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Kapitel 4 – Kann denn Ende Anfang sein?

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Die Nacht war viel zu kurz, als um sieben mein Wecker klingelt. Wie gerädert quäle ich mich aus dem Bett, Linda zuckt gerade mal mit einem Augenlid und nuschelt etwas, das sich wie „ichbleibnoliegn“ anhört. Zum Glück ist heute Freitag und das Wochenende in greifbarer Nähe. Aber heute ist auch der erste Tag nach zwei Wochen, an dem ich wieder Vollzeit arbeiten muss. Mal sehen, ob sich die Wogen in der Agentur gestern Nachmittag noch geglättet haben, der Chef hatte äußerst schlechte Laune, weil ein Großkunde von jetzt auf gleich abzuspringen drohte.

„Guten Morgen, Bea“, begrüße ich meine Kollegin am Empfang.

„Hallo Johanna“, kommt es betreten zurück. „Mach dich auf was gefasst, der Chef tobt immer noch.“

Na bravo, der Tag fängt ja gut an. Kaum, dass ich mein Büro betreten habe, schrillt schon mein Telefon. Der Chef ruft an.

„Frau Bergström, kommen Sie in mein Büro. Jetzt!“ Zack, aufgelegt. Wow, eine Rolle Stacheldraht strotzt dagegen nur so vor Charme.

„Guten Morgen, Herr Schmidt“, begrüße ich meinen Chef freundlich.

„Brauer & Brauer haben uns die Zusammenarbeit gekündigt“, poltert er ohne Gruß los, „und wissen Sie auch, warum?“

„Nein.“

„Weil die Texte in der neuen Image-Broschüre die Qualität einer aus dem Japanischen schlecht übersetzten Bedienungsanleitung für Rasenmäher haben.“ Schmidt brüllt und hat einen hochroten Kopf. Er ist cholerisch veranlagt, aber so habe ich ihn noch nie erlebt.

„Aber wie konnte das denn passieren?“

„Genau das frage ich Sie, Frau Bergström!“

„Mich?“

„Ja, Sie, oder sehen Sie sonst noch jemanden hier im Raum, der Bergström heißt?“

„Nein, aber ich habe doch weder mit Brauer & Brauer noch mit deren Image-Broschüre etwas zu tun. Das ist Frau Wielands Kunde“, entgegne ich meinem Chef sachlich aber verwirrt.

„Frau Wieland war krank und dann hat der Praktikant die Texte geschrieben, und Sie hätten die Korrektur lesen müssen, was Sie offenbar nicht getan haben.“

„Nein, ich habe die Texte auch nicht gelesen, ich wusste nicht mal, dass der Praktikant getextet hat, weil ich auch nicht Frau Wielands Vertretung bin. Das ist nämlich Herr Meißner“, versuche ich die Situation aufzuklären.

„Meißner sagt, dass Sie dafür zuständig gewesen sind.“

Na klasse, Meißner die blöde Sau, ’tschuldigung, aber was anderes fällt mir zu dem miesen Kerl nicht mehr ein. Hat selbst was verbockt und will nun auf diese Weise seinen Kopf aus der Schlinge ziehen. Da er mit dem Chef zusammen kegelt, ist er natürlich auch hundertmal glaubwürdiger als ich.

„Kurz und gut, Frau Bergström, eine Mitarbeiterin wie Sie ist für unsere Agentur nicht tragbar. Sie sind gekündigt. Fristlos!“

Zack. Mit einem Schlag zieht es mir den Boden unter den Füßen weg, mein Herz stolpert und ich bekomme spontan Schnappatmung. Schmidt drückt mir die Kündigung in die Hand, schiebt mich auf den Flur und schließt die Tür hinter mir. Ich komme mir vor wie im falschen Film. Wie paralysiert gehe ich in mein Büro, packe meine Sachen, lösche meine E-Mails und sämtliche auch nur annähernd privaten Dinge von der Festplatte, verlasse wortlos die Agentur und fahre wie ferngesteuert nach Hause. Erst als Tiffy mir in unserer Straße begegnet, komme ich langsam wieder zu mir.

„Himmel, wie siehst du denn aus? Hast du den Weihnachtsmann gesehen?“. Tiffy ist wie immer gut aufgelegt.

„Gekündigt, einfach gekündigt“, kriege ich nur schwer über die Lippen.

Tiffy erkennt den Ernst der Lage, bugsiert mich in meine Wohnung, wo Linda und die Kinder mich ebenfalls mit großen Augen erwartungsvoll anschauen, und setzt mich auf einen Küchenstuhl. Nach einem Glas Mineralwasser, das zu allem Übel auch noch so viel Kohlensäure hat, dass die mir durch die Nase wieder rauskommt, schaffe ich es, ganze Sätze zu sprechen. Linda und Tiffy können kaum glauben, was ich ihnen erzähle und schauen mich ungläubig an.

„Du brauchst einen Anwalt“, stellt Tiffy energisch fest und greift sich unbeirrt das Telefonbuch. „Hier, Berndorff und Partner, die haben als Schwerpunkt auch Arbeitsrecht. Außerdem sollen die ganz gut sein, wie ich gehört habe.“ Tiffy ist eine Frau der Tat und greift sogleich zum Telefon, um für mich einen Termin zu machen. „Ja, wunderbar, Montag, zehn Uhr, vielen Dank und ein schönes Wochenende“, höre ich sie sagen. Auf einem Zettel schiebt sie mir den Termin und die Adresse zu. „Wollen wir doch mal sehen, ob wir dem Schmidt nicht ganz gefährlich in die Eier treten können.“

„Tiffy!“, entfährt es Linda und mir gleichzeitig.

„Ach, ist doch wahr.“

Der restliche Freitag zieht sich wie Kaugummi, und ich ertrinke fast in Verzweiflung und Selbstmitleid. Linda hat sich entschlossen, das Wochenende mit den Kindern noch bei mir zu verbringen, in meiner jetzigen Situation könne sie mich nicht alleine lassen. Mir ist es sogar ganz recht, so komme ich wenigstens auf andere Gedanken und verbringe die Zeit nicht mit unnützen Grübeleien, zu denen ich ohnehin neige. An Einschlafen ist kaum zu denken, dafür sind meine Gedanken einfach zu wirr. Irgendwann überfällt mich dann aber doch die Müdigkeit.

Der Duft von frischem Kaffee und knusprigen Brötchen weckt mich am Samstagmorgen nach wenigen Stunden Schlaf. Im Traum bin ich zur Verbrecherin geworden und habe Schmidt in dem kleinen Bach am Hasenstall ertränkt und ihn anschließend zum Trocknen über den Sichtschutzzaun aus Weidengeflecht geworfen. Erstaunlich, welche Kräfte man doch im Schlaf entwickeln kann und wie schade, dass nicht zumindest ein bisschen davon wahr wird. Aber wer weiß, was die Zukunft noch so bringt.

Mit aller Kraft versuche ich mich aus dem Bett zu quälen, aber mein Körper ist schwer wie Blei. Ich kann nicht, ich will nicht, keiner hat mich lieb. So ein Mist. Und immer wieder diese Fragen: Wie soll es jetzt nur weitergehen? Will ich meinen Job bei Schmidt wiederhaben? Oder wage ich einen Neuanfang, sofern sich mir eine Gelegenheit dazu bietet? Aber wer will schon eine übergewichtige Endzwanzigerin mit angeknackstem Selbstbewusstsein? Vielleicht sollte ich Thomas doch noch meine Liebe gestehen und eine Zukunft als Bäuerin mit grantiger Schwiegermutter und verschrobener Schwägerin ansteuern. Eine bessere Perspektive scheine ich im Augenblick wirklich nicht zu haben – wenn da nicht das kleine Problem wäre, dass Thomas gar nicht in mich verliebt ist . . . Keiner liebt mich, wirklich gar keiner. Vermutlich würde es auch niemandem auffallen, wenn ich mich genau jetzt entmaterialisierte und im Nichts verschwände. Puff! Peng! Einfach weg und zurück bliebe nur noch eine Wolke Sternenstaub. Keine sooo schlechte Vorstellung. Aber wäre ich meine Probleme dann auch wirklich los? Oder würden die wie Pech an mir kleben und mich sogar ins Nichts verfolgen?

Mit viel Schwung wird meine Schlafzimmertür aufgeschoben und mit noch mehr Schwung landen Wilko und Isgard auf mir, gefolgt von zwei tobenden Katzen.

„Tante Johanna, aufsteeeeehen, das Frühstück ist fertig!“

Wie zwei kleine Wirbelstürme fegen die Kinder durch mein Bett und schaffen es sogar, die grausigen Wolken der Düsternis aus meinem Kopf zu verscheuchen. Ich habe die zwei verwöhnten Zwerge schon immer sehr gern gehabt, aber in den letzten Tagen sind sie mir noch wesentlich mehr ans Herz gewachsen – trotz all der Streiche, der Unordnung und des Wirrwarrs in meiner Wohnung. Es wird bestimmt fürchterlich still werden, wenn sie mit Linda wieder nach Hause fahren.

„Guten Morgen Schwesterherz, gut geschlafen oder hast du im Traum wilde Schlachten geschlagen?“ Linda strahlt mich an.

„Eher Letzteres, ich fühle mich wie von einer Dampfwalze überrollt. Aber vielleicht kann das Frühstück meine schwachen Lebensgeister wieder etwas aktivieren“, antworte ich zerknirscht und habe Schwierigkeiten, flüssig zu sprechen.

Tatsächlich fühle ich mich nach einer Tasse von meinem Lieblingstee und einem herzhaften Schinkenbrötchen schon besser und kann nun nicht nur in ganzen Sätzen denken, sondern auch reden. „Ach Linda, was soll ich denn jetzt machen? Mir hat es von jetzt auf gleich den Boden unter den Füßen weggezogen und ich bin arbeitslos. Von meinem ohnehin schon vorhandenen finanziellen Engpass mal ganz zu schweigen.“

„Nicht verzweifeln, Jojo. Es wird nicht alles so heiß gegessen, wie dein Chef es kocht. Der kommt mit seiner Kündigung sicher nicht durch, und am Ende bist du die lachende Siegerin, warte es ab. Am Montag gehst du zum Anwalt und anschließend packst du am bestens gleich deine Koffer und fährst zum Flughafen. Eine Auszeit in Schweden tut dir sicherlich ganz gut.“

„Schweden?“

„Ja, Schweden, das ist das Land, in dem die Weihnachtsbäume einfach aus dem Fenster auf die Straße geworfen werden und Knut sie alle einsammelt. Rein zufällig wohnen dort auch unsere Eltern, die sich sicherlich über einen Besuch von dir sehr freuen würden.“

Schweden? Schweden! Lindas Idee ist gar nicht so schlecht. Ach, was sage ich, sie ist brillant. Das letzte Mal war ich vor knapp zwei Jahren zu Mamas sechzigstem Geburtstag dort. Obwohl wir mindestens einmal pro Woche telefonieren und uns zusätzlich noch E-Mails schreiben, fehlen mir meine Eltern. Als mein Vater vor gut fünf Jahren seine wirklich florierende Möbeltischlerei zu einem guten Preis an einen seiner Gesellen verkaufen konnte und in guten Händen wusste, haben meine Eltern ihre Zelte in Deutschland abgebrochen und sind nach Schweden in das Elternhaus meines Vaters gezogen. Mein Großvater war Schwede, meine Großmutter Deutsche. Die Sommerferien und jedes zweite Weihnachtsfest verbrachten wir deshalb auch immer in Schweden. Ich konnte es nie abwarten, endlich wieder nach Gustavslund zu fahren, auf der Veranda des roten Holzhauses gemütlich in der Hängematte zu liegen und meine Gedanken mit den Wolken ziehen zu lassen. Als Teenager wurde meine Sehnsucht nach Gustavslund durch Lasse, den zwei Jahre älteren Nachbarssohn, noch verstärkt. Er war groß, breitschultrig gebaut und hatte strahlende blaue Augen, die durch seine blonden Struwwelhaare und die im Sommer gebräunte Haut noch mehr zur Geltung kamen. Er war mein ganz persönlicher Wikinger und zudem noch richtig nett. Wir haben stundenlang zusammen auf dem Bootssteg am See gesessen und geangelt – ja, es hat mir wirklich Spaß gemacht -, oder wir sind mit dem Boot von einer Insel zur nächsten gerudert, haben dabei Seemannsgarn gesponnen und nach Schätzen Ausschau gehalten. Gefunden haben wir natürlich keinen, aber das war uns egal. Mit sechzehn durfte ich dann auch zum ersten Mal alleine mit Lasse zu einer Mittsommernachtsparty gehen. Was war ich aufgeregt. Er und ich, ich und er. Mir war schon ganz schlecht vor lauter Aufregung, das dachte ich zumindest. Tatsächlich war mir übel, weil ich was Falsches gegessen hatte. Die Mittsommernachtsparty fand für mich deshalb überhaupt nicht erst statt. Lasse habe ich seitdem nicht wiedergesehen, er war einige Tage später nach Stockholm abgereist, um sich dort auf sein Studium vorzubereiten.

„Erde an Johanna! Hallo? Einer zu Hause?“

„Linda, meine Güte, erschreck mich doch nicht so, was ist denn los?“

„Na, du warst wohl wieder in Gedanken bei Lasse, oder? Du hattest dieses typische Lasse-Leuchten in deinen Augen. Fahr nach Schweden, Jojo, vielleicht triffst du ihn ja wieder und er bringt dich auf andere Gedanken.“

„Du hast ja recht, ich besuche Mama und Papa. Die neunhundert Euro, die wir deinem Ex-Michael für das abgefackelte Sofa abgeknöpft haben, dürften für die Reise erstmal reichen. Ein neues Gästesofa kann ich mir immer noch kaufen. Ich gehe gleich ins Reisebüro, um den Flug zu buchen.“

Gesagt getan, aber in meinem Aufzug sollte ich mich wohl besser nicht unter zivilisierte Menschen wagen. Also schnell ins Bad und dann rein in die nächstbeste Klamotte. Was habe ich denn hier schon wieder für ein Sammelsurium in meiner Hosentasche? Das trägt immer so auf, wenn Taschentücher, Schlüssel, Kassenbons und Kleingeld sich dort dicht an dicht drängen, und eine optische Hüftverbreiterung brauche ich nun wirklich nicht. Also raus mit dem Zeug. Da ist ja auch der Zettel von dem Typen aus der Eisdiele, den benötige ich sowieso nicht mehr. Weg damit. Oder doch nicht? Vielleicht sollte ich ihn einfach mal anrufen, Abwechslung ist es, was ich jetzt brauche, um auf andere Gedanken zu kommen. Schlimmer als es ohnehin schon ist, kann es auch nicht mehr werden. Also nur Mut, Johanna.

Der Ruf geht durch, noch kann ich auflegen. Zu spät.

„Waldstein“, meldet sich eine, wie ich wirklich zugeben muss, sehr angenehme Männerstimme.

„Johanna Bergström hier, guten Morgen.“

„Guten Morgen, Frau Bergström“, antwortet er mit abwartendem Unterton.

„Sie hatten mir vorgestern Ihren Eisbecher in den Ausschnitt geklatscht und Sie haben tatsächlich recht behalten: Das Schokoladeneis hat einen bleibenden Eindruck hinterlassen“, kläre ich ihn freundlich und mit einem leichten Lachen in der Stimme auf. Jetzt, so im Nachhinein betrachtet, muss die Situation auch wirklich komisch gewesen sein.

„Oh ja, ich erinnere mich, wenn auch nur ungern. Es hat mich wirklich gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, aber eine andere Art und Weise wäre mir bedeutend lieber gewesen. Ich ersetze Ihnen die Bluse natürlich.“

„Nein, das ist nicht nötig“, höre ich mich selbst sagen. Habe ich heute meinen großzügigen Tag, zu viel Geld oder bin ich einfach nur etwas gaga im Kopf? „Aber auf Ihr Wiedergutmachungsangebot komme ich gerne zurück. Haben Sie heute Abend schon was vor?“ Meine Güte, was ist denn los mit mir? So forsch bin ich doch sonst nicht.

„Äh, nein, um ehrlich zu sein. Mögen Sie Italienisch? Oder was halten Sie von regionaler Küche?“

Ich mag natürlich beides, es gibt überhaupt nur wenige Dinge, die ich nicht mag. Indisch gehört zum Beispiel dazu, das ist nichts für mich. Aber die Mittelmeerküche liebe ich sehr, genauso wie gute deutsche Küche mit frischen Produkten, und schwedischen Leckereien kann ich natürlich auch nicht widerstehen. Ob er mit regionaler Küche wohl den Hasenstall meint?

„Italienisch“, antworte ich kurz und knapp.

„Wunderbar. Kennen Sie den kleinen Italiener in der Wiesenstraße?“

Sicher. Dort gibt es nur einen Italiener, und das ist das Casa del Gusto. Meine Erinnerungen an dieses kleine, sehr erlesene Restaurant sind allerdings nicht ausschließlich gut. Das Essen und die Weine sind wirklich erstklassig, keine Frage, allerdings hat mein Ex-Freund mir dort bei einem romantischen Essen zu zweit ganz unfreiwillig seine Geliebte vorgestellt – und das auch noch an unserem Jahrestag, an dem ich still und heimlich schon mit einem Heiratsantrag gerechnet hatte. Genauer gesagt, hat sich seine Geliebte mir vorgestellt, denn sie kam wie eine wilde Furie auf uns zugestürmt und hat etwas von „endlich reinen Wein einschenken“ und „du wolltest es schon längst tun, bis zur Geburt ist es schließlich nicht mehr lange“ gebrüllt. Es hat nur wenige Sekunden gedauert, bis mir alles glasklar war – vor allen Dingen auch das manchmal sonderbare Verhalten meines Ex in den vergangenen Monaten, das ich allerdings gutgläubig seinem anstrengenden Job zugeschrieben hatte. Wer hier jetzt wem reinen Wein einschenkte, war klar: Ich meinem Freund, und zwar eine ganze Karaffe vom Scheitel bis zur Sohle. „Die Rechnung und die Renovierungskosten übernimmt der Herr“, hatte ich Salvatore, dem Restaurantbesitzer, noch zugerufen, der mich mit Bravo-Rufen, Applaus und einer Kusshand zu meinem wahrlich filmreifen Abgang bedachte.

„Frau Bergström? Sind Sie noch dran?“

„Äh, ja, sicher. Entschuldigung, ich war gerade etwas abgelenkt. Sie meinen sicher das Casa del Gusto, das kenne ich.“

„Prima. Passt es Ihnen heute Abend um sieben? Darf ich Sie abholen, oder ist es Ihnen lieber, wenn wir uns dort treffen?“

Meine Güte, der Mann hat ja sogar Manieren, hätte ich ihm irgendwie gar nicht zugetraut. Aber vermutlich ist das auch nur das Ergebnis eines Benimmkurses, den er sicherlich mal belegen musste. Auch als Pferdepfleger, Reitlehrer oder was auch immer man auf einem Gestüt oder sonst irgendwo mit Pferden machen kann, wird er sicherlich viel Kontakt zu gut betuchten Leuten haben.

„Wir treffen uns um sieben dort, ich muss vorher noch etwas erledigen und komme dann auf einem Weg direkt ins Restaurant.“

„Ich freue mich. Bis heute Abend dann.“

Er ist wirklich nett.

„Ja, bis nachher“, entgegne ich ihm, „ich freue mich auch.“

Und das tue ich tatsächlich. Das gibt’s doch gar nicht. Eigentlich stand für mich fest, dass ein Treffen mit diesem Holzfällerhemd tragenden und Eisbecher werfenden Pferdepfleger keinesfalls infrage kommt, und jetzt freue ich mich sogar auf ein Abendessen mit ihm. Mein Gott, wie verzweifelt muss ich im Augenblick tatsächlich sein.

Im Reisebüro läuft alles bestens, ich buche für Montagnachmittag einen Flug direkt nach Stockholm und bekomme das Ticket zu einem grandiosen Preis. Na ja, wenigstens hierbei habe ich Glück. Auf dem Rückweg schaue ich natürlich noch auf einen Sprung in Tiffys Laden. Süße Sünde steht in schnörkeliger Schrift über der Eingangstür. Tiffy hat sich hier vor einiger Zeit ihren Traum erfüllt und ein kleines Café mit Chocolaterie eröffnet. Der Name ist dabei Programm, denn süß und vor allen Dingen sündig ist hier eigentlich alles. Ich liebe ihre Auswahl feinster belgischer Trüffel, die dunklen Pralinen aus der Schweiz, das zarte schwedische Marzipangebäck, das mich immer an meine Kindheit erinnert, und natürlich auch Tiffys selbstgebackene Kuchen und Torten. Lecker. Ich gerate schon wieder ins Schwärmen. Aber das ist ja rein mentales Genießen und geht nicht auf die Hüften. Mit Eis wird Tiffy übrigens seit einigen Wochen von Giovanni beliefert, und sie backt für ihn kleines italienisches Gebäck nach Originalrezepten seiner Großmutter. Rein beruflich sind sie ein wahres Traumpaar, und auch privat würden sie perfekt zueinander passen. Nur Tiffy erhört Giovannis Werben noch nicht. So wie ich sie kenne, macht es ihr Spaß, ihn zappeln zu lassen und angehimmelt zu werden.

„Johanna, hallo, schön, dass du mich besuchst!“ Tiffy ist bester Laune und strahlt wie ein Honigkuchenpferd. Ihre frechen Sommersprossen lassen sie dabei noch kecker aussehen. „Wie wäre es mit leckerem erfrischendem Eiskonfekt? Oder einer Seelen tröstenden Eisschokolade?“

„Tiffy, ich bin nicht zum Naschen hier.“

„Nicht?“

„Nein, ich muss dir was erzählen. Und dazu darfst du mir bei den Temperaturen gern ein kaltes Wässerchen anbieten.“

„Mit Eiskonfekt, hm?“

„Du bist unverbesserlich. Ja, aber bitte nur eins.“

In Windeseile bringt Tiffy mir ein großes Glas Wasser und natürlich mehr als nur ein Eiskonfekt zu dem bequemen Strandkorb, in dem ich es mir immer gemütlich mache. Er ist aus dunklem Rattangeflecht mit hellen Stoffbezügen und passt perfekt zu dem Rest der Einrichtung. Die Wände sind etwa bis auf Hüfthöhe mit dunklem Holz verkleidet, darüber sorgen große alte Blechschilder mit Werbeaufdrucken für Schokolade und andere Naschereien für die ganz besondere Atmosphäre dieses Raumes. Da im Augenblick nicht viel los ist, hat Tiffy Zeit für mich und hört sich gespannt meine Pläne für die nächsten Tage an.

„Super“, ist ihre kurze und knappe Antwort. Für sie scheint es das Selbstverständlichste der Welt zu sein, dass ich heute Abend mit dem Eisbecher-Werfer essen gehe und am Montag für einige Zeit nach Schweden fliege.

„Du machst es genau richtig, Johanna. Mach dir heute einen schönen Abend, morgen packst du dann in Ruhe deinen Koffer, Montag Vormittag beauftragst du deinen Anwalt damit, für dich aktiv zu werden und die Dinge zu regeln, und anschließend kannst du hier sowieso erstmal nichts ausrichten. Schweden ist also die perfekte Lösung – auch wenn ich dich sehr vermissen werden, Süße. Sag mal, was ziehst du heute Abend eigentlich an?“

„Was?“

„Ja, genau, was ziehst du an?“

„Keine Ahnung, ist doch auch nicht so wichtig. Ich will den Typen ja schließlich nicht abschleppen, er ist eher Mittel zum Zweck, um mich abzulenken.“

„Na ja, wer weiß, vielleicht ergibt sich ja doch was.“

„Nee, lass mal, Tiffy, der gehört nun wirklich nicht zu meinem Beuteschema.“

„Dann ist’s ja gut, wenn dir das sooo klar ist“, entgegnet sie mir zwinkernd. „Du, ich muss mich jetzt mal wieder um meine Kundschaft kümmern, wir hören oder sehen uns morgen noch.“

Relativ gut gelaunt mache ich mich auf den Heimweg und ertappe mich dabei, wie ich mir tatsächlich Gedanken darüber mache, was ich nachher zu meiner Verabredung mit Frederic Waldstein anziehen soll. Was für ein Quatsch. Irgendwas werde ich schon in meinem Kleiderschrank finden.

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