel, beinahe schwarz. Das Innere des Hauses war nicht weniger nobel, denn Walters bessere Hälfte Manuela hatte einen guten und vor allem teuren Geschmack, zumindest, was Gegenstände betraf. Mit Walter hatte sie seiner Meinung nach keine so gute Wahl getroffen. Allerdings war klar, dass die beiden die mit bunten Glaseinlagen verzierte Haustür nicht für einen Haufen angetrunkener Jäger aufsperren würden, oh nein. Für sie hieß es, den Weg an der Garage vorbei zum Anbau einzuschlagen, wo sich Walter ein kleines Reich eingerichtet hatte, das jedes Jägerherz höherschlagen ließ. Als Geschäftsführer im familieneigenen Baumarkt in Obervellach saß Walter an der Quelle: Der großzügige Raum für die Wildverarbeitung war weiß gefliest, die Edelstahlarbeitstische aufgeräumt. An den Wänden waren die notwendigen Werkzeuge in Reih und Glied aufgehängt. Die Kühlkammer selbst bot reichlich Platz für ein paar Stück Wild; durch ein schmales Sichtfenster konnte man hineinschauen.
Aus einem Radio drangen moderne Schlager, von den Fleischhaken baumelten Girlanden und Luftschlangen. Vermutlich war es Manuela gewesen, die versucht hatte, etwas Partystimmung in den steril und kalt wirkenden Raum zu bringen. Von Kopf bis Fuß in lila gekleidet und mit High Heels an den Füßen, für die man einen Waffenschein bräuchte, stach sie unter all den grün gewandeten Waidmännern und -frauen hervor. Vinzenz konnte seinen Blick kaum von ihr lösen. Das dunkelblonde Haar fiel ihr offen in Wellen auf die Schultern, mit ihrer Figur würde sie in den »Playboy« passen, und ihr Gesicht könnte das eines Engels sein, wenn sie nur etwas lieblicher dreinschauen würde. Nicht so missmutig wie gerade jetzt. Man merkte ihr deutlich an, wie verloren sie sich unter all den Jägern fühlte und dass sie die Minuten zählte, bis die unwillkommenen Gäste wieder gingen.
Sie gesellte sich auch nicht zu den anderen, die mehrheitlich bereits an den Biertischen saßen, sondern stand abseits in der Ecke. Vinzenz hätte sie gern angesprochen, aber er wusste nicht so recht, was er sagen sollte. Außerdem war sie mit Walter verheiratet. Das ernüchterte ihn schlagartig.
Leider war Sepp Flattacher noch nicht da, wie Vinzenz enttäuscht feststellte. Er nahm sich ein Bier aus einer der am Boden stehenden Kisten.
»Vinz«, begrüßte Reini Hader ihn. »Hast den Hirsch schon gesehen?«
»Früher als du«, murrte er und sah sich suchend um.
»Du bist doch gerade erst gekommen«, erwiderte Reini verwirrt.
Er war nicht der Hellste, aber schlau genug, um zu schnallen, was Vinzenz brauchte, denn er drückte ihm einen Bieröffner in die Hand.
Hm. Und der Reini war ganz dick mit dem Sepp Flattacher. Warum sollte er nicht der Erste sein, der von dem Skandal erfuhr?
Vinzenz beugte sich verschwörerisch näher an den Jüngeren heran. »Weißt, Reini, ich hab den Hirsch auch schon vor dem Walter gesehen!«
»Ach, echt?«
»Oh ja! Das war nämlich so, dass –«
Aber Reini sah über Vinzenz’ Schulter hinweg und fing auf einmal an, breit zu grinsen.
»Dani!« Er winkte mit dem Arm über den Kopf, als ob er einen Hubschrauber einweisen wollte. »Herzibinki!«
Reinis Freundin stürmte heran und warf sich in seine Arme. Verlegen nahm Vinzenz einen Schluck, während sich die beiden noch sehr frisch Verliebten abschmusten.
»Also, wegen dem Hirsch«, versuchte Vinzenz es noch einmal, als Reini wieder Luft bekam, aber der hatte nur noch Augen und Ohren für seine Holde.
So leicht gab Vinzenz sich jedoch nicht geschlagen und folgte den beiden in den hinteren Teil des Raumes, wo in einer schweren, eisernen Feuerschale das imposante Hirschhaupt ruhte. Vinzenz bekam kaum Luft, als er die Trophäe aus der Nähe betrachtete. Er hätte weinen können.
»Boah, schau dir den an! Das ist ein Sechzehnender«, erklärte Reini seiner Dani. »Ein Wahnsinn!«
»Das war ein Mordstrum von einem Hirsch«, prahlte Walter, der neben dem Geweih stand und stolz die Hand um eine Sprosse legte. »Der hat ausgeweidet noch hundert Kilo auf die Waage gebracht.«
Damit nickte er zum Kühlhaus hin, und der Reini ging brav weiter und schielte folgsam wie ein Schoßhündchen durchs Fenster hinein. »Schau, Dani! Da hängen die Schnitzel.«
Vinzenz blieb vor dem ausladenden Geweih stehen. So ein Hirsch. So ein Prachtstück! Wenn nur er …
»Solche Hirsche schießt man sonst nur in Ungarn, was? Na ja, die Auhirsche sind schon ganz was anderes als unsere Berghirsche, die sind ja viel schwächer gebaut. Aber der Hirsch da, der bekommt einen Ehrenplatz an meiner Wand.«
Stolz packte Walter das Geweih und drehte es leicht, damit Vinzenz es ausgiebig bewundern konnte.
Vinzenz zuckte nur mit den Schultern und kniff die Lippen zusammen.
Sichtlich verärgert ließ Walter das Geweih los.
»Und?«
»Was und?«, brachte Vinzenz trotzig heraus.
»Willst mir kein Waidmannsheil wünschen?«
Vinzenz schluckte, wich dem Blick des anderen aus und presste das Wort hastig und leise hervor. Er musste gegen Tränen ankämpfen, Tränen der hilflosen Wut. Er ballte seine freie Hand zur Faust. Seine Kehle war wie zugeschnürt.
Wenn es etwas wie Gerechtigkeit gab, dann …
In dem Moment kam Flattacher zur Tür herein.
»Ich … ich habe dich gesehen«, stieß er hervor.
»Was?«
»In der … oben in der Fratn!« Vor lauter Aufregung fing er auch noch zu stottern an. Er hatte das Gefühl, zu wenig Luft zu bekommen. »Wo du den Hirsch geschossen hast! Ich hab … habe alles gesehen! Ich weiß, was du getan hast!«
Walter runzelte die Stirn. »Ach ja? Und wo warst du?«
»Am Hochsitz. Wenn das der Sepp erfährt, dann kannst du zåmpåckn!«
Ha! Jetzt grinste Walter nicht mehr, sondern sah nervös zum Aufsichtsjäger hinüber, der von Toni Brugger aufgehalten worden war.
Wie gut fühlte es sich an, mutig seinen Mann zu stehen! Stolz zog Vinzenz die Schultern zurück. »Sepp! Sepp!«
»Ich mein ja lei. Beim alten Obmann damals war’s beim Hirschtottrinken gmiatlicher«, maulte Toni Brugger mit eindeutig zu viel Bier im Schädel. »Auf dem sein Hof –«
»Wennst den Namen Hannes Guggenberger noch einmal in den Mund nimmst, dann –«
Sepp wurde unterbrochen, da Vinzenz Hinteregger seinen Namen kreischte. Da man mit Toni nicht diskutieren konnte, wenn er angesoffen war – also so gut wie nie, da er mittlerweile schon frühmorgens seinen Pegel erreichte –, ließ Sepp ihn stehen und ging zu Vinzenz, der neben Walter beim Hirschhaupt stand.
»Waidmannsheil«, richtete er sich zuerst an den erfolgreichen Schützen. »A guata Hirsch.«
»Waidmanns–«
»Das wäre mein Hirsch gewesen«, platzte Vinzenz dazwischen. »Sepp, der Walter –«
»Weißt du, was der Vinzenz getan hat?«, unterbrach Walter ihn heftig. »Am Hochsitz ist er gesessen und hat mir zugesehen, wie ich den Hirsch erlegt habe. Aber glaubst, der hätte mir bei der roten Arbeit geholfen? Oder beim Aufladen vom Hirsch?«
Walter wurde immer lauter; die Gespräche der Jagdkameraden verstummten.
»Aber … Du hast –«, stammelte Vinzenz.
»Der gönnt mir nicht, dass ich den Hirsch erlegt hab!«, verkündete Walter und riss seine Arme hoch wie ein in Fahrt kommender Prediger. Vinzenz stolperte zurück und landete fast auf Irmis Schoß, was Sepp nur verhindern konnte, indem er ihn am Arm packte.
»Aber … was der Walter getan hat … das …«, japste Vinzenz mit sich überschlagender Stimme.
»Überleg dir gut, was du sagst« – Walter fuhr Vinzenz mit dem Zeigefinger ins Gesicht – »und ob du deine Anschuldigung auch beweisen kannst. Weil sonst stehst du da wie ein schussneidiger Oberloser, der einen anderen schlechtmachen will!«
Vinzenz presste sich beide Hände auf den Bauch und sah fast so aus, als ob er gleich in Tränen ausbrechen würde. Alles, nur das nicht!
Sepp räusperte sich. »Hast was zu sagen?«
»Ich … Walter … er …« Vinzenz brach ab und schüttelte den Kopf. Seine Augen glänzten verdächtig feucht.
»Bist du echt am Hochsitz hocken geblieben und hast dem Walter keine Hilfe angeboten?«, wollte nun Irmi wissen, die längst aufgestanden war und sich zwischen Sepp und Vinzenz drängte.
Der nickte schuldbewusst.
»Das ist –«, begann sie – für Sepps Geschmack viel zu ruhig.
»Wo kommen wir denn hin?«, schimpfte Sepp. »Wir sind hier in einem Verein, und da gehört die gelebte Kameradschaft dazu.«
Irmi machte eine seltsame Kopfbewegung in Richtung Sepp, bevor sie sich wieder an Vinzenz wandte. »Also, wir werden das –«
»Das können wir nicht einfach so stehen lassen. Zumindest vereinsintern wird das Konsequenzen haben!«
»Sepp! Jetzt sei einmal still!«, giftete Irmi.
»Was denn? Willst das einfach so tolerieren? Als Obfrau –«
»Genau! Ich bin die Obfrau, und du bist der Aufsichtsjäger im Verein und lässt mich jetzt ausreden!«
»Meinetwegen! Für den Kindergarten da hast du vermutlich eh mehr Geduld, also, ich mein, als Frau, also …«
Zugegeben, Sepp tat sich nicht immer leicht, Irmis Stimmungen zu deuten. Aber in diesem Fall erinnerte sie ihn stark an den Dampfdruckkochtopf seiner Mutter, der einmal etwas zu viel Druck entwickelt hatte und zum Geschoss geworden war. In einem solchen Fall half nur eines: Rückzug und Deckung suchen.
Er marschierte zum Hirschhaupt und blendete aus, wie Irmi kalmierend auf Vinzenz und Walter einwirkte. Nur ein verächtliches Schnauben konnte er nicht ganz unterdrücken, als sie die beiden aufforderte, sich die Hände zu reichen. Kindergarten eben.
Sepp hockte sich hin und musterte die Trophäe. Das Haupt war waidgerecht auf Fichtenästen gebettet, aber es fehlte …
»Wo ist der letzte Bissen?«
»Wird wohl rausgefallen sein«, verteidigte sich Walter lahm.
»Du, das ist eine Frage der Waidgerechtigkeit und des Respekts dem Leben gegenüber!«
»Dem Hirsch ist das doch scheißegal!«
»Aber mir nicht! Das ist Tradition!«
»Die Zeiten ändern sich«, maulte Walter zurück.
Sepp stand auf und baute sich vor Walter auf, der zwar nur halb so alt war wie er und damit voll im Saft stand, aber wenn jemals der Tag kommen sollte, an dem die Jagdvereinsmitglieder keinen Respekt mehr vor ihm hatten, würde er sein Gewehr an den Nagel hängen.
»Aber ich ändere mich nicht«, knurrte er ihn an. »Hast das verstanden?«
Walter zögerte; sein Blick flackerte zu den anderen, aber wenn er von denen Rückenstärkung erwartete, hatte er sich getäuscht. Er nickte knapp.
»Ich hör nichts! Hast du mich verstanden?«
»Ja, Sepp.«
»Dann erweis dem Stück die letzte Ehre. Aber zack, zack!«
Die Hände in die Hüften gestemmt, beobachtete Sepp, wie Walter ein Stück Fichtenast abbrach und es dem Hirsch in den Äser schob. »Zufrieden?«
»Mit dir? Nicht wirklich. Aus dir wird nie ein richtiger Jäger werden! Du bist eine Schande –«
»Sepp, lass es gut sein«, sagte Irmi leise. »Setz dich her und trink was.«
Sie klopfte auf den freien Platz neben sich. Er ließ sich nicht zweimal bitten. Aber ganz vergessen konnte er seinen Groll auch nicht.
»Ist doch wahr!«, schimpfte er. »Schau ihn dir an, den Walter. Der geht mit einer Hauben mit dem Logo von seinem Baumarkt auf die Jagd! Wie schaut denn das aus?«
Irmi antwortete ihm nicht, sondern stellte eine Flasche Radler vor ihn hin. Sie reichte ihm auch einen der Plastikbecher, die noch ineinandergestapelt ihrer Benutzung harrten. Sepp hob ihn an und betrachtete angewidert die bunten Drachenmotive darauf.
»Hat die der Walter noch vom letzten Kindergeburtstag übrig gehabt?« Er warf ihn zurück.
»Vermutlich. Der Valentin ist fünf, oder?«, fragte Irmi Walter, der hinter ihnen eine leere Bierkiste über eine andere stapelte.
»Hm, ja. Der ist schon ein großer Bua.«
Stolz rief Walter Valentin zu sich, der ihm wie aus dem Gesicht geschnitten war. Da brauchte es keinen Vaterschaftstest.
»Wirst du auch amål ein Jäger werden wie der Papa?«, betrieb Irmi kindgerechte Konversation, wobei ihre Stimmlage gleich noch um einiges höher wurde.
Dass die Leute mit kleinen Kindern nicht normal reden konnten.
»Ja«, erklärte Valentin. »Das Christkindl hat mir ein Schießgewehr gebracht. Ein echtes!«
»Das war heuer ein besonders braves Christkind.« Walter zauste Valentins Haare, und das Kind drückte sich an ihn. »Nur die Mama hat ka Freud damit und hat mit dem Christkind geschimpft. Die Mama versteht das eben nicht, Valentin. Die hat keine Ahnung!«
»Er ist doch erst fünf«, wandte Manuela ein.
»A Jaga braucht a Gewehr.«
»Aber nicht schon im Kindergarten!«
Walter äffte sie kindisch nach, wobei er ein paar der anderen zum Lachen brachte. Als er dann jedoch versuchte, seinen Arm um Manuela zu legen, wich sie ihm aus und begann, leere Flaschen und Becher von den Tischen zu räumen.
»Manuela hat recht, Waffen sind kein Spielzeug, und du Nupla bist blöd gnua, dass du vorn in den Lauf hineinschaust, wenn der Valentin damit spielt«, warnte Sepp.
Walter gab sein nervtötendes wieherndes Lachen von sich, als ob er einen Schmäh gemacht hätte. Dabei war mit Waffen in Jägerhaushalten nicht zu spaßen; leider kam es immer wieder zu unglücklichen Unfällen.
Manuela flüsterte Sepp ein rasches Danke zu, bevor sie damit fortfuhr, sauber zu machen.
»Weißt, was a Jaga braucht?«, fragte Sepp den Gschråp. »Einen richtigen Jagahut! Mit dem kannst dir auch nicht weh tun.«
Karl Hartmann lachte, nahm seinen Hut ab und stülpte ihn Valentin über den Kopf; natürlich war er viel zu groß und rutschte ihm gleich einmal über die Augen hinunter. »Jetzt bist a richtiger Jaga!«
»Nit so wie dein Vater«, konnte es sich Sepp nicht verkneifen.
»Schau, Mama, ich bin ein Jaga mit Hut!«
Manuela kam nicht einmal ein Lächeln aus. Sepp musste schmunzeln, denn dem Walter vergönnte er einen schief hängenden Haussegen, und Manuela konnte schon eine richtige Zwiderwurzn sein.
»Valentin, gemma ins Haus. Es ist schon spät, und du musst ins Bett.«
»Aber Mama …«
Manuela schreckte nicht davor zurück, die ultimative Waffe einzusetzen. »Komm, dafür darfst noch ein bisserl fernsehen.«
Karl konnte sich in letzter Sekunde seinen Hut schnappen, so schnell flitzte Valentin an ihm vorbei und zur Tür hinaus.
Walter zuckte mit den Schultern und holte Sackerln mit Chips und Soletti aus einer Bananenschachtel, um sie auf den Tischen zu verteilen. Toni Brugger hatte leider recht: Beim Guggenberger war es geselliger zugegangen; vor allem hatte es beim Hirschfeiern immer was Ordentliches auf den Teller gegeben, ein Hirschgulasch oder zumindest Würstln mit Kraut. Aber sicher keine Chips!
»Habts noch Platz für uns?«, fragte Reini.
»Fralewol!«, kam Irmi Sepp zuvor und rutschte auf der Bierbank ein Stück weiter.
Nur zu gern rückte er auf, und obwohl Dani halb auf Reini saß, wurde es verflixt eng, was Sepp jedoch nicht bekümmerte: Mit Irmi auf Tuchfühlung zu gehen, war in Ordnung. Zufrieden trank er von seinem Radler; selbstverständlich aus der Flasche, denn so einen Drachenbecher würde er nie im Leben benutzen.
Auf einmal ging ein Presslufthammer los, zumindest das Geräusch eines solchen hämmerte durch den Raum und schreckte nicht nur Irmi auf. »Himmel!«
Walter wieherte. »Das ist mein Klingelton. Cool, was?« Er sah kurz auf sein Display, bevor er sein Handy wieder einsteckte. »Der kann warten.«
»Etwas anderes, Sepp«, begann Irmi. »Hast dir schon Gedanken gemacht, wie du deinen Runden feiern willst?«
»Was? Ach. Den muss ich ja erst mal erleben.«
Bis dahin waren es doch noch Wochen! Rasch setzte er die Flasche wieder an.
Dani lehnte sich vor Reini halb über den Tisch und tätschelte Sepps Hand. »Aber, aber, Herr Flattacher. Das werden Sie bestimmt. Sie sind ja noch so gut beinånd.«
Sepp verkutzte sich prompt, was Dani – sie war Krankenschwester – dazu veranlasste, wie vom Blitz getroffen aufzuspringen und ihm Erste Hilfe leisten zu wollen. Sie klopfte ihm rhythmisch zwischen die Schulterblätter.
»Geht’s wieder? Kriegen wir wieder Luft?«, fragte sie überbesorgt.
Kruzitürken! Dani war ein liebes Diandle und passte perfekt zum Reini. Sie hatte eine Engelsgeduld. Aber Sepp fühlte sich in ihrer Gegenwart immer wie neunzig, denn sie behandelte ihn wie die sabbernden, senilen Patienten, mit denen sie Tag für Tag zu tun hatte.
»Ich schon«, schimpfte er genervt. Warum verwendeten Krankenschwestern das völlig unlogische »Wir«? Es erinnerte ihn an den Majestätsplural, und der war ja noch unpassender! »Und ob du Luft kriegst, ist mir wurscht! Lass mich in Ruhe! Noch bin ich nicht bei dir im Heim!«
»Dani wollte dir nur helfen! Du musst deinen Grant nicht an ihr auslassen!«, mischte sich Irmi ein.
»Na, na, der Herr Flattacher meint’s ja nicht böse, ga?« Dani tätschelte ihm die Schulter. Genauso, wie er es immer bei Akko tat. Ihm stellte es die Nackenhaare auf. »Man kann nicht ållweil gut drauf und lustig sein. Emotionen sind okay. Die muss man nicht unterdrücken, das ist nicht gesund.«
Dani wusste gar nicht, was für ein Glück sie hatte, dass Sepp seine Gefühle gerade eisern im Zaum hielt. Sicherheitshalber kniff er die Lippen zusammen, denn was an Worten herausdringen wollte, hätte Irmi garantiert auf die Palme gebracht.
»Haha. Der Sepp wird siebzig«, stieg Toni in das Gespräch ein. »So alt wird ka Sau!«
Karl Hartmann nickte zustimmend. »Ja, und da hat die Irmi schon recht. Du hast ja deinen letzten Runden nicht gefeiert. Und davor den Fünfziger auch nicht, wenn ich mich recht erinnere. Also –«
»Was stellts euch vor? Dass ich so eine Party schmeiß? Bei jedem Leichenschmaus ist a größere Gaude!«
Er klaubte eine unwillkommene Luftschlange von seiner Schulter und stieß ein verächtliches Schnauben aus. Einfach nur erbärmlich war es.
Außerdem war ein Geburtstag auch nicht anders als jeder andere Tag im Jahr.
»Feiern könnts ohne mich.«
Karl schüttelte bedächtig den Kopf. »Nein. Nein, so geht das nicht. Als Ehrengast musst du schon dabei sein bei deiner eigenen Feier.«
»Wissts was, wartets einfach auf mein Begräbnis. Dann bin ich auch dabei, aber ich muss mir wenigstens nicht mehr anhören, was ihr für einen Schas daherredets!«
Da sich Vinzenz auch bereits verabschiedete, schloss Sepp sich an und rief ein angefressenes »Pfiat eich« in die Runde. Mit Akko allein zu Hause fühlte er sich eindeutig wohler.
Er war schon in sein Auto gestiegen, als er Walter ins Freie laufen sah. Der hatte es aber nicht auf Sepp abgesehen, sondern auf Vinzenz. Ihn dürften die beiden glatt übersehen.
»Warte, ich habe etwas für dich! Vom Hirsch.«
Ein Friedensangebot? Das hätte Sepp vom Liebetegger wirklich nicht erwartet.
Auch Vinzenz blieb sichtlich überrascht stehen und ließ sich von Walter einen fleischigen, kleinen Klumpen in die Hand drücken.
Sepp konnte, obwohl nur wenige Meter entfernt, nicht erkennen, was genau es war; das Filet dürfte es aber nicht sein. Dank der noch offen stehenden Fahrertür drangen Walters Worte klar zu ihm.
»Die Brunftkugeln vom Hirsch. Steck sie dir in die Hose, damits wenigstens einmal Eier hast.«
Es war zum Fremdschämen. Vinzenz hatte nicht den Schneid, dem Walter die Brunftkugeln mitten ins Gesicht zu klatschen, was der verdient hätte. Stattdessen drehte er sich wortlos um und schlich wie ein geprügelter Hund auf die Straße hinaus. Walter sah ihm mit einem überheblichen Grinsen hinterher.
Sepp atmete tief durch. Eindeutig, Irmis friedensstiftende Aktion von vorhin war für den Hugo gewesen.
Da musste Sepp ran.