Читать книгу Waidmannsruh - Alexandra Bleyer - Страница 7

1

Оглавление

Es war saukalt! Vinzenz Hinteregger rieb sich mit den Fingerrücken unter der Nase, die er bei den winterlichen Temperaturen kaum noch spürte. Als er die Hand senkte, fielen ihm im dämmrigen Morgenlicht die nass glitzernden Schlieren auf dem dunklen Wollhandschuh auf. Blöde Schnupfennase.

Auf die Uhr schauen wollte er gar nicht erst, denn dazu hätte er ein Stückerl Handgelenk freilegen müssen. Aber er saß gefühlte Stunden auf dem Hochsitz heroben, den er noch vor Tagesanbruch erklommen hatte.

Was gäbe er jetzt für die beheizbare Fleeceweste, die er sich als Weihnachtsgeschenk von Vinzenz für Vinzenz im »Haus der Jäger« in Spittal geleistet hatte. Allein die Vorstellung, dass er die ärmellose Weste – billig war sie ja nicht gewesen – unter seiner wasserfesten Winterjacke tragen könnte, löste in ihm ein wohlig warmes Gefühl aus.

»Mir ist nicht kalt«, murmelte er beschwörend vor sich hin.

Die ausgestoßene Atemluft bildete weiße Wölkchen vor seinem Gesicht, bevor sie von einem eisigen Windstoß hinweggefegt wurden. Weg waren auch die wärmenden Gedanken. Er bedauerte zutiefst, dass er die Weste heute Morgen nicht angezogen hatte. Dabei hatte er das Ding schon in der Hand gehabt, als er vor Verlassen des Hauses auf das Außenthermometer geschaut hatte. Doch im letzten Moment hatte ihn etwas davon abgehalten, in die Heizweste zu schlüpfen.

Nein, nicht etwas.

Jemand.

Ein kalter Schauer kroch über seinen Rücken, und er war nicht sicher, ob das allein an den tiefwinterlichen Temperaturen lag. Auch die Erinnerung an den gestrigen Tag ließ ihn erzittern. Ihm wurde regelrecht schlecht, als er daran dachte. Die traditionelle Treibjagd am Stefanitag war ein Höhepunkt im Jagdjahr, und alle Jäger der Hubertusrunde waren aufmarschiert, ohne Ausnahme. Im Kreis seiner Waidkameraden hatte Vinzenz voller Stolz seine Winterjacke geöffnet und den anderen das darunterliegende, nagelneue Hightech-Gwandl präsentiert. Reini Hader war ganz begeistert gewesen und wollte gar nicht mehr aufhören, am Heizstufenregler herumzudrücken. »Fühl mal, Sepp, des is klass.«

Doch was hatte der Herr Aufsichtsjäger geantwortet? Vor allen anderen. Laut und deutlich.

»So a Schas!« Das hatte Sepp Flattacher gesagt. Dabei hatte er die Weste gar nicht richtig angesehen; und den Vinzenz auch nicht. »Wer braucht denn so was? Lei a Prinzessin, aber sicha ka gštåndner Jaga!«

Mehr war nicht nötig gewesen, um Freude und Stolz über die neue Weste in Beschämung zu verwandeln. Statt dass die anderen Vinzenz um seine Wärmequelle beneideten, hatten sie ihn ausgelacht und sich gegenseitig versichert, dass sie so etwas nie anziehen würden. Echte Männer und Heizjacken! Pah! Dabei war Vinzenz überzeugt, dass sogar Karl Hartmann heimlich fußwärmende Einlagesohlen in seinen Jagastiefeln trug! Warum auch nicht?

Das leidvolle Thema war erst abgehakt, als Obfrau Irmi Leitner darauf hinwies, dass der Einserhirsch im Abschussplan noch frei war; dann vergaßen die anderen Vinzenz und seine Heizweste, und es drehte sich alles nur noch um das Rotwild und wo der beste Abschnitt im Jagdgebiet wäre, um den Einserhirsch zu erlegen. Zur Strecke gebracht wurde der Einserhirsch gestern jedoch nicht.

Was bedeutete, dass Vinzenz heute eine Chance auf ihn hatte. Irgendwie musste er die gestrige Blamage ausradieren, und was wäre besser geeignet, als den begehrten Hirsch zu erlegen? Wenn es eine höhere Macht gab, so musste sie doch Mitleid haben und ihm einmal, nur einmal im Leben ein bisserl Glück schicken!

Er schniefte und wischte sich nun mit der anderen Hand den tropfenden Rotz von den Nasenflügeln. Hätte er doch allen anderen zum Trotz die Weste angezogen! Hätte! Hätti-Täti-Wari. Aber nein, er hatte zu viel Schiss gehabt, einem Waidkameraden oder dem Teufel – also Flattacher – persönlich zu begegnen, wusste er doch, dass es in den letzten Jagdtagen im Revier nur so vor Jägern wimmelte.

Und was hatte er davon? Kalt war ihm! So furchtbar kalt!

Und daran war nur der Flattacher schuld. Der war und blieb ein gemeines, rücksichtsloses, gefühlloses Riesenarschloch. Der würde sich nie ändern! Das wusste jeder im Jagdverein; das raunte man sich auch hinter dessen Rücken zu. Das sollte ihm mal wer knallhart ins Gesicht brüllen. Irgendjemand sollte mutig aufstehen, auf den Tisch hauen und verkünden: »Sepp, du bist ein echter Arsch!«

Genau!

Der Gedanke ließ Vinzenz lächeln. Er malte sich aus, wie er bei einer Jagdvereinsversammlung genau das tun würde. Aufstehen. Die Faust auf den Tisch dreschen. Sepp hart ansehen und sagen: »Sepp, du bist …«

Ihm riss der Faden. Seine Phantasie reichte einfach nicht aus; besser gesagt konnte sich Vinzenz viel zu gut vorstellen, wie Flattacher darauf reagieren würde.

Er schluckte schwer. Lebensmüde war Vinzenz nicht.

Um sich abzulenken, griff er nach seiner Videokamera. Er richtete sie auf die nicht allzu steile Fratn vor sich, die er perfekt überblicken konnte. Dann rieb er sich die Hände, die trotz der dicken Handschuhe klamm zu werden drohten.

Da! War das nicht ein Knacken im dichten Gedaks?

Er beugte sich auf dem Sitzbrett nach vorn und griff gleichzeitig nach dem Fernglas, das am Lederband um seinen Hals hing, um den nahen Waldesrand abzusuchen.

Ein Schatten bewegte sich zwischen den Bäumen.

Ein verdammt großer Schatten! Sein Herz schlug schneller.

Nur ganz kurz senkte er das Fernglas, um die Videokamera einzustellen.

Ein Hirsch wagte sich zögernd auf die Lichtung heraus; Vinzenz konnte einen frustrierten Seufzer nicht unterdrücken. Von kapital konnte bei dem schmächtigen Sechsender keine Rede sein.

Schon wollte er das Fernglas sinken lassen, als ein zweiter Hirsch auftauchte. Ein Prachthirsch.

Der Hirsch.

Aufgeregt kontrollierte Vinzenz die Videokamera: läuft!

Wertvolle Sekunden, wenn nicht gar Minuten, verbrachte er damit, ganz, ganz sicherzugehen, dass es ein in den Abschussplan passender Einserhirsch war. Seit Flattacher ihn einmal wegen einem zu starken Schmalspießer zåmgschtaucht hatte, schaute er dreimal hin, bevor er abdrückte.

Sein Herz schien ihm bis in die Kehle zu pochen. Was für ein Hirsch! Lebend brachte der locker einhundertfünfzig Kilogramm auf die Waage und erst das Geweih! Eines war klar: Der Hirsch wäre das Aushängestück der kommenden Hegeschau. Alle würden die Trophäe bewundern und den glücklichen Schützen beneiden. Ihn!

Von wegen Prinzessin! Ha, dann würde selbst dem Flattacher nichts anderes übrig bleiben, als ihm Waidmannsheil zu wünschen. Mehr an Lob war von dem alten Grantnzipf allerdings nicht zu erhoffen, denn Sepp war kein Mann vieler Worte – außer er fand etwas zum Motschgan.

Aus der Ferne vernahm Vinzenz Motorengeräusche; ein Auto näherte sich vom Tal herauf. Der Forstweg zog sich unmittelbar unter der Fratn über den Bergrücken und war, da vom Bauern auch zu Waldarbeiten genutzt, mit geländetauglichen Fahrzeugen selbst um diese Jahreszeit zu befahren. So ein Pech! Natürlich hatte auch der Hirsch das herannahende Auto wahrgenommen und verhoffte nun wenige Meter über dem Weg. Wenn er nur nicht absprang …

Jetzt hieß es schnell sein. Vinzenz tastete nach dem Gewehr und legte es an. Auch die Videokamera hatte den Hirsch im Blick und würde den Moment größten Stolzes für alle Ewigkeit festhalten.

Er leckte sich die Lippen. Pfui Teufel, keine gute Idee, wenn die Nase tropfte.

Egal. Der Hirsch stand brettlbreit da; ideal für einen Blattschuss. Sein Finger krümmte sich um den Abzug.

Ein Schuss knallte.

Wie vom Blitz getroffen, brach der Hirsch zusammen. Durch das Zielfernrohr konnte Vinzenz beobachten, wie er noch kurz schlegelte. Das war ein perfekter Schuss wie aus dem Lehrbuch gewesen. Nicht einmal ein Flattacher würde daran etwas auszusetzen haben.

Der einzige Haken daran? Vinzenz hatte noch gar nicht abgedrückt.

Das Auge weiterhin ans Fernrohr gepresst, schwenkte er langsam die Waffe, bis ein dunkler Land Rover in sein Sichtfeld kam. Aus dem heruntergelassenen Fenster der Fahrertür ragte ein Gewehrlauf heraus.

Waidmannsruh

Подняться наверх