Читать книгу Sammelband 5 Krimis - Killer ohne Reue und andere Krimis - Alfred Bekker - Страница 5

RANOK – Der Killer

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von

Bernd Teuber

Krimi

IMPRESSUM

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© Roman by Author/ Titelbild: Nach Motiven von Pixabay, 2018

© dieser Ausgabe 2018 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

Frank Colak ist der uneingeschränkte Herrscher über Hannover. Er kontrolliert das Glücksspiel, die Prostitution und den Drogenhandel. Als die Journalistin Alexandra Piehl seine schmutzigen Geschäfte aufdecken will, stirbt sie durch eine gewaltsam injizierte Überdosis Heroin.

Die Polizei geht davon aus, dass sie ein Junkie war, und die Droge selbst konsumierte. Schon nach kurzer Zeit stellt sie die Ermittlungen ein. Bald darauf taucht ein gewisser Herr Degenbach in Hannover auf. Als stoischer Racheengel beginnt er einen gnadenlosen Kampf gegen die Mörder und zieht sie eigenständig zur Rechenschaft ...

Alexandra Piehl war fast nackt.

Sie trug nur einen Slip und einen schweißnassen Büstenhalter. Ihre Handgelenke waren mit Handschellen an das Bettgestell gefesselt. Die junge Journalistin hatte Angst, entsetzliche Angst. Sie schwitzte. Ihre Augen huschten gehetzt umher. Das Zimmer, in dem sie gefangengehalten wurde, lag im zweiten Stock eines verlassenen Wohnblocks.

Es gab einen Tisch, zwei Stühle, ein Bett mit zerschlissener Matratze und einen Schrank, dessen Türen nicht mehr verschlossen werden konnten. An der Decke baumelte eine nackte Glühbirne. Von den Wänden bröckelte der Putz, und die Leitungsrohre lagen bloß. Der Raum hatte zwei Türen. Eine führte zur Küche. Dort stand ein Gasherd mit einem Topf Kaffee darauf.

Obwohl es in dem Raum warm war, fröstelte Alexandra. Vermutlich gab es hier Spinnen oder andere eklige Insekten. Auf dem Tisch stand eine Kerze. Daneben lagen eine Spritze und ein Gummischlauch. Alexandra wurde seit mindestens vier Stunden in diesem Raum gefangengehalten. Das vermutete sie zumindest. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es war. Sie wusste nur, dass man sie kurz nach 22.00 Uhr vor ihrem Haus entführt hatte.

Sie stieg gerade aus ihrem Wagen, als sie von einem jungen Mann in einem dunklen Anzug angesprochen wurde. Er bat sie um ein Streichholz für seine Zigarette. Sie hielt ihm ihr Feuerzeug unter die Nase und er griff nach ihrem Handgelenk, um die Flamme an seine Zigarette zu führen.

„Sie sind eine sehr hübsche Frau“, sagte er beiläufig.

„Vielen Dank“, erwiderte Alexandra müde. Sie war es gewohnt, dass Männer auf alle möglichen Arten ihre Bekanntschaft suchten.

„Deshalb sollten Sie Ihre Nase auch nicht in Dinge stecken, die Sie nichts angehen“, flüsterte der Mann.

Alexandras Kopf fuhr hoch. Sie glaubte, sich verhört zu haben. Doch da war es schon zu spät. Der Mann packte sie fest am Handgelenk und drängte sie zur Straße. Ein weißer Kleintransporter schoss heran und stoppte mit quietschenden Reifen. Die Seitentür wurde von innen geöffnet und ein weiterer Mann sprang heraus. Gemeinsam zerrten sie die junge Frau in den Wagen.

Alexandra versuchte, um Hilfe zu rufen, aber eine große Hand verschloss ihr den Mund. Sie kratzte und biss, doch ihre Gegenwehr war vergeblich. Sekunden später schloss sich die Tür des weißen Wagens hinter ihr und sie fand sich eingeklemmt unter dem Mann auf dem Boden. Sein Komplize setzte sich hinter das Steuer und das Fahrzeug raste davon. Erst drei Straßen weiter begriff die junge Frau, dass sie entführt worden war. Und es dauerte drei weitere Straßen, bis sie den Grund dafür kannte.

Sie zitterte an ganzen Körper. An der nächsten Ampel versuchte sie, unter dem jungen Mann, der sie angesprochen hatte, hervorzukriechen, um an den Türgriff zu gelangen. Doch ihr Entführer riss sie zurück und verpasste ihr einen Faustschlag in den Magen. Der Schmerz war so stark, dass sie nicht einmal daran dachte, zu weinen.

Die Fahrt dauerte fast eine halbe Stunde. Dann wurde sie von den beiden Männern in dieses Zimmer gebracht. Sie hatte noch mehrmals versuchte, sich zur Wehr zusetzen. Doch sie war chancenlos. Der junge Mann fesselte sie mit Handschellen an das Bettgestell. Dann hatte er ihr die Kleider vom Leib gerissen, um sie zu vergewaltigen. Doch sein breitschultriger Komplize hinderte ihn daran. Alexandra wusste, dass er es nicht aus reiner Menschenfreundlichkeit getan hatte.

Der junge Mann war in die Küche gegangen, um zu telefonieren, während der Breitschultrige bei Alexandra blieb und sie nicht aus den Augen ließ. Nach einigen Minuten kehrte der Jüngere zurück.

„Der Boss weiß Bescheid“, sagte er. „Wir haben grünes Licht.“

Er trat ans Bett und sah auf Alexandra Piehl herab.

„Weißt du, weswegen du hier bist?“

„Weil du endlich mal in deinem Leben eine nackte Frau sehen wolltest“, antwortete Alexandra.

„Deine Witze werden dir noch vergehen“, sagte der junge Mann. „Du bist hier, weil du deine Nase in Dinge gesteckt hast, die dich nichts angehen. Und so etwas hat unser Chef gar nicht gern. Deshalb wäre es klug, wenn du uns sagen würdest, wo sich die Unterlagen befinden.“

Alexandra schwieg.

„Na schön, wenn du es nicht freiwillig sagen willst, werden wir ein bisschen nachhelfen.“

Plötzlich wusste Alexandra, welchem Zweck die Kerze, die Spritze und der Gummischlauch auf dem Tisch dienten. Aber das konnten sie nicht tun. Sie würde die Drogen nie wieder aus ihrem Körper bekommen, sondern ein Leben lang süchtig bleiben, oder vielleicht sogar daran sterben.

„Ich gebe dir drei Minuten“, sagte der junge Mann, während er auf seine Armbanduhr blickte. „Hast du eine Vorstellung davon, was Heroin in deinem Körper anrichtet? Oder welche Qualen du bei einem Entzug durchmachst? Hast du schon einmal geschrien, weil du die schrecklichen Bilder in deinem Kopf nicht mehr ertragen konntest? Noch zwei Minuten.“

Alexandra schwieg.

„Oder möchtest du dein Leben in der Klapsmühle beenden? Keine rosige Zukunft, oder? Vierundzwanzig Stunden von Verrückten umgeben, Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat ... Noch eine Minute.“

„Sie lassen mir ja gar keine Zeit, etwas zu sagen. Wie soll ich Ihnen denn etwas erklären, wenn Sie nicht zuhören?“

Der junge Mann sah sie an. „Oh, wir hören zu. Sehr genau sogar. Also, was willst du uns sagen?“

„Nichts. Ich wollte nur darauf hinweisen, dass Sie nicht zuhören.“

„Die Schonzeit ist um“, stieß der junge Mann wütend hervor.

„Ich habe noch eine Minute“, antwortete Alexandra. Sie wusste, dass es jetzt ohnehin nicht mehr darauf ankam, ob sie etwas sagte, oder nicht. Die Männer trugen keine Masken. Sie hatten ihr auch nicht die Augen verbunden. Es wäre für die junge Frau also kein Problem, sie zu identifizieren. Und dieser Umstand war für Alexandra der Beweis, dass sie gar nicht vorhatten, sie wieder freizulassen. Ihr Todesurteil war längst gefällt.

„Soll ich anfangen?“ fragte der junge Mann.

Sein Komplize nickte. „Den Schlauch kannst du wegwerfen.“

Der junge Mann ging zum Tisch, holte ein Feuerzeug aus der Hosentasche und zündet die Kerze an. Dann zog er ein schmales Briefchen hervor. Er öffnete es und schüttete das darin enthaltene weiße Pulver auf den Löffel. Dann hielt er ihn über die Flamme. Vom Bett aus konnte Alexandra nur das fast wahnsinnige Funkeln in den Augen des Mannes sehen. Sie beobachtete, wie er den Löffel kreisend hin und her bewegte und gelegentlich hob und senkte.

„Wie lange noch?“ fragte sein Komplize.

„Zwei Minuten.“

Der Breitschultrige sah zu Alexandra hinüber, die zitternd vor Angst auf dem Bett lag. Auch ihm war der Widerspruch zwischen ihrer vorgetäuschten Selbstsicherheit und ihrem tatsächlichen Zustand aufgefallen.

„Das ist deine letzte Chance“, sagte er leise. „Wir wollen nur wissen, wo du die Unterlagen versteckt hast. Damit rettest du dein Leben. Denk mal an deine Zukunft. Du kannst noch eine Menge erreichen. Willst du das alles aufs Spiel setzen? Willst du das Leben einer Süchtigen führen oder für ein paar belanglose Fetzen Papier sterben?“

Das heftige Zucken seiner Oberlippe war ein sichtbares Zeichen dafür, dass er log. Alexandras Schönheit, die braunen Augen, das volle schwarze Haar, berührte ihn überhaupt nicht. Er war offenbar nie ein Mann großer Worte gewesen. Töten und Gehen – das war seine Devise. Und der blieb er treu.

Alexandra hatte ihm zwar zugehört, doch ihre Augen hingen an den Händen des jungen Mannes. Sie hatte Angst. In ihrer Kehle steckte ein Kloß, der zu groß war, als dass er auch nur das kleinste Wort durchgelassen hätte. Sie war schweißgebadet. Der junge Mann hatte den Löffel von der Flamme genommen und bewegte ihn langsam hin und her, als enthalte die kleine Rundung eine kostbare Flüssigkeit, von der nicht der geringste Tropfen überlaufen durfte.

„Es ist soweit“, sagte er.

Der Breitschultrige griff nach der Spritze, die neben der Kerze lag. Während der junge Mann den Löffel hielt, tauchte er die Nadel in die Flüssigkeit und zog den Kolben hoch. Nachdem die Spritze voll war, drückte er die Luftblasen heraus. Seine Handgriffe wirkten routiniert, wie die eines Arztes, der seinem Patienten eine Narkose verabreichte. Eine tödliche Narkose, dachte Alexandra. Aus der sie nie wieder erwachen würde. Oder zumindest nicht so, wie sie vorher gewesen war.

„Schnell“, sagte der Breitschultrige, aber er schien es nicht eilig zu haben. Vielmehr kostete er jede Sekunde genüsslich aus. Sie traten ans Bett. Der junge Mann packte Alexandras linken Arm und hielt ihn fest.

„Ich brauche eine Vene“, sagte der Breitschultrige und sein Komplize drückte auf die Armbeuge, bis die Ader als dicker blauer Strang hervortrat.

„Es wird ein bisschen weh tun“, meinte der Breitschultrige grinsend.

Das Licht der Glühbirne spiegelte sich in seinen Augen, während er die spitze Nadel auf Alexandras Ader zubewegte. Plötzlich riss sie ihren Arm weg und begann zu schreien.

„Nein, bitte nicht. Ich sage, was ich weiß.“

Der Breitschultrige hielt in seiner Bewegung inne, während der junge Mann den Zugriff seiner Hand lockerte. Aus der ersten Gefahr gerettet, brach Alexandra unvermittelt in Tränen aus. Ihr ganzer Körper zuckte.

„Von Heulen war nicht die Rede“, fuhr der Breitschultrige sie an und machte eine drohende Bewegung mit der Spritze.

„Gleich“, schluchzte Alexandra. „Ich sage alles.“

„Wir warten.“

Die Stimme des Breitschultrigen war kalt und dennoch voller Spannung.

„Die Unterlagen sind bei mir zuhause.“

„Und wo?“

Alexandra kämpfte mit sich selbst. Bisher hatte sie noch nichts Wichtiges verraten. Aber was würde passieren, wenn die beiden das Versteck erst einmal kannten?

„Ich weiß nicht“, sagte sie leise.

Kalte Wut stand in den Augen des Breitschultrigen. Die junge Frau wusste, dass er sie umbringen würde, wenn sie nicht alles sagte.

„Im Schlafzimmer. Unter der Matratze“, stieß sie hervor.

„Na also“, sagte der Breitschultrige und legte die Nadel wieder auf den Tisch. „Dann kann der Boss ja mit uns zufrieden sein.“

„Und was geschieht mit ihr?“ wollte der junge Mann wissen. Kaum hatte er die Frage ausgesprochen, bereute er sie schon wieder. Alles ging in letzter Zeit schief. Die Ereignisse überrollten ihn einfach. Seit wann musste er eigentlich seinen Komplizen wegen allem und jedem fragen?

„Mach sie kalt“, befahl der Angesprochene. „Verpasse ihr am besten eine Überdosis. Dann sieht‘s wie ein Unfall aus.“

Er verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich.

„Nein“, flüsterte Alexandra. Ihre Stimme steigerte sich zu einem hysterischen Crescendo. „Nein, nein, nein!“

„Doch“, sagte der junge Mann triumphierend. Das war etwas nach seinem Geschmack. Jemanden umbringen, der sich nicht wehren konnte. Die menschliche Regung des Mitleids war ihm genauso fremd wie seinem Komplizen. Er ging zum Tisch und griff nach dem dünnen Gummischlauch. Er war etwa siebzig Zentimeter lang und flexibel genug, um einen Knoten hineinzumachen. Der junge Mann ließ ihn durch die Luft sausen und in die linke Handfläche klatschen – wie eine Reitgerte. Langsam kam er auf das Bett zu. Sein sein Atem ging stoßweise.

„Bitte nicht“, flehte Alexandra. „Bitte nicht.“

Aber der Mann hatte nur Verachtung für ihre Todesangst. Ihre großen, weit aufgerissenen Augen gaben ihm das Gefühl ungeheurer Macht.

„Bitte bringen Sie mich nicht um“, flüsterte Alexandra. „Sie können mit mir machen, was Sie wollen, nur bringen Sie mich bitte nicht um. Ich gebe Ihnen alles, was ich habe.“

„Was hast du denn?“ fragte er und blieb am Fußende des Bettes stehen. In seine Augen trat ein lüsterner Ausdruck.

Die Verzweiflung gab Alexandra die Kraft, selbst im Angesicht des Todes noch verführerisch auszusehen. Die Tatsache, dass man ihr fast alle Kleider vom Leib gerissen hatte, erwies sich jetzt als Vorteil. Ganz deutlich spürte sie seine Erregung. Vielleicht konnte sie die Sache solange hinauszögern, bis Rettung kam.

Wenn Rettung kam!

Aber es war ihre einzige Hoffnung. Der Mann stand am Bett und blickte sie mit glitzernden Augen an. Der Schlauch wippte drohend in seiner Hand auf und ab. Alexandra schob ihre Beine auseinander und bog den Rücken durch, damit ihre Brüste voll zur Geltung kamen. Gleichzeitig bewegte sie ihr Becken auf der schäbigen Matratze hin und her.

„Wenn Sie mir die Handschellen abnehmen, werde ich es Ihnen zeigen“, flüsterte sie mit rauer Stimme.

Der junge Mann schien mit sich selbst zu kämpfen. Dann trat ein verschlagener Ausdruck in sein Gesicht. Er griff in die Tasche seiner Jacke und holte einen kleinen Schlüssel hervor. Er beugte sich hinab und befreite Alexandra von ihren Fesseln. Sie rieb sich ihre Handgelenke. Dieser erste Schritt zur Freiheit schien ihr wie ein Ausblick in das Paradies. Das Blut drang ungehindert in die Hände, und das taube Gefühl in den Fingern verschwand. Tränen der Dankbarkeit stiegen ihr in die Augen. Langsam richtete sie sich auf.

Erwartungsvoll trat der junge Mann einen Schritt zurück. Der Gummischlauch hing schlaff in seiner Hand. Alexandra erhob sich aufreizend. Sie griff hinter sich, löste den Haken ihres Büstenhalters. Mit zwei Schritten näherte sie sich dem Mann und schlang ihre Arme um seinen Hals. Ihren Unterleib presste sie gegen seine Hose.

„Küss mich“, forderte sie ihn auf. Es fiel ihr schwer, Erregung zu heucheln. Am liebsten hätte sie sich übergeben.

Abwartend und bewegungslos stand der junge Mann vor ihr. Doch plötzlich veränderte sich sein Verhalten.

„Du Nutte!“ schrie er. „Glaubst du wirklich, ich lasse mich von dir verarschen?“

Er packte sie an den Schultern und stieß sie zurück aufs Bett. Sofort stürzte er sich auf sein Opfer. Die junge Frau stieß einen entsetzten Schrei aus und rollte sich auf die andere Seite des Bettes. Keine Sekunde zu früh. Keuchend sprang der Mann über das Gestell, doch Alexandra gelang es, sich seinem Zugriff zu entziehen. Sie rannte in Richtung Tür.

Plötzlich trat sie mit dem Fuß in eine herumliegende Glasscherbe. Sie schrie auf, humpelte aber trotzdem weiter. Doch der Schmerz war unerträglich. Sie stützte sich an der Wand ab und versuchte, die Scherbe herauszuziehen. Der junge Mann sprang auf sie zu. Er packte sie an den Haaren und zerrte sie zurück aufs Bett. Dort kniete er sich auf ihren Bauch. Mit einer schnellen Bewegung griff er nach den Handschellen und fesselte die junge Frau wieder ans Bett.

Alexandra wimmerte, doch ihr Gegner kannte kein Mitleid. Er ging zum Tisch und holte die Spritze.

„Nein, bitte nicht ...“ schrie sie.

Der Mann warf sich auf sie, griff ihren linken Arm und drückte zu, bis die Adern unterhalb des Ellbogens anschwollen. In die dickste stach er die Injektionsnadel. Alexandra zuckte zusammen, während das konzentrierte Heroin durch ihren Körper floss. Sie schwitzte und keuchte. Die Wände um sie schienen zu schwanken. Ihr Mund war trocken. Sie zitterte wie ein frierender Hund. Doch dann überkam sie dieses Gefühl von Geborgenheit. Zuerst wehrte sich ihr Verstand dagegen, aber dann wurde sie von Euphorie durchflutet, und alle irritierenden Gedanken verblassten. Mit offenem Mund sank sie zurück.

Plötzlich bäumte sie sich auf. Ihre Augen starrten ziellos zur Decke empor. Sie wollte sich aufrichten, doch es gelang ihr nicht. Sie fiel zurück auf die Matratze. Reglos blieb sie liegen. Alexandra Piehl war tot, und nichts konnte sie wieder zum Leben erwecken.

Am nächsten Tag fand man die Leiche der jungen Frau auf einer öffentlichen Toilette. Neben ihr lag ein Fixerbesteck. Die polizeilichen Ermittlungen verliefen nur schleppend und wurden nach zwei Wochen eingestellt. Für die Beamten stand fest, dass Alexandra Piehl durch eigenes Verschulden an einer Überdosis gestorben war.

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„DANN SIEHST DU EBEN noch mal nach“, befahl der Mann mit den eiskalten Augen. Seine Stimme klang sanft und erbarmungslos. Er war groß, hatte dunkle, nach hinten gekämmte Haare und breite Schultern.

„Dann siehst du eben noch mal nach“ wiederholte er beharrlich. „Und diesmal gründlich.“

Es war Mitternacht, und die Rouletteräder und Spielautomaten ratterten und klingelten munter im „El Dorado“, aber nicht alles stand zum Besten. Frank Colak, der Besitzer des Spielsalons und etlicher weiterer Betriebe in Hannover, hatte schlechte Laune. Er trug einen Dreitausend-Euro-Anzug und lächelte glatt, aber in seinen Augen stand deutlich der Ärger über eine ganz bestimmte Angelegenheit.

„Ich und meine Leute haben die Wohnung vielleicht mehr als zehnmal von oben bis unten durchsucht. Wir haben praktisch alles und jedes in seine Einzelheiten zerlegt“, entgegnete Nicolaj Javenko nervös.

Der vierzig Jahre alte Mann stand mit einem unguten Gefühl im Bauch auf dem blauen Teppich und schwitzte. Javenko hatte Angst vor Frank Colak und die Gründe dafür lagen weniger in einer Art männlicher Wechseljahrpsychose, als vielmehr in ganz realen Fakten. Nur ein Vollidiot oder ein Ahnungsloser konnte hier in Hannover Rede und Antwort stehen, ohne Angst vor Colak zu bekommen. Er war die Nummer eins, wenn es um Schutzgelderpressung, Drogenhandel, Glücksspiel, Geldverleih und Prostitution ging. Aus armen Verhältnissen stammend hatte er sich rücksichtslos bis zu dieser Position emporgearbeitet.

Frank Colak wuchs in Bukarest auf. Die Familie lebte in bitterer Armut. Als der Vater starb, war Colak elf Jahre alt und von heute auf morgen am Ende seiner Kindheit angelangt. Um sich durchzuschlagen, nahm er jeden noch so miesen Job an. Doch er wusste auch, dass er in Bukarest keine Zukunft hatte. Mittellos landete er schließlich in Hannover. Mit einem einzigen Wunsch: Er wollte reich werden.

Schon bald schlug er eine kriminelle Laufbahn ein, beging mit einigen Komplizen kleine Überfälle und handelte mit Pornofilmen. Geradezu prädestiniert für seine Verbrechen war der Flughafen Langenhagen, dessen Zulieferer und Lagerhäuser immer wieder ausgeraubt und bestohlen wurden, wobei oft korrupte Wachleute behilflich waren. Im Alter von 24 Jahren wurde Colak erstmals für einen Überfall inhaftiert. Er verriet seine Komplizen nicht und saß alleine eine Haftstrafe von acht Monaten ab, was seine Reputation in seinem kriminellen Umfeld erheblich steigerte.

Kaum aus der Haft entlassen, startete er seine Unternehmungen von Neuem, raffte Geld zusammen und stieg schließlich zum namhaften Gangsterboss auf. Schutzgelderpressung, Bordelle, Glücksspiel und andere Geschäftsfelder brachten ihm dreckiges, aber auch sauberes Geld. Zudem kaufte er Geschäftsräume und kleine Läden. Diese Immobilien baute er zu Unternehmen und Mietshäusern aus.

Bald galt Frank Colak als unantastbar, weil er jeden kaufte – den kleinen Streifenpolizisten ebenso wie dessen Vorgesetzten. Auch Staatsanwälte und Politiker standen auf seiner Lohnliste. Er kontrollierte diese Stadt. Doch obwohl er jetzt eine Villa voller Kostbarkeiten bewohnte, dachte er immer noch so gradlinig wie ein Mann, der sich mit den bloßen Fäusten verteidigen muss.

„Dann siehst du eben noch mal nach – und noch mal und noch mal!“ befahl Colak. „Und gib nicht eher auf, bis du gefunden hast, was diese kleine verfluchte Schlampe versteckt hat. Wir haben ihr zwar das Maul gestopft, trotzdem müssen wir das Material in die Hände bekommen.“

„Vielleicht existiert es überhaupt nicht. Vielleicht war die Information falsch.“

Colak betrachtete ihn einige Sekunden lang und fragte sich, ob es möglich war, dass ein derart skrupelloser Mensch wie Javenko zugleich so naiv denken konnte.

„Lass es mich mal in einfachen und klaren Worten ausdrücken, und hör mir gut zu – verstanden?“

Seine Stimme wurde rau.

„Vor zwanzig Jahren habe ich diese Stadt übernommen und eine Organisation aufgebaut. Ich beherrsche diese Stadt und bin dabei reich geworden. Genau wie meine Geschäftspartner. Um reich zu bleiben und nicht in den Knast wandern zu müssen, brechen wir Gesetze und manchmal auch Knochen. Ja, wir müssen sogar hin und wieder jemanden umlegen. Trotz Polizei, trotz zahlreicher Untersuchungen, Schreiberlingen und ihren verdammten Berichten, konnten wir uns in diesem Geschäft behaupten. Aber wenn wir die Unterlagen dieser Journalistin nicht finden, dann ist jeder von uns in Gefahr. Vielleicht sogar erledigt. Denk daran, es geht hier nicht nur um meinen Kopf.“

Er machte eine kurze Pause, bevor er fortfuhr.

„Außerdem wäre es klüger gewesen, ihre Leiche unauffällig zu entsorgen. So musste ich wieder einen Haufen Bestechungsgelder zahlen, damit die Bullen die Sache unter den Teppich kehren.“

Javenko brummte etwas Unverständliches und überlegte, was er darauf antworten sollte. Dabei fiel ihm ein, dass derjenige, der dieses Material in Händen hielt, damit auch ganz Hannover in der Hand hatte. In ihm kämpfte Zorn verbunden mit dem Gefühl, alles wieder in Ordnung zu bringen. Er würde es Frank Colak schon zeigen. Er würde diesen ärgerlichen Zwischenfall mit so viel krimineller Brillanz aus der Welt schaffen, dass sein Chef auf ihn stolz sein konnte.

„Okay“, sagte er schließlich. „Wir werden die Unterlagen schon finden. Und zwar noch vor den Bullen.“

„Wegen der Provinzbullen mache ich mir keine Sorgen“, entgegnete Colak. „So lange die ihre monatlichen Bonuszahlungen kriegen, mischen sie sich nicht in meine Geschäfte ein. Aber was passiert, wenn die Unterlagen in die falschen Hände geraten? Wenn wieder ein Journalist herumschnüffelt? Oder das LKA? Die werden sich nicht so einfach kaufen lassen.“

„Ich kümmere mich persönlich darum“, versicherte Javenko. „Wir werden die Unterlagen finden.“

––––––––


EINE WOCHE SPÄTER TRAF ein Mann mit dem ICE aus Berlin in Hannover ein. Er war groß, schlank und hatte schwarze, nach hinten gekämmte Haare. Er trug eine italienische Sonnenbrille und einen eleganten grauen Maßanzug. Seine Sonnenbräune passte gut zu dem blauen Hemd und der Seidenkrawatte.

Er hieß Thomas Degenbach, stammte aus Duisburg, besaß die deutsche Staatsangehörigkeit und war achtunddreißig Jahre alt. Das stand jedenfalls in seinem Personalausweis und seinem Führerschein.

Natürlich war nichts davon wahr.

Weder kam er aus Duisburg noch war er Deutscher. In seiner linken Hand trug er einen braunen, ledernen Koffer, der an seinen Außenseiten keine besonderen Merkmale aufwies. Es war jedoch gegen das Gesetz, den Inhalt so ohne Weiteres in der Bundesrepublik Deutschland mitzuführen. Das scherte den Mann jedoch nicht im Geringsten. Er hatte in seinem Leben schon so viele Gesetze verletzt, dass es auf ein paar mehr auch nicht ankam.

Im doppelten Boden befanden sich fünf Messer mit beidseitig geschliffener Klinge, zwei Pistolen, Modell „Beretta 92FS“, ein extrem leichtes Maschinengewehr vom Typ „Ultimax 100 Mark 30“ inklusive Munition sowie ein Dutzend Hand- und Gasgranaten, ein Richtmikrofon und C4-Plastiksprengstoff.

Und natürlich lautete sein Name nicht Thomas Degenbach.

Er durchquerte die lange Bahnhofshalle, kaufte eine örtliche Tageszeitung und einen Stadtplan. Dann suchte er das Büro der Autovermietung auf, das sich unübersehbar in der Nähe des Ausgangs befand. Er legte seine Kreditkarte vor und mietete einen VW-Golf, der zu den Modellen mit der niedrigsten Tagesgebühr gehörte. Die Formalitäten waren schnell erledigt. Auf dem Parkplatz schloss er den Wagen auf und legte seinen Koffer und die Zeitung auf den Rücksitz.

Er fuhr los und fädelte sich in den fließenden Verkehr ein. Die Fahrt dauerte etwa fünfzehn Minuten. Unterwegs passierte der Wagen ein riesiges Gebäude aus Beton und Glas. Hier befand sich eine der vielen Firmen, die Frank Colak den äußeren ehrbaren Anstrich gaben, und die genau die Gewinne abwarf, die er im voraus bestimmt hatte.

Aufgrund seiner Recherchen wusste Degenbach, dass Colak dreimal verhaftet, aber nur einmal verurteilt worden war und leidenschaftlich Poker spielte. Sein Einkommen konnte man jedoch nur schätzen. Es musste sich zwischen zehn und zwanzig Millionen Euro im Jahr bewegen.

Der Wagen verlangsamte seine Fahrt und hielt fast unbemerkt auf dem Parkplatz neben dem Hotel „Sonnenblick“, einem vierstöckigen Gebäude, dessen falsche Fassade etwas Gediegenes aber auch etwas Verstaubtes ausstrahlte. Degenbach betrat die Hotelhalle. Am Empfang trug er sich mit seinem falschen Namen ein und zahlte achtzig Euro pro Tag für ein Einzelzimmer mit Bad.

Bevor er sich eine Flasche Carlsberg-Bier bestellte, wusch er sich die Hände. Dann setzte er sich aufs Bett und überlegte. Diesem Talent hatte er es in erster Linie zu verdanken, dass er überhaupt noch am Leben war. Erst in zweiter Linie folgte seine Geschicklichkeit mit Stich- und Feuerwaffen. Nachdem das Bier gebracht worden war, öffnete Degenbach den Koffer und prüfte die Waffen, die er mitgebracht hatte. Sein Feldzug konnte beginnen.

Er duschte, zog sich frische Sachen an, stieg in seinen Wagen und fuhr in die Innenstadt. In einer Seitenstraße parkte er das Fahrzeug. Dann machte er einen Bummel durch die Fußgängerzone. Junge Frauen studierten die neuen Bademoden in den Schaufenstern der Boutiquen, Mütter in zu engen Hosen zerrten plärrende Kinder hinter sich her und die dazugehörigen Väter schleppten prall gefüllte Einkaufstüten.

Sein Ziel war die Stadtbibliothek in der Hildesheimer Straße. Wenn man dem Internet Glauben schenken durfte – und Degenbach hoffte sehr, dass das der Fall war -, verfügte sie über 600.000 Romane, Ratgeber, Filme, Noten und ein umfangreiches Zeitungsarchiv. Und genau darauf hatte er es abgesehen.

Degenbach blätterte sich durch die vergangenen sechs Monate der Tageszeitungen von Hannover. Dabei befasste er sich ausschließlich mit regionalen Artikeln, die von Alexandra Piehl geschrieben worden waren. Vielleicht gab es hier einen Hinweis auf das Mordmotiv. Degenbach las Artikel für Artikel und kam bis zu denen, die einen Monat vor dem Anschlag veröffentlicht wurden, aber nichts deutete darauf hin, wodurch sie sich den Zorn des allmächtigen Frank Colak zugezogen hatte. Nach vier Stunden verließ Degenbach die Bibliothek. Draußen wurde es allmählich dunkel.

Er ging zu seinem Wagen und fuhr in die Scholvinstraße. Dort parkte er das Fahrzeug in der Hoffnung, dass er es bei seiner Rückkehr noch vollständig vorfinden würde. Degenbach bog in die Reitwallstraße ein. Sie gehörte zum Vergnügungsbereich des Rotlichtviertels mit den Bordellen, Stripteasebars, Clubs, Kneipen und Tattoo-Shops. Darüber hinaus war die Gegend ein Rückzugsgebiet für Drogendealer, Schläger und andere kriminelle Elemente. Sein Blick wanderte über die Neonreklame und die Schilder über den Geschäften. Er passierte einen Laden für Sex-Spielzeug, zwei Bordelle, eine kleine Snack-Bar und einen Tattoo-Shop.

Er prägte sich alles ein, jede Straße und sämtliche Durchgänge, die im Zweifelsfall eine Fluchtmöglichkeit boten. Eine mühselige, aber notwendige Kleinarbeit. An einer Ecke stieß er mit einer Prostituierten zusammen, die ihn wütend beschimpfte. Er blieb nur kurz stehen, und setzte seinen Weg dann fort. Das Gekeife der Frau verfolgte ihn fast hundert Meter weit. Aber niemand kümmerte sich darum.

Degenbach benutzte einen der Durchgänge, die rechts und links von Häuserwänden begrenzt wurden. Er sah sich um. Instinktiv spürte er die Gefahr. Dort, wo er den Durchgang betreten hatte, huschte ein Schatten ins Dunkel. Oder spielten ihm seine Augen einen Streich? Degenbach wusste nicht, ob er den Schatten wirklich gesehen hatte. Er drehte sich noch zwei Mal um, während er den Durchgang passierte.

Wenn da wirklich ein Schatten gewesen war, so gab es ihn jetzt jedenfalls nicht mehr. Reglos blieb Degenbach stehen. Der Durchgang führte zu einer Straße. Er hätte nach rechts oder links gehen können, doch sein Instinkt veranlasste ihn dazu, noch einmal umzukehren. Gleich darauf sah er einen Mann aus den Schatten auftauchen.

„Willst du was von mir?“ fragte er scheinbar gleichgültig.

Das Individuum, das vor Schmutz starrte, verzog den Mund und grinste ihn aus farblosen Augen an. Der junge Mann war ein Junkie, das erkannte Degenbach sofort.

„Wie wäre es mit einer kleinen Spende?“ nuschelte er. „War gerade hier unterwegs und dachte, du könntest mir vielleicht was geben.“

„Und wenn nicht?“

Der junge Mann hatte plötzlich ein Messer in der Hand.

„Dann hol ich‘s mir.“

Degenbach pfiff durch die Zähne. Er hatte sich scheinbar zufällig umgedreht und ging langsam in Richtung Straße. Wie er es erwartet hatte, folgte ihm der Junkie. Die farblosen Augen registrierten jede Bewegung. Ihr Besitzer war bereit, beim geringsten Anzeichen von Gefahr, zuzustechen.

„Wie viel willst du denn?“ fragte Degenbach.

„Alles, was du bei dir hast.“

„Das ist aber ‘ne Menge.“

„Billiger geht‘s nicht“, sagte der junge Mann. „Und weniger ist es auch nicht wert.“

„Was?“ fragte Degenbach. Er blieb stehen und wandte sich um.

Der andere wich zwei Schritte zurück. „Dein Leben.“

„Mein Leben?“

„Klar, du bezahlst dafür, damit dir hier nichts passiert.“

Degenbach seufzte. Seine ganze Haltung deutete an, dass er sich geschlagen gab.

„Alles, was ich bei mir habe“, murmelte er. „Na gut ... hier!“

Gierig kam der Junkie näher. Degenbach schlug die Hand mit der Waffe zur Seite. Dann riss er das Messer aus der Scheide unter seinem linken Arm. Die Klinge drang zwischen zwei Rippen hindurch ins Herz. Ein leises Kratzen ertönte, als es an einem der Knochen entlang schabte. Es geschah so schnell, dass der Junkie keine Gelegenheit mehr hatte, einen Schrei auszustoßen.

Degenbach zog die Klinge aus dem Körper, während dieser zusammensackte. Er wischte das Messer an der schmutzigen Kleidung ab und schob es wieder in die Scheide. Degenbach überzeugte sich davon, dass ihn niemand beobachtet hatte. Dann ging er zur Straße und setzte seinen Rundgang fort. Vor einem fensterlosen Gebäude in grellen Farben blieb er stehen. Die bunten Plakate neben dem Eingang kündigten Tänzerinnen, Büfett und Cocktails an.

Degenbach bezahlte bei einer müde aussehenden Frau an der Tür und ging hinein. Hinter dem kleinen Flur lag der Club sehr dunkel vor ihm. Degenbach brauchte einen Moment, um seine Augen an die schummrige Beleuchtung zu gewöhnen. Es gab nicht viel zu sehen. Ein paar Männer saßen am Tresen neben dem Laufsteg. Eine schlanke Blondine wand sich mit erstaunlicher Beweglichkeit zu einem rhythmischen Beat um eine Stange. Degenbach ging zu einem der Tische nahe der Bühne und setzte sich auf einen Stuhl. Eine Serviererin in Hotpants und einem glänzenden roten Trägertop eilte zu ihm. Degenbach bestellte ein Glas Cola.

„Wollen Sie etwas Alkoholisches dazu?“ erkundigte sie sich.

„Nein danke, nur Cola.“

Die Serviererin nickte und verschwand. Degenbach richtete seine Aufmerksamkeit auf die Bühne, wo die Blondine sich inzwischen bis auf ihren String-Tanga ausgezogen hatte. Die Show wirkte nicht gerade wie eine Hollywood-Choreografie, aber das konnte man in einem Laden wie diesem auch nicht erwarten. Die Blondine kniete sich vor eine Gruppe junger Männer, die ihr mehrere Zehn-Euro-Noten in den Slip steckten.

Kurz darauf kam das Getränk. Die Rechnung betrug vier Euro. Degenbach gab ihr einen Zehner. Die Serviererin zeigte ein geschäftsmäßiges Lächeln und ging mit wiegenden Hüften davon. Degenbach schaute zur Bühne. Die Blonde war fertig und sammelte auf dem Rückweg über den Laufsteg ihre herumliegenden Kleidungsstücke ein. Er winkte die Tänzerin zu sich. Sie streifte ein durchsichtiges, bauchfreies T-Shirt über und kam schlecht gelaunt an den Tisch.

„Mein Name ist Uwe. Ich würde mich gerne mit dir unterhalten.“

Die Frau zuckte mit den Schultern und setzte sich.

„Wenn ich mit Ihnen rede, müssen Sie mir einen Drink spendieren.“

„Okay.“

Er winkte der Serviererin. Die Frau, deren Name laut ihrer Auskunft Debbie war, bestellte eine Flasche Champagner.

„Ein Glas“, korrigierte Degenbach. „So lange werde ich nicht bleiben.“

Nachdem die Serviererin gegangen war, wandte er sich wieder an die Tänzerin. Sie war hübsch, obwohl man ihr Alter wegen des dicken Make-ups schwer schätzen konnte.

„Wie lange tanzen Sie hier schon?“

„Ungefähr ein Jahr.“ Debbie betrachtete ihre Fingernägel.

„Gefällt es Ihnen?“

Sie machte ein gelangweiltes Gesicht. „Klar. Es ist ganz okay.“

„Ich habe mich gefragt, weshalb sich eine Frau vor Fremden auszieht.“

Debbie lachte. „Wieso nicht?“ Sie setzte sich gerade hin, sodass ihre Brüste zur Geltung kamen. „Ich habe einen tollen Körper. Warum sollte ich ihn nicht zeigen? Und wo sonst kann ich so viel Geld verdienen? Dafür muss ich weder Gesetze brechen noch mit jemandem schlafen.“

Degenbach drehte sein Glas. „Ist es nicht gefährlich? Immerhin ist es eine raue Gegend.“

„Ich bin vorsichtig. Alle, die hier arbeiten, passen gegenseitig auf sich auf.“

„Dann ist das Geld das Risiko also wert?“

„Das Geld und ...“

„Und was? Was gefällt Ihnen am Strippen so?“

Debbie blickte sich um. „Hier drinnen haben Frauen die ganze Macht. Männer sehen mir zu und warten darauf, dass ich den letzten Fetzen Kleidung fallen lasse. Ich kann ihnen das bieten. Ich nehme das Trinkgeld und verschwinde. Die Männer bleiben frustriert und pleite zurück.“

„Aha“, sagte er.

Debbie grinste. „Für manche Frauen ist es sogar eine Art Rache.“

Degenbach grinste. Gleichzeitig ließ er seine Blicke unauffällig umherschweifen. Nichts, was in dem Club passierte, sollte seiner Aufmerksamkeit entgehen.

„Wie sind Sie eigentlich auf die Idee gekommen, Striptease-Tänzerin zu werden?“ fragte er beiläufig.

„Ach, das hat sich so ergeben. Wir wohnten früher in einem kleinen Ort, etwa zwanzig Kilometer von hier entfernt. Meine Eltern ließen sich scheiden, als ich vierzehn war. Meine Mutter hatte bald einen anderen Mann aufgegabelt und reiste mit ihm in der Weltgeschichte herum. Deshalb lernte ich, für mich selbst zu sorgen. Na ja, und hier in Hannover suchten sie Tänzerinnen. Ich bewarb mich um den Job. Ich war immer schon ziemlich groß und entwickelt, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

„Ich verstehe, was Sie meinen“, entgegnete Degenbach.

„Ich habe ein falsches Alter angegeben. Sie nahmen mich, und danach war es leicht. Zuerst war ich in einer Tanzgruppe, dann habe ich als Statistin beim Fernsehen und in Nachtclubs gearbeitet. Einmal hatte ich auch einen Lehrer, der war in mich verliebt und wir arbeiteten eine Solonummer für mich aus. So ging es immer im Kreis herum.“

„Und niemand hat Sie jemals groß herausgebracht?“

„Nein.“

„Warten Sie darauf?“

„Sie meinen, mal ‘ne große Nummer zu werden?“

„Ja.“

„Nein, tu ich nicht. Ich mache mir nicht viel vor. Ich bin Tänzerin und damit basta. Ich habe die Figur, mein Aussehen, meine Jugend, und anscheinend habe ich etwas, das ankommt. Aber Talent, nein.“

Sie trank einen Schluck Champagner.

„Und was ist Ihr Lebensziel?“ fragte Degenbach.

Debbie lachte laut auf.

„Was gibt es denn dabei zu lachen?“

„Das Wort Lebensziel. Das habe ich so oft von meinem Vater zu hören bekommen, dass es mit irgendwie albern erscheint.“

„Aber trotzdem müssen Sie doch ein Ziel haben.“

„Ich werde wohl heiraten.“

„Und warum ist das bisher nicht eingetroffen?“

„Warum? Glauben Sie denn, ich wäre dazu schon im richtigen Alter? Was meinen Sie wohl, wie alt ich bin?“

„Fünfundzwanzig.“

„Schmeichelhaft sind Sie aber nicht. Ich bin vierundzwanzig. Trotzdem habe ich schon eine Menge hinter mir. Ich werde Ihnen mal erzählen, was ich mir von einer Ehe wünsche.“ Die roten Lippen verzogen sich zu einem Lächeln und die weißen Zähne schimmerten hindurch. „Geld. Und zwar einen Haufen davon. Ohne geht es nicht.“

„Nun, ich könnte mir vorstellen, dass man Ihnen schon viel Geld angeboten hat.“

„Merkwürdigerweise nicht. Die Reichen, die ich nehmen würde, wollen nicht heiraten, und die Armen, die heiraten wollen, die nehme ich nicht. Arme Männer hätte ich an jedem Finger einen haben können. Aber das wäre nichts für mich. Höchstwahrscheinlich habe ich denen eine Menge Ärger erspart. Wer mich nimmt, geht ein ganz schönes Risiko ein.“

„Ach, Sie tun ja nur so.“

„Wollen wir es ausprobieren? Sie sind ganz mein Typ – das heißt, wenn Sie reich genug sind.“

„Bin ich nicht.“

„Dann lassen wir es so, wie es ist. Wir könnten uns eine schöne Zeit miteinander machen. Mal sehen, wer als erster abspringt.“

„Ich glaube, es macht Ihnen einfach Spaß, hier die unartige Frau zu spielen.“

„Finden Sie mich denn unartig?“

„Das kann ich nicht sagen.“

„Es ist noch viel schlimmer.“

„Bitte, nun aber Schluss damit.“

„Ich bin durch und durch schlecht.“ Sie trank ihr Glas leer und füllte es wieder auf. „Sagen Sie nicht, dass ich Sie nicht gewarnt habe. Ich sage es Ihnen jetzt zum ersten und zum letzten Mal. Schlecht. Punkt. Und jetzt reden wir von etwas anderem.“

Trotzdem würde ich es riskieren. Wenn Sie es mit mir probieren wollen?“

„Furchtbar gern. Ich sagte Ihnen ja, Sie sind genau mein Typ.“

„Und wie ist Ihr Typ?“

„Nun, erst einmal muss er gut aussehen. Aber das allein genügt nicht. Er muss etwas mehr haben, etwas Aufregendes. Und das haben Sie. Vielleicht reden Sie ja manchmal wie ein Schuljunge, aber aussehen tun Sie bestimmt nicht wie einer. Sie haben so etwas Gefährliches an sich.“

„Ich? Gefährlich? Schauen Sie noch mal hin.“

„Das schwarze Haar und die brennenden braunen Augen, dieses finstere Gesicht, das Sie machen, und dieser Blick, wenn Sie sich umschauen. Manchmal sehen Sie verärgert aus – ich weiß nicht, aber ich sage Ihnen ehrlich, dass ich mich ein bisschen vor Ihnen fürchte.“

Sie trank abermals einen Schluck und fuhr dann langsam fort: „Ich mag das alles.“ Debbie schüttelte den Kopf. „Nein, eigentlich habe ich doch keine Angst vor Ihnen.“

Die Serviererin erkundigte sich, ob sie noch etwas trinken wollten. Degenbach schob sein Glas von sich. Aus den Augenwinkeln hatte er beobachtet, wie ein stämmiger Mann den Club betreten und in einem der hinteren Räume verschwunden war. Genau auf diesen Mann hatte Degenbach gewartet.

„Nein, danke. Ich gehe lieber.“

Er gab Debbie einen Zwanzig-Euro-Schein, den sie in ihren Slip steckte.

„Bleiben Sie noch die nächste Stunde. Da kostet ein privater Strip nur die Hälfte.“

„Ein anderes Mal vielleicht.“

Sie lächelte und verschwand. Degenbach schaute ihr einen Moment nach, dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder der Tür im Hintergrund zu, durch die der Mann verschwunden und bis jetzt nicht wieder aufgetaucht war. Musik ertönte. Eine brünette Frau erschien auf der Bühne und begann mit ihrer Darbietung.

Degenbach warf ihr nur einen kurzen Blick zu. Dann verließ er den Club, ging zu seinem Wagen, setzte sich hinein und fuhr ihn zum Seitenausgang. Dort wartete er. Seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Erst nach rund einer Stunde verließ der stämmige Mann das Etablissement durch den Seitenausgang. In der linken Hand trug er eine schwarze Sporttasche.

Degenbach hatte genug Erfahrung, um diesen Mann mit dem Babygesicht und den verschlagenen Augen als gefährlich einzuschätzen. Und er brauchte auch kein Hellseher zu sein, um zu wissen, dass sich in der Sporttasche Geld befand. Der Mann blickte sich nach allen Seiten um, stieg in seinen schwarzen BMW und steuerte den nächsten Laden an. Degenbach folgte ihm in größerem Abstand. Der Verkehr war mäßig, sodass er sein Wild nicht aus den Augen verlor.

Die Fahrt führte noch zu drei weiteren Strip-Clubs, dann fuhr der BMW nach Osten und hielt vor einem großen alten Backsteinhaus. Der Mann mit der Sporttasche stieg aus. Wieder der sichernde Blick. Er betrat aber keines der Häuser, sondern ging langsam weiter, von Zeit zu Zeit hinter sich schauend. Schließlich verschwand er im Schatten eines Hauseingangs.

Degenbach wartete einige Zeit, dann stieg er aus und schlich geduckt zu dem Gebäude hinüber. Es war dreistöckig. In den unteren Räumen brannte kein Licht. Nur ein Fenster im oberen Stockwerk war erleuchtet. Degenbach presste sich gegen die Hauswand. Zentimeterweise schob er sich an die Eingangstür heran. Auf der Straße fuhr ein Wagen vorbei. Sekundenlang tauchten die Scheinwerfer das Gebäude in geisterhaftes Licht, dann war es wieder dunkel.

Degenbach drückte die Tür auf und betrat das Haus. In der Eingangshalle war es dunkel. Er holte seine Taschenlampe hervor und ließ den Lichtstrahl umherschweifen. Auf der linken Seite führte eine Treppe in die oberen Stockwerke. An der rückwärtigen Wand gab es einen Fahrstuhl. Degenbach wollte sich noch weiter umsehen, doch dazu hatte er keine Gelegenheit. In der oberen Etage wurde eine Tür geöffnet. Sofort schaltete er die Lampe aus, verließ das Gebäude und kehrte zu seinem Wagen zurück.

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AUCH IN DER NÄCHSTEN Nacht startete Mark Kressing seine Tour durch mehrere Strip-Clubs, um die Einnahmen abzuholen. Um 4.10 Uhr betrat er das unscheinbare Gebäude in der Körnerstraße und fuhr mit dem Lift in den dritten Stock. Er war der letzte der drei Boten, die das Geld zum Buchmacher brachten. Degenbach beobachtete das Gebäude von der anderen Straßenseite aus, schaute die Fensterfront hinauf, zog an seiner Zigarette und blieb in einem dunklen Hauseingang stehen.

Das Fenster im dritten Stock war hell erleuchtet. In den dahinterliegenden Räumen beendete ein kleiner, schusseliger Mann mit Goldrandbrille sein fast rituell anmutendes Geldzählen. Er arbeitete schon seit mehr als zehn Jahren für Frank Colak. Seine Aufgabe war es, die Geldströme in gewinnbringende Kanäle zu lenken und ebenso sicher wie profitabel anzulegen.

„Zweihunderttausend ... dreihunderttausend ... vierhunderttausend. Hat sich mal wieder gelohnt“, sagte er zufrieden.

Kressing nickte.

„Was macht die Familie?“ erkundigte sich der Buchhalter beiläufig.

„Ich habe keine.“

Der kleine Mann schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Zu blöd, das hatte ich ganz vergessen. Aber du hast eine Freundin, nicht wahr?“

„Ja“, erwiderte Kressing grinsend.

„Grüß sie von mir, unbekannterweise“, sagte der Buchhalter höflich. Gleichzeitig wusste er, wie unnötig und grotesk seine Worte waren. Er packte die Geldbündel in die Sporttasche und überreichte sie Kressing.

„Pack alles in den Safe.“

„Okay.“

„Eines verstehe ich nicht“, sagte der kleine Mann, während er die Tür öffnete. „Warum kommt ihr immer allein?“

„Das ist weniger auffällig“, sagte Kressing.

„Aber auch gefährlich. Schließlich trägst du ein kleines Vermögen bei dir. Eher schon ein großes“, korrigierte er sich.

Kressing grinste. „Niemand weiß etwas davon. Es sei denn, du hättest darüber geplaudert.“

„Ich bin doch nicht verrückt.“

„Wir sind es auch nicht“, sagte Kressing.

Er trat auf den Gang hinaus und näherte sich dem Lift. Die Sporttasche trug er in der linken Hand. Als sich die Kabinentür öffnete, erhaschte er einen sehr kurzen Blick auf einen Mann mit einer Schirmmütze auf dem Kopf.

Degenbach hielt ihm eine Dose Tränengas vor das Gesicht und betätigte den Sprühknopf. Sofort ließ Kressing die Sporttasche fallen. Er hob die Hände vor die Augen, als seien sie mit Salzsäure verätzt. Er wollte schreien, doch ihm blieb die Luft weg. Er konnte kaum atmen. Trotzdem gelang es ihm, sich auf sein Gegenüber zu stürzen. Beide gingen zu Boden.

Kressings Hände fuhren zu Degenbachs Hals und legten sich darum wie Eisenbänder. Ein durchschnittlicher Mann hätte jetzt keine Chance mehr gehabt.

„Was willst du von mir?“ rief Kressing. „Raus mit der Sprache, oder ich dreh dir die Luft ab.“

Degenbach wurde plötzlich schlaff, scheinbar bewusstlos. Unwillkürlich lockerte Kressing den Griff. Im gleichen Moment spürte er einen grausamen Schmerz, der ihm die Luft nahm und dafür sorgte, dass sein Körper sich verkrampfte. Degenbach nutzte die Chance, beide Beine anzuziehen und Kressing in den Unterleib zu treten. Das Stöhnen des Mannes war fast unhörbar. Es klang ungefähr so, wie wenn Luft aus einer vorübergehend stillgelegten Wasserleitung entweicht.

Taumelnd kam Kressing wieder auf die Füße. In seiner Hand hielt er ein Messer. Eine kurze, kräftige Waffe, ziemlich plump, aber wirksam. Keines der handgeschliffenen, fein ausbalancierten Kunstwerke, wie Degenbach sie hin und wieder verwendete. Und er bezweifelte auch, dass Kressing mit dem Messer so gut umzugehen verstand wie er selbst. Zudem sorgte das Tränengas dafür, dass er seinen Gegner nur undeutlich erkennen konnte. Die beiden Männer gingen im Kreis, wobei Kressing sich seinem Feind mehr und mehr näherte.

Degenbach machte einen Ausfall nach rechts. Für den Bruchteil einer Sekunde ließ sich Kressing ablenken. Das genügte. Degenbach brach den Arm, der das Messer hielt. Sogar der Schmerzenslaut war nicht mehr als ein heiseres Stöhnen. Degenbach fing das fallende Messer geschickt auf und stieß Kressing die Spitze in die Seite. Der kalte Stahl drang etwa fünf Zentimeter tief ein.

„Damit du dich keinen Illusionen hingibst“, sagte Degenbach kalt. „Eine falsche Bewegung, und ich ramme dir das Ding bis zum Heft in den Körper.“

„Was zum Teufel willst du?“ fragte Kressing stöhnend.

„Wirst du schon merken.“

„Wer hat dich geschickt?“

Keine Antwort. Das Messer bohrte sich durch Sakko und Hemd und ein Stück in die oberste Fettschicht der Taille. Kressing begriff, dass er zu viel gefragt hatte, und biss die Zähne zusammen. Im Moment war seine Lage alles andere als rosig und er machte sich keine großen Illusionen. Er gab aber auch die Hoffnung nicht auf. Er vertraute auf seine Erfahrung. Irgendwann, hoffte er, machte dieser Kerl einen Fehler.

„Hör mal“, sagte er. „Ich glaube, das ist ein Missverständnis. Was willst du denn von mir?“

Degenbach schwieg.

„Weißt du, für wen ich arbeitete?“

„Natürlich.“

„Dann weißt du wohl auch, was er mit dir anstellen wird, wenn er das erfährt.“

„Oh, keine Sorge, er wird es erfahren“, sagte Degenbach fast beiläufig. „Dessen bis ich ganz sicher.“

Degenbach holte eine Injektionsspritze aus der Jackentasche und pumpte Kressing das Betäubungsmittel in den Hals. Sofort sank der Mann zu Boden. Degenbach fuhr mit dem Lift ins Erdgeschoss, schulterte den Bewusstlosen und brachte ihn zu seinem Wagen, den er am Hintereingang des Gebäudes geparkt hatte. Niemand bemerkte den Abtransport des Geldboten.

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EINIGE STUNDEN SPÄTER kam es an der Ecke Stiftstraße und Lange Laube zu einer Menschenansammlung. Sie hatten sich um einen Laternenpfahl gruppiert. Die Leute blockierten nicht nur den Bürgersteig, sondern auch noch die Straße. Einige grinsten oder lachten, andere waren schockiert. Aus der Ferne ertönte das Heulen eines herannahenden Polizeiwagens. Schlagartig zerstreuten sich die Leute. Als das Fahrzeug vor dem Laternenpfahl hielt, schlenderten die meisten der Zuschauer über die Straße und gaben den Blick auf Mark Kressing frei.

Der Geldbote war nackt mit Stacheldraht und durchschnittener Kehle an den Laternenpfahl gefesselt worden. Auf seinem Kopf trug er eine rote Lockenperücke. Für den Fall, dass jemand den Sinn des Ganzen missdeuten könnte, hatte man ihm ein Wort mit Blut auf die nackte Brust gemalt: RANOK.

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KICHERND HÜPFTE DIE junge Frau durch die halboffene Tür, zog eine Wolke aus Wasserdampf hinter sich her und lief auf die Dusche zu, die sich an der rechten Seite des gekachelten Vorraums befand. Sie drehte den Hahn mit dem blauen Punkt auf und stieg unter das eiskalt herabprasselnde Wasser. Erschauernd sprang sie nach zehn Sekunden wieder heraus und lief Frank Colak in die Arme, der schwitzend aus der Sauna auftauchte.

Er tätschelte den nackten Hintern der blonden Frau, rief damit ein erneutes Kichern hervor und stellte sich ebenfalls unter die Dusche. Als er das Wasser abdrehte und prustend herauskam, trug Clarissa einen spärlichen Bikini. Genüsslich ließ er sich von ihr abtrocknen und streifte einen dunkelblauen Bademantel über.

Gemeinsam schlenderten sie durch die rustikal eingerichtete Halle auf die Terrasse hinaus. Eine rote Markise sorgte für Schatten auf dem gedeckten Frühstückstisch und den mit Polstern belegten Stahlrohrsesseln. Strahlende Sonne tauchte das parkähnliche Gartengelände in einen freundlichen Glanz. Lichtreflexe blitzten auf der spiegelglatten Wasseroberfläche des Swimmingpools.

Mit einem wohligen Stöhnen ließ sich Colek in die Polster sinken. Trotz seiner annähernd fünfzig Jahre wirkte er athletisch und durchtrainiert. Immerhin verfügte er über genügend Freizeit, um sich diversen Sportarten zu widmen. Wobei er auch den Zeitvertreib mit jungen Frauen wie der Blonden durchaus als Sport betrachtete. Sie schaltete das Radio ein, das auf dem Servierwagen stand, goss Kaffee in die Tassen und setzte sich. Das Morgenmagazin war wie üblich mit Werbung gespickt. Zwischen kurzen Reportagen wurden die neuesten Hits gebracht. Colek widmete sich einem frischen Toast.

„Fahren wir heute in die Stadt zum shoppen, Darling?“ fragte Clarissa. „Du hast es mir versprochen.“

Colak brummte etwas Unverständliches und stopfte sich die Reste der Toastscheibe in den Mund.

„Weiß noch nicht. Wir werden sehen.“

Ihr Blick traf seine zerfurchte Stirn.

„Ist etwas nicht in Ordnung, Darling?“

Er antwortete mit einer schroffen Handbewegung. Seine Miene verhärtete sich. Clarissa begriff sofort. Sie kannte ihn, denn sie hatte immerhin schon seit einigen Wochen das Vergnügen, ihm die Langeweile zu versüßen. Sie konnte sich nicht erklären, was es war, wusste nur, dass er ungelöste Probleme hatte. Daran erinnerte er sich stets dann auf unliebsame Weise, wenn sie ihm einen Vorschlag für den Tagesablauf machte.

Frank Colak frühstückte schweigend weiter, ließ die Berieselung durch Musik, Werbung und Reportagen über sich ergehen. Er blickte ihr nicht einmal nach, als Clarissa aufstand und mit wiegendem Hüftschwung den Swimmingpool ansteuerte. Wasser spritzte mit vernehmlichem Klatschen hoch, als die Frau in die klaren Fluten tauchte. Grübelnd starrte Colak vor sich hin. Javenko war es immer noch nicht gelungen, das Material aufzutreiben, dass diese Journalistin über ihn und seine Geschäfte gesammelt hatte.

Er stieß einen heiseren Fluch aus. Javenko gehörte eigentlich zu seinen zuverlässigsten Männern. Dass er solch eine stümperhafte Arbeit ablieferte, passte so gar nicht zu ihm. Der Teufel sollte ihn holen, diesen verdammten Hurensohn. In der ersten Wut war Colak versucht, ein Exempel an Javenko zu statuieren und ihn in der Versenkung verschwinden zu lassen. Aber er zwang sich zu nüchternen Überlegungen. Voreilige Entschlüsse waren noch niemals sein Fall gewesen. Und ihm blieb noch Zeit, um die verfahrene Situation wieder zu seinen Gunsten zu wenden.

Abrupt sprang er auf und ging ins Haus. Er achtete mit keinem Blick auf Clarissa, die ihm vom Rand des Swimmingpools schmollend nachblickte. Er durchquerte die Halle und betrat den Vorraum seines Arbeitszimmers. Zwei Männer erhoben sich ruckartig. Auf dem simplen Holztisch zwischen ihnen standen Kaffee, belegte Brote und Frühstücksgeschirr. Die beiden Männer trugen dunkelblaue Anzüge, die wie eine Uniform wirkten. Ausgebeulte Jacketts in der Gegend der linken Achselhöhle, Einheits-Kurzhaarschnitt, Schultern in Schrankbreite – Bodyguards aus dem Bilderbuch.

Die Leibwächter verharrten in Hab-Acht-Stellung, bis Colak im Vorbeigehen gönnerhaft abwinkte und hinter der Polstertür seines Befehlszentrums verschwand. Bücher- und Aktenregale nahmen drei Wände des Raums ein. Die Fensterfront ermöglichte einen weiten Blick auf das Gartengelände und einen Teil des Swimmingpools. Den Mittelpunkt des Zimmers bildete ein Monument von einem Schreibtisch aus Mahagoni. Colak wirkte klein dahinter, als er sich in den pneumatisch gefederten Drehsessel fallen ließ.

Minutenlang starrte er die Regale neben der Tür an. Es fiel ihm nicht schwer, seine Gedanken zu sortieren. Er war darauf trainiert, selbst in den brisantesten Lagen, einen klaren Kopf zu bewahren. Das hatte ihn hochgebracht, hatte ihn zu dem gemacht, was er heute war. Andere kriegten sofort Panik, wenn etwas nicht so lief, wie sie es geplant hatten. Doch Frank Colak gehörten nicht zu diesen Menschen. Er würde es wie üblich so drehen, dass er selbst im Hintergrund blieb.

Die Sprechanlage ließ einen rauen Summton hören. Colak knurrte ärgerlich, drückte aber dann den Knopf, der seine Stimme ins Vorzimmer übertrug.

„Was gibt‘s denn?“

„Herr Märten möchte Sie dringend sprechen“, tönte es krächzend aus dem Tischlautsprecher.

„Okay, schickt ihn rein.“

Colak ließ den Knopf der Sprechanlage los. Es gab ein saugendes Geräusch, als die schalldicht gepolsterte Tür des Arbeitszimmers geöffnet wurde. Der Mann, der mit kurzen, schnellen Schritten hereinstürmte, war dunkelhaarig und drahtig. Er trug einen maßgeschneiderten dunklen Anzug. In der rechten Hand hielt er einen schwarzen Aktenkoffer aus echtem Leder. Colak hatte seinen Anwalt noch nie ohne diesen Gegenstand gesehen. Manchmal glaubte er, dass Kurt Märten das Ding sogar mit ins Bett nahm.

„Früh auf den Beinen, wie“, sagte Colak statt einer Begrüßung und deutete mit einer einladenden Handbewegung auf den Besuchersessel.

„Guten Morgen, Herr Colak“, entgegnete der Rechtsanwalt, leicht außer Atem. Er setzte sich, stellte den Aktenkoffer neben den Sessel und zog seine Brille nach vorn.

„Ich habe schlechte Nachrichten.“

Colak runzelte die Stirn. Um das Material dieser Journalistin konnte es sich nicht handeln. So etwas gehörte nicht zu den Dingen, in die Märten eingeweiht wurde.

„Heraus damit“, forderte er ungeduldig. „Ich bin zurzeit darauf eingestellt, dicke Brocken zu verdauen.“

Märten zog kaum merklich die rechte Augenbraue hoch.

„Es handelt sich um den Gebäudekomplex draußen an der Ahltener Straße. Es gibt Schwierigkeiten mit dem Baudezernat. Dort stellt man sich quer und will keine Genehmigung für das Vorhaben erteilen.“

Colak erbleichte. Unwillkürlich ballte er die Fäuste auf der Schreibtischplatte, sodass die Knöchel weiß hervortraten.

„Okay“, sagte er tonlos. „Reden Sie weiter. Lassen Sie sich nicht jede Einzelheit aus der Nase ziehen.“

„Wie Sie wünschen“, antwortete Märten steif. „Das Gelände ist offenbar der Lebensraum einer bedrohten Vogelart.“

Colak öffnete den Mund, starrte sein Gegenüber aus geweiteten Augen an.

„Umweltaktivisten haben deshalb einen sofortigen Baustopp erwirkt“, fuhr der Anwalt fort.

„Ja und?“

„Äh ... nun ja, das Gelände wird wohl unter Naturschutz gestellt.“

„Wegen irgendwelcher Vögel?“ fragte Colak ungläubig.

Märten nickte.

„So eine Scheiße. Kann man die verdammten Viecher nicht umsiedeln?“

„Nein, das wird sich kaum machen lassen.“

„Und nun?“

„Tja, das Projekt muss wohl aufgegeben werden. Zumindest an der Stelle.“

„Soll das ein Witz sein? Allein die Planung hat fast eine Million Euro verschlungen. Und jetzt soll ich das Geld in den Wind schießen?“

Colaks Gesichtshaut war aschfahl geworden. Urplötzlich ließ er beide Fäuste auf die Schreibtischplatte krachen. Märten zuckte zusammen. Die Adern an Colaks Schläfen schwollen an. Er wollte seine Wut hinausbrüllen. Das Geräusch des Mobiltelefons hinderte ihn daran. Irritiert schüttelte er den Kopf, nahm das Gerät, das neben ihm auf dem Tisch lag, und betätigte die Anruftaste. Es war die Stimme von Javenko, die sich am anderen Ende meldete.

„Was zum Teufel ...“, schrie Colak und brach ab. Im Grunde genommen passte ihm der Anruf im Augenblick sogar sehr gut.

„Ich hoffe, ich störe nicht“, sagte Javenko. „Aber es ist etwas geschehen, dass Sie wissen müssen.“

„Spuck es schon aus.“ Colaks Stimme klang fast ein wenig ungeduldig. „Was ist passiert?“

„Kressing wurde überfallen. Man hat ihm die Kehle durchgeschnitten. Und das gesamte Geld ist verschwunden.“

Colak schnappte nach Luft.

„Was? Das darf doch wohl nicht wahr sein“, schrie er. „Moment ...“ Er legte die Hand auf das Mikrofon und blickte den Anwalt an. „Sie können gehen, Märten. Danke für die Nachricht. Ich melde mich, wenn ich Sie brauche.“

Er wartete, bis sich der Anwalt zurückgezogen hatte. Erst dann sprach er weiter.

„Wie zum Teufel konnte das geschehen?“

„Keine Ahnung.“

„Dann findet es gefälligst heraus. Und die Leute, die diesen Fehler verschuldet haben, um die kümmerst du dich auch. Für Versager ist kein Platz in meiner Organisation. Nicht mal ganz unten. Verstehst du?“

„Ja, Chef.“

Colak beendete das Gespräch und legte das Mobiltelefon wieder auf den Tisch. Mit besorgter Miene lehnte er sich zurück.

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LUKAS WEINERT GEHÖRTE erst seit einem halben Jahr zu Colaks Organisation. Deshalb hatte man ihn bisher auch nur niedere Arbeiten erledigen lassen. Doch nun war er in der Hierarchie aufgestiegen. Er hatte Kressings Tour übernommen und sammelte die Einnahmen der Bordelle und Strip-Clubs ein. Weinert wusste, dass dieser Job ein Vertrauensbeweis war. Deshalb tat er alles, um seinen Chef nicht zu enttäuschen.

Er behielt seine Umgebung ständig im Blick. Er registrierte jeden Schatten und jede Auffälligkeit. Doch nirgendwo konnte er etwas Verdächtiges entdecken. Das letzte Etablissement auf seiner Tour war ein Strip-Club am Ende des Rotlichtviertels. Als er den Laden verließ, sah er sich routinemäßig nach allen Seiten um, konnte jedoch nichts Verdächtiges entdecken. Nur ein Mensch war auf der Straße. Ein alter Invalide im Rollstuhl, der sich mühsam vorwärtsbewegte. Weinert stieg die Treppen hinunter und ging zu seinem Wagen, der am Bordstein parkte. Als er sich dem Rollstuhl näherte, sprach ihn der Alte an.

„Geben Sie das Geld ruhig mir“, sagte er.

In seiner rechten Hand hatte der Invalide plötzlich eine Beretta, deren Schalldämpfer im Licht der Straßenlaternen aufblitzte. Weinert erstarrte und klammerte sich an die blaue Tasche, als könne er hinter den Euro-Scheinen Schutz suchen. Er wollte sich nicht von den Einnahmen aus sieben öffentlichen Häusern trennen. Degenbach zielte und schoss dem jungen Mann durch beide Arme. Er tat es mit einer Präzision, die jeder Chirurg bewundert hätte. Weinert ließ die Tasche fallen.

„Wenn du dich rührst, verpasse ich dir die nächste Kugel in den Bauch“, versprach der alte Mann im Rollstuhl. Degenbach erhob sich und nahm die Tasche.

„Du bist so gut wie tot“, schrie Weinert und kämpfte verbissen gegen die Schmerzen an. „Das, was du hier machst, ist glatter Selbstmord.“

Degenbach verpasste ihm einen kräftigen Fußtritt ins Gesicht. Er hatte die richtige Stelle getroffen. Etwas knirschte, und es hörte sich an, als würde der junge Mann sein halbes Gebiss ausspucken, bevor er auf den harten Asphalt prallte.

Degenbach lief über die Straße und bog dann nach rechts ab. Dort hatte er seinen Wagen abgestellt. Er stieg ein, streifte Maske und Perücke ab, nahm die dunkle Brille von der Nase und startete den Motor.

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FRANK COLAK WAR AN diesem Morgen bester Laune. Er hatte eine tolle Nacht hinter sich, die ihm Clarissa auf angenehmste Weise verkürzt hatte. Danach hatte er bis zehn Uhr tief und traumlos geschlafen, anschließend ein opulentes Frühstück eingenommen und nebenbei ein paar geschäftliche Dinge erledigt. Als Nächstes war er in den großen Swimmingpool gesprungen, um sich etwas zu erfrischen.

Nun fühlte er sich wie neu geboren und stellte befriedigt fest, dass sein Leben kaum angenehmer verlaufen könne. Colak schlenderte von der Terrassentür kommend, durch die geräumige Halle, als Javenko an der Tür des Büros auftauchte.

„Ein Gespräch für Sie.“

Colak nickte. Er betrat den großen, mit verschwenderischem Luxus ausgestatteten Raum und schloss die Tür hinter sich. Selbstsicher wie immer nahm er das Mobiltelefon, das auf dem Schreibtisch lag. Dann ließ er sich in einen bequemen Sessel sinken und meldete sich. Eine aufgeregte Stimme tönte ihm entgegen. Schon die ersten Worte fegten Colaks blendende Stimmung davon. In seinen Zügen spiegelte sich zunächst maßloses Erstaunen, und dann dumpfe Wut. Was die Stimme ihm da mitteilte, traf ihn wie Keulenhiebe.

„Das ... das ist doch nicht möglich“, würgte Colak hervor. Minutenlang blieb er wie erstarrt sitzen, das Mobiltelefon noch immer so fest umklammert, dass die Knöchel weiß hervortraten. Seine Gedanken rasten. Er wusste nicht, wer derjenige war, der seine Pläne durchkreuzte, geschweige denn, wie er ihm habhaft werden sollte.

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WAS MAN AUCH IMMER für sein Geld haben wollte – im „El Dorado“ bekam man es. Das Spielcasino lag außerhalb von Hannover an der A7. Als Degenbach mit dem Wagen auf den Parkplatz fuhr, schätzte er mit geübtem Blick sämtliche Fluchtmöglichkeiten ab. Der Vergnügungssalon wurde von gepflegten Rasenflächen umgeben und erinnerte von außen eher an eine etwas zu groß geratene Kegelbahn.

Vor dem Eingang hielt ein Portier in goldverzierter Fantasieuniform Wache.

„Haben Sie Referenzen?“, erkundigte er sich.

„Empfehlungen?“ fragte Degenbach. „Muss man die bei euch haben?“

„Nicht unbedingt“, gab er zurück. „Aber wenn Sie fremd sind, müssen Sie Eintritt zahlen.“

„Ich habe nichts dagegen.“

„Bitte gehen Sie vorn rechts an den Tisch. Dort bekommen Sie eine Karte.“

Degenbach zahlte zwanzig Euro und durfte den Vergnügungssalon betreten. Mochte er von außen wie eine Kegelbahn wirken, so verwischte dieser Eindruck im Innern sehr schnell. Kristallleuchter, rote Samtvorhänge und königsblaue Spannteppiche verliehen dem Ganzen eine europäische Plüschatmosphäre, aber die Bedienungen in ihren Miniröcken erweckten den Anschein von Las Vegas. Ein großer Raum mit zwölf Rouletttischen, acht Würfeltischen und fünfzehn weiteren, an denen man Karten spielte.

Pseudoeleganz – das wäre der richtige Ausdruck für den Salon gewesen. Er wirkte überladen und protzig. Von Vornehmheit keine Spur. Trotzdem fühlten sich die Gäste irgendwie dazu verpflichtet, ihr Geld mit vollen Händen auszugeben. Das sah Degenbach sofort. Die Einsätze, die an den Roulettetischen gemacht wurden, waren kolossal. Und das meiste von dem Geld wanderte in den Besitz des Hausherren. Die Investitionen standen mit Sicherheit in keinem Verhältnis zu dem Gewinn, den dieses Casino abwarf. Glücksspiel und Sex kosteten nur ein Bruchteil von dem, was die Gäste hier springen ließen.

Die Reichen sind sehr bequem, was das Vergnügen und die Freizeitgestaltung betrifft. Sie bezahlen schon sehr viel für die seltene Gelegenheit, mal ganz unter sich zu sein und sich gehen lassen zu können, ohne von den neidischen Blicken der Unterprivilegierten verfolgt zu werden. Oft knausern sie, wenn sie bezahlen müssen. Aber hier mussten sie nicht. Sie spielten nur. Man erwartete es von ihnen, aber keiner zwang sie dazu. Es war ein psychologischer Trick. Sie taten es freiwillig. Und deswegen machte ihnen das Geldausgeben auch sicherlich Spaß.

Degenbach beobachtete die Gäste an den Tischen. Die meisten trugen Abendkleidung wie er. Aber es gab auch eine Minderheit in exotischen Burmas oder in farbenfrohen Gewändern afrikanischer Herkunft. Die Damen trugen ausnahmslos Abendkleider, die offenbar aus den teuersten Modehäusern der Welt stammten.

Degenbachs Blicke wanderten nachdenklich durch den Raum, über die Wände, die Decke und wieder zurück an die Tische. Er prägte sich jedes Detail genau ein und verglich es mit den Bauplänen, die er sich besorgt hatte. Sein Vorhaben war nicht ganz ungefährlich, trotzdem war er bereit, das Risiko einzugehen. Degenbach besorgte sich einige Chips, spielte um kleine Summen, die er verlor, und ging dann hinüber zur Cocktailbar, einem länglichen, spärlich beleuchteten Raum mit einem Dutzend Tischen und einer Theke, die mit schwarzem Kunststoff überzogen war, dass den Eindruck von Leder vermitteln sollte. Die Wand hinter der Theke bestand aus einem einzigen großen Spiegel.

Als Degenbach sich auf einem Barhocker niederließ, erblickte er in dem Spiegel zwei Paar sehr gut geformte Beine und dazu die attraktiven Figuren zweier junger Frauen, die an einem Tisch in der hinteren Ecke saßen. Wie sie lächelten und sich bewegten, stand ihnen das Wort „Prostituierte“ auf die Stirn geschrieben.

„Was darf ich Ihnen bringen?“ fragte der Barkeeper.

„Wodka on the Rocks.“

Der etwas müde dreinschauende Mann hinter der Bar nickte höflich, mixte den Drink, füllte das Glas bis zum Strich und stellte es auf einem Korktablett vor dem Gast hin.

„Die beiden heißen Jenny und Mary“, tuschelte er Degenbach zu. „Und es ist nicht gerade schwer, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Damit Sie mich nicht falsch verstehen – ich habe nichts davon“, fügte er einen Augenblick später hinzu. „Aber ich habe bemerkt, dass sie Ihnen aufgefallen sind.“

„Kleiner Schlaumeier, was?“ fragte Degenbach und trank einen Schluck. Gleichzeitig wanderte sein Blick hinüber zu einem der Roulettetische. Neben dem Croupier saß ein grauhaariger Mann. Schweißperlen standen auf seiner Stirn, die Hände zitterten. Vor ihm lagen nur noch fünf Chips zu je fünfzig Euro. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte er schon eine ziemlich hohe Summe verloren. Er bemerkte nicht, dass es ein gezinktes Spiel war. Der Croupier registrierte genau seine Gewinne und Verluste. Und nun kam das Ende.

„Faites vos jeux!“ zitierte der Croupier feierlich.

Der Mann schob seine Chips auf Rot. Auch die anderen Spieler machten ihre Einsätze. Einige setzten auf Schwarz oder Rot, andere auf Gerade oder Ungerade und manche auf Zahlen.

„Rien de va plus“, rief der Croupier.

Die Kugel rollte. Der grauhaarige Mann beugte sich weit vor, als ob er mit seinen Blicken ihren Lauf beeinflussen könnte. Immer langsamer wurden die Kreise der weißen Kugel. Dann sprang sie plötzlich in ein Kästchen.

Verloren!

Entweder hatten sämtliche Spieler eine Pechsträhne, oder das Roulette war manipuliert. Degenbach beobachtete ihn scharf, ohne dass der Croupier es bemerkte. Es gab tausend Tricks, einem Roulette seinen Willen aufzuzwingen. Man konnte den Kessel manipulieren, oder ihn langsamer drehen lassen, um die Trefferquote zu erhöhen. Degenbach fand nicht heraus, wie der Croupier es machte. Nur das er es tat, stand für ihn fest.

Der grauhaarige Mann taumelte. Auf einen Wink des Croupiers traten zwei Männer in schwarzen Smokings heran und griffen ihm unter die Arme.

„Kommen Sie, Herr Kappmeier. Heute hat es für Sie keinen Sinn mehr. Vielleicht ein anderes Mal.“

Der Spieler bäumte sich auf.

„Was wollen Sie von mir?“ keuchte er heiser. „Woher kennen Sie mich?“

„Wer kennt Sie nicht, Herr Kappmeier? Als Eigentümer eines weltweit operierenden Unternehmens haben Sie natürlich Kredit bei uns. Zwanzigtausend, dreißigtausend ... ganz wie Sie wollen. Aber ehe wir Ihnen das Geld aushändigen, möchten wir Sie um eine kleine Gefälligkeit bitten. Würden Sie uns bitte begleiten?“

Der grauhaarige Mann schien noch immer nicht begriffen zu haben, dass er in eine Falle geraten war. Er glaubte, dass man ihm die Möglichkeit bot, seine Verluste wieder aufzuholen. Vielleicht hatte er Glück. Die beiden Männer schoben ihn in ein Hinterzimmer. Degenbach konnte sich genau vorstellen, was dort geschah. Man würde diesem Herrn Kappmeier seine Schulden erlassen, aber nur unter der Bedingung, dass er Colak zu seinem Teilhaber machte. Der Trick war zwar uralt, funktionierte aber immer noch.

Degenbach wandte sich wieder ab und sah dem Barkeeper zu, wie er einige Drinks mixte.

„Viel zu tun?“ fragte er beiläufig.

„Mehr als genug. Wir sind gut besucht. Kein Wunder bei dem Wetter. Ich kann mich an keinen ähnlich beständigen Sommer erinnern.“

„Stimmt. Ist lange her.“

Degenbach trank aus, legte einen Zehn-Euro-Schein auf die Theke und verließ das „El Dorado“. Er kehrte ins Hotel zurück, wo er die Baupläne noch einmal überprüfte. Dann schaute er auf die Uhr und gähnte. In zweiundzwanzig Stunden würde er zum zweiten Mal zuschlagen. Danach gab es für Frank Colak keinen Zweifel mehr, dass sich ein ernstzunehmender Gegner auf seinem Gebiet aufhielt und er jeden Mann, der ihm zur Verfügung stand, zu seiner Abwehr mobilmachen musste. Das bedeutete offenen Krieg. Und von da ab gab es keine Gnade mehr.

––––––––


NICOLAJ JAVENKO WAR ein Meter achtzig groß und tadellos in Schale. Sein schmaler Kopf mit dem schwarzen, kurzgeschnittenen Haar war markant. Einige Leute nannten ihn geringschätzig Gigolo für Arme, aber dahinter verbarg sich nur der Neid von Menschen, die mit ihren miesen Visagen darauf angewiesen waren, für Frauen und Sex zu bezahlen. Javenko hatte es stets leicht gehabt, die besten Frauen zu erobern. Wenn er mit ihnen zufrieden war, konnte er großzügig sein. Den Preis hatte immer nur er bestimmt. Seine Bekanntschaften hatten das stets respektiert.

Javenko war unehrenhaft aus der Armee entlassen worden. Er hatte einen Vorgesetzten krankenhausreif geschlagen und dafür eine Gefängnisstrafe kassiert. Danach hatten sich die Kasernentore für ihn verschlossen, und zwar für immer. Aus seiner Zeit als Soldat hatte er immerhin zwei Dinge übrig behalten. Seine erstklassige körperliche Fitness und seinen Drei-Millimeter-Bürstenhaarschnitt.

Eine Zeitlang schlug er sich als mehr oder weniger ehrlicher Bodyguard durchs Leben, bis er schließlich bei Frank Colak anheuerte. Leibwächter war Javenko zwar immer noch, nur mit der Ehrlichkeit war es nun endgültig vorbei. Er erledigte für seinen Chef auch die schmutzigen Jobs. Doch das störte Javenko kaum. Er hatte ja auch keine moralischen Bedenken gehabt, als er seinen Vorgesetzten grundlos verprügelte.

Jeden Morgen pünktlich um neun Uhr erschien er in Colaks Büro, um Bericht zu erstatten.

„Es gibt keine einzige Spur. Die Geschichte ist mir vollkommen schleierhaft.“

Colak schüttelte den Kopf. „Mir gefällt das auch nicht“, sagte er langsam und bedächtig. „Sie wussten, wo und wie sie Kressing erwischen können. Sie haben das ganze Geld geklaut und sie arrangierten die Szene am Laternenpfahl. Was sind das bloß für Leute?“

„Ich habe nicht die leiseste Ahnung.“

„Und warum haben sie das getan?“

Javenko zuckte mit den Schultern.

„Wenn wir wüssten, wer dahintersteckt, könnten wir vermutlich auch sagen, warum sie es getan haben. Vorausgesetzt natürlich, es handelt sich um mehrere.“

„Davon gehe ich aus“, sagte Colak. „Ein einzelner wäre nicht so bescheuert und würde sich mit mir anlegen. Ich vermutete, es sind welche von der Konkurrenz.“

„Möglich“, antwortete Javenko. „Vielleicht stecken die Albaner dahinter. Oder die Bulgaren. Können natürlich auch die Russen sein. Wäre ja nicht das erste Mal. Anstatt sich mit den sicheren Einnahmen zu begnügen, versuchen sie, sich alles unter den Nagel zu reißen.“

„Daran habe ich auch schon gedacht.“

„Wird ihnen aber nicht gelingen“, brummte Javenko.

„Nein, es wird ihnen nicht gelingen“, bestätigte Colak. „Aber leider sind sie zu dämlich, um das zu begreifen. Und deshalb werden wir um eine klärende Auseinandersetzung nicht herumkommen..“

„Glauben Sie wirklich, die Russen haben Kressing umgebracht?“

„Wer sonst?“

„Aber das passt nicht zu der Sache mit dem Laternenpfahl und der Schrift auf Kressings Bauch. Das sieht nicht nach der Arbeit von gewöhnlichen Gangstern aus. Die hätten ihn einfach umgelegt und dann irgendwo auf Nimmerwiedersehen verschwinden lassen. Und vermutlich wäre ihnen das auch gelungen.“

„Das ist ein Trick“, sagte Colak ruhig. „Ein schmutziger Trick, auf den wir aber nicht reinfallen. Diese Schwanzlutscher. Für wie dämlich halten die mich?“

„Vielleicht war Hass das Motiv“, mutmaßte Javenko. „Blinder, nackter Hass über den Tod hinaus. Kressing sollte leiden, bevor er starb, und möglichst viele Leute sollten dieses Leiden erfahren und sich darüber entsetzen.“

„Und was sagen unsere Spitzel?“ fragte Colak.

„Gar nichts. Niemand weiß etwas.“

„Auch nicht, was das Wort RANOK bedeutet?“

„Nein.“

„Na gut, aber wer immer diese Typen auch sein mögen, sie müssen wahnsinnig sein, wenn sie glauben, dass sie damit durchkommen. Niemand stiehlt mir mein Geld. Niemand!“

„So wahnsinnig scheinen diese Kerle gar nicht zu sein“, erklärte Javenko. „Es war eine sorgfältig geplante Sache, die außerdem noch erstklassig ausgeführt wurde, und zwar von Leuten, die ihr Handwerk verstehen. Ich bin sicher, sie hatten einen guten Grund für ihre Aktion. Das sollten wir immer bedenken, wenn wir sie kriegen wollen.“

„Das klingt ja bald so, als ob du diese Scheißkerle auch noch bewunderst“, brummte Colak.

„Nein, aber ich bin davon überzeugt, dass sie noch mehr vorhaben.“

Nervös ging Colak im Zimmer auf und ab. Er wusste, dass Javenko recht hatte. Die Leute, die für diesen Überfall verantwortlich waren, ließen sich nicht so einfach fangen. Und ihnen ging es vorrangig auch nicht ums Geld. Sie wollten Aufmerksamkeit. Sie wollten jedem Einwohner dieser Stadt klarmachen, dass sie da waren und sich nicht vor Frank Colak fürchteten.

Aber sie wollten noch mehr.

Sie zeigten dem Feind, wie sehr sie ihn verachteten, und scheuten nicht vor dem ersten offenen Schlagabtausch zurück. Dieser Überfall war eine Kriegserklärung. Doch Frank Colak passte das gar nicht. In seinen Plänen stand nichts von einem Krieg geschrieben, aber wenn man die Ereignisse der vergangenen Nächte als eine Art Vorwarnung nehmen durfte, dann würde es ein Krieg werden, ohne Rücksicht auf Verluste.

Die unbekannten und unberechenbaren Gegner waren zu allem fähig. Und eines stand fest: Wenn sie tatsächlich auf Publicity aus waren, dann würde ihr nächstes Unternehmen noch spektakulärer verlaufen als das Erste.

„Und was soll nun passieren?“ wollte Javenko wissen.

Colak unterbrach seine Wanderung und sah ihn durchdringend an.

„Du weißt, dass ich absolut dagegen bin, unnötiges Aufsehen zu erregen. Unser Geschäft verlangt Ruhe. Jeder Zwischenfall, der die Bullen oder die Öffentlichkeit alarmiert, ist schädlich. Aber in diesem Fall kommen wir wohl nicht daran vorbei, den Kampf aufzunehmen. Es ist eine Existenzfrage.“

„Wenn wir kämpfen, dann schnell und gründlich“, sagte Javenko.

„Aber nicht unüberlegt“, erwiderte Colak. „Wir müssen einen genauen Plan ausarbeiten. Außerdem muss es unauffällig über die Bühne gehen ... und schnell. Je mehr Zeit wir mit diesem Problem verlieren, desto mehr leidet das Geschäft. Und dann wimmelt es hier von Schmeißfliegen, die sich einbilden, sie könnten Nutzen aus der Sache ziehen.“

„Okay, ich kümmere mich darum“, versicherte Javenko.

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UM 21.30 UHR FUHR DEGENBACH auf den Parkplatz des Spielcasinos „El Dorado“, stieg aus und schlich unbemerkt durch die Büsche zur Südostecke des Gebäudes. Dort befanden sich die Lüftungsschächte der Klimaanlage. Er zog Schraubenzieher und Zange aus der Segeltuchtasche und begann, das Blech zu lösen. Gleichzeitig überzeugte er sich davon, dass ihn niemand überraschte. Er legte das Blech beiseite und löste die dahinter befindlichen Filter. Der quadratische Schacht verlief unter den Fußböden, teilweise durch Keller, und hatte Abzweigungen mit Ansaugöffnungen direkt im Casino und in verschiedenen angrenzenden Räumen.

Direkt im Schacht brachte er den kleinen funkgesteuerten Zylinder an und schraubte das Abdeckblech wieder fest. Dann ging er zum Hintereingang, den er mit einem Spezialschlüssel öffnete. Drinnen saß ein Wachmann in einem Drehstuhl, knabberte Salzstangen und beobachtete auf den Monitoren das Geschehen im Casino, wo ein paar Dutzend Männer und Frauen ihr Glück auf die Probe stellten.

Plötzlich ging die Tür auf. Ruckartig wandte sich der Wächter um. Vor ihm stand ein Mann in einem schwarzen Anzug und mit einer Totenkopfmaske vor dem Gesicht. Er hatte eine Segeltuchtasche vor dem Bauch und die Ultimax 100 Mark 3 in der Hand, deren Mündung genau auf den Wachmann zielte.

„Keine Bewegung, sonst bist du tot“, flüsterte der Eindringling. „Und ich garantiere dir, dass du keine schöne Leiche abgeben wirst.“

Der Wachmann hatte offenbar Erfahrung mit Schusswaffen. Seinem Gesichtsausdruck war anzusehen, dass er wusste, was eine Maschinenpistole Kaliber 5.56 auf so geringe Entfernung bewirken konnte.

„Was wollen Sie?“ fragte er.

Degenbach machte einen Schritt auf den Mann zu, ließ den Schaft seiner MPi durch die Luft sausen und der Wächter sackte zusammen. Dann nahm er Kabelbinder aus seiner Segeltuchtasche und fesselte den am Boden liegenden Mann. Bevor er ging, überzeugte er sich durch Anheben eines Augenlids davon, dass er das Bewusstsein nicht zur unrechten Zeit wiedererlangen würde.

Degenbach verließ den Raum, bewegte sich vorsichtig über den Korridor und erreichte den von Vorhängen verhüllten Durchlass. Zwei Wachleute gab es im Casino. Einer stand neben dem Schalter des Kassierers, der andere vor einer Tür, die im Fall eines Feuers als Fluchtweg diente. Degenbach atmete einmal tief ein und betrat mit der erhobenen Schnellfeuerwaffe den Spielsalon.

Es dauerte einige Sekunden, bis die Anwesen auf den Mann mit der Totenkopfmaske aufmerksam wurden. Einer der Pokerspieler schaute von seinem Blatt auf und öffnete erstaunt den Mund. Eine dicke Frau in einem sehr teuren seidenen Kleid begann, zu schreien. Es war ein leiser, damenhafter Schrei, aber er reichte.

Stille.

„Keiner bewegt sich“, rief Degenbach laut und deutlich. Er zeigte auf die beiden Wachleute. „Ihr beiden Dreckskerle – du dort beim Kassierer und du an der Tür – verschränkt die Hände im Nacken. Na los, Beeilung!“

Einer der beiden Wachleute zögerte eine Sekunde. Degenbach feuerte viermal zehn Zentimeter neben ihm in die Wand.

„Das nächste Mal lege ich dich um“, versprach er.

Die beiden Wachleute gehorchten.

„Jetzt legt euch flach auf den Boden – Gesicht nach unten, wenn ich bitten darf.“

Sie gehorchten.

„Was zum Teufel soll das?“ fragte einer der Pokerspieler.

„Das siehst du doch. Ich sprenge die Bank.“

Die Anwesenden schauten ihn erstaunt an.

„Nein, nein, bleiben Sie ruhig, meine Damen und Herren – es geht nicht um Ihre Brieftaschen und Juwelen. Ich hole mir nur das Geld aus der Bank.“

Degenbach bewegte sich langsam rückwärts zur Kasse. Er hielt dem zitternden Mann die MPi unter die Nase und gab ihm die Tasche.

„Los, pack das Geld ein.“

Der Kassierer gehorchte. Innerhalb von dreißig Sekunden war die Tasche zum Platzen voll mit Zwanzig-, Fünfzig- und Hundert-Euro-Scheinen. Degenbach wandte sich an die Leute im Saal.

„So, nun muss ich mich leider verabschieden. Wenn mir fünf Minuten lang keiner folgt, dürfte die Sache für Sie glimpflich abgelaufen sein.“

Langsam zog er sich in Richtung Vorhang zurück. Dabei ließ er seine Blicke und die Mündung seiner Waffe ständig kreisen. Alles verlief genau nach Plan. Doch plötzlich griff einer der Wachleute nach seiner Waffe und zielte auf Degenbach. Der Feuerstrahl aus der MPi traf den rechten Oberarm, hinterließ drei Löcher in der schwarzen Smokingjacke und ließ den Mann zusammensacken.

„Das nächste Mal ziele ich auf deinen blöden Schädel!“ rief Degenbach.

Dann war er verschwunden. Er lief über den Korridor, blieb nur einen Augenblick stehen, um zwei Tränengasgranaten zu werfen, riss an der Tür die Maske ab und rannte in die Nacht hinaus zu seinem Wagen. Degenbach öffnete die Vordertür, warf die Segeltuchtasche auf den Rücksitz und holte eine kleine Fernsteuerung aus der Jackentasche. Ein kurzer Knopfdruck genügte.

Im selben Augenblick spuckte der kleine Zylinder, den er vorher neben der Frischluftzufuhr der Klimaanlage angebracht hatte, ein betäubendes Gas aus, das rasch von der Aircondition eingesogen und im Innenraum verteilt wurde. Das dürfte sowohl den Wächtern, als auch den Gästen fürs erste genügen.

Degenbach setzte sich hinter das Lenkrad. Der Motor sprang sofort an und der VW-Golf schoss auf die Fahrbahn.

Niemand hielt ihn auf.

Der Wagen raste die Straße entlang. Ein kaltes Lächeln umspielte Degenbachs Mundwinkel, als er in den Rückspiegel blickte und keinen Verfolger ausmachen konnte. Lediglich ein blauer Lieferwagen fuhr in weitem Abstand hinter ihm her, doch der Fahrer war kaum in der Lage, das Kennzeichen des VW-Golfs auszumachen. Trotzdem ging Degenbach auf Nummer sicher und fuhr durch einige Nebenstraßen. Erst als er davon überzeugt war, dass er keinen Verfolger mehr zu befürchten hatte, verlangsamte er das Tempo und fuhr zurück zum Hotel. Zwanzig Minuten waren seit dem Überfall vergangen.

„Haben Sie einen Spaziergang gemacht?“ scherzte der Mann am Empfang, als Degenbach in die Halle kam.

„Ja, ein bisschen Bewegung tat mir mal ganz gut.“

Er stieg in den Aufzug, der ihn in den dritten Stock brachte. Nachdem er sich ausgezogen und geduscht hatte, legte er sich aufs Bett und schloss zufrieden die Augen.

––––––––


AM NÄCHSTEN MORGEN erschienen die Tageszeitungen mit dicken Schlagzeilen, die in den Meldungen der Radio- und Fernsehsender aufgegriffen wurden.

„Sensationeller Überfall auf Spielclub!“ - „Supercoup!“ - „Rücksichtsloser Überfall! Wer steckt dahinter?“

Bei der Polizei war man nüchterner in der Beurteilung des Überfalls, aber dennoch beunruhigt. Man übersah nicht, dass der Raub zu einem konsequent durchgeführten Plan gehörte. Und man konnte es sich an den Fingern abzählen, worauf das Ganze hinauslief. Aber wie sollte man den Täter ermitteln? Diese Frage war nicht leicht zu beantworten, denn es gab nicht den geringsten Anhaltspunkt.

Der Überfall rief in der Bevölkerung Entsetzen hervor. Die Zeugen, soweit sie überhaupt vernehmungsfähig waren, konnten nur vage Angaben über den Täter machen. Sie hatten einen zu großen Schock erlitten, um mehr als eine allgemeine Beschreibung liefern zu können. Bei den zuständigen Ermittlungsbehörden setzte eine fieberhafte Tätigkeit ein, um dem Räuber trotz magerer Anhaltspunkte schnellsten habhaft zu werden.

Sie sicherten eine Menge Spuren, die jedoch keine praktischen Ergebnisse brachten. Es gab keinen bestimmten Punkt und keinen wirklich verdächtigen Mann. Während der nächsten Tage führten die Polizeibeamten eine ganze Reihe von Vernehmungen durch. Beinahe hätten sie auch einen Mann festgenommen, dessen Unschuld sich dann aber zweifelsfrei herausstellte.

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DEGENBACH PARKTE SEINEN Wagen hinter einigen Bäumen. Von hier aus hatte er einen guten Blick auf Colaks Anwesen, ohne selbst gesehen zu werden. Er drückte einen Knopf. Das rechte Seitenfenster öffnete sich mit leichtem Brummen. Degenbach nahm das Richtmikrofon vom Beifahrersitz und richtete es auf die Villa. Er wollte in Erfahrung bringen, wie Colak auf den Überfall reagiert.

Degenbach wartete mit der zähen Beharrlichkeit eines routinierten Jägers, der sicher war, dass seine Ausdauer Erfolg haben würde. Er setzte die Kopfhörer auf, die durch ein Kabel mit dem Richtmikrofon verbunden waren, und wartete. Vierzig Minuten verstrichen, in denen er nur das monotone Ticken einer Uhr hörte. Doch plötzlich vernahm er ein metallisches Knacken. Dann folgte ein leises Knarren. Das war die Tür.

Er lauschte mit angehaltenem Atem. Schritte ertönten. Ein harter Gegenstand wurde auf dem Tisch abgelegt. Das hochempfindliche Richtmikrofon verstärkte das Geräusch. Rührte es von einem Feuerzeug her? Nein, vermutlich von einer Waffe, entschied Degenbach. Dann wurde es ruhig. Nur regelmäßiges Atmen und das Ticken der Uhr waren zu hören. Colak schien auf jemanden zu warten. Aber wie lange?

Degenbach verfolgte den Zeiger der Armbanduhr, der mit fast unerträglicher Langsamkeit über das Ziffernblatt kroch. Die Spannung wuchs mit jeder Minute. Eine halbe Stunde verstrich. Aus den Kopfhörern drang nur das Atmen des Mannes. Und das monotone Geräusch der Uhr. Abermals wurde die Tür geöffnet, und wieder ertönten Schritte. Eine zweite Person hatte das Büro betreten. Die Stimmen waren klar verständlich. Gebannt hörte Degenbach dem Gespräch zu.

––––––––


COLAKS LAUNE WAR MISERABEL. Ohne auf das großartige Panorama hinter dem Fenster seines Büros zu achten, legte er in ziemlich harten Worten gegenüber Javenko fest, was nun zu geschehen hatte.

„Tränengas, Maschinenpistole – das fühlt sich an, wie ein Tritt in den Arsch. Aber ich werde mich davon nicht einschüchtern lassen. Diese Sachen kann sich jeder, der Geld und Beziehungen hat, besorgen“, stellte Colak klar. „Was ich von dir erwarte, sind die Scheißkerle, die diesen Überfall begangen haben.“

„Die Zeugen sagen, es sei nur einer gewesen.“

„Vielleicht. Es können aber auch mehrere sein. Ich will sie alle, verstanden!“

Javenko nickte. „Tot oder lebendig, Chef?“

„Natürlich lebendig. Wenigstens solange, bis er oder sie uns verraten, wer dahinter steckt. Und damit wir wissen, wem wir die Leichen zurückschicken dürfen. Überfällt dieser Schwanzlutscher einfach meinen Spielsalon. Ich werde ihm die Eier zerquetschen und die Augen ausstechen.“

Javenko zweifelte keine Sekunde daran, dass Colak diesen Schwur wahrmachen würde. Er war schon öfters mit Gegnern so verfahren, wenn auch nicht mehr in den letzten drei oder vier Jahren.

„Ich werde mich sofort auf die Suche nach dem Kerl machen“, versprach Javenko.

„Und hoffentlich auch finden“, ergänzte Colak. „Es dürfte doch nicht schwer sein, einen oder mehrere Fremde ausfindig zu machen, die erst in den letzten Wochen angekommen sind. Sie halten sich bestimmt in irgendeinem billigen Hotel hier in der Stadt auf. Dann kannst du sie problemlos alle zusammen in ihrem Versteck ausheben. Sicherlich hat auch ihr Wagen ein auswärtiges Nummernschild. So oder so – du musst sie fassen. Das ist jetzt deine wichtigste Aufgabe.“

„Keine Sorge. Ich erwische sie schon“, erwiderte Javenko. „Es wird nicht ganz leicht sein, denn die Beschreibung von dem Kerl, der den Spielsalon ausgeraubt hat, ist höchst ungenau - aber ich erwische sie. Oder ihn, wenn es nur einer ist.“

„Ich zahle dir ein Kopfgeld von fünfzigtausend Euro“, versprach Colak.

„Das ist ein Preis, über den sich reden lässt“, erklärte Javenko gierig.

„Na, dann weißt du ja, was du zu tun hast.“

„Ich bin davon überzeugt, dass dieser Bursche es noch einmal versuchen wird, und dann bin ich zur Stelle.“

„Und wenn er nichts tut?“ fragte Colak. „Dann verlieren wir kostbare Zeit. Nein, nein, abwarten ist nicht drin.“

„Warum sollte er nicht noch einmal versuchen, was so gut geklappt hat?“ fragte Javenko. „Ich wüsste eine ganze Liste von Möglichkeiten.“

„Ich will dir sagen, weshalb ich glaube, dass er es nicht noch einmal versucht. Dafür gibt es genau eine Million Gründe.“

„Die eine Million Euro, die er im Casino erbeutet hat? Ziemlich viel Geld, aber verschätzen Sie sich da nicht in der Mentalität dieses Kerls, wenn Sie glauben, er begnügt sich damit? Der hat den Kanal noch lange nicht voll, sag ich Ihnen. Der hat jetzt Blut geleckt.“

„Dann schaff ihn gefälligst heran. Egal wie.“

„Okay, Chef.“

„Was ist eigentlich mit dem Stoff?“ fragte Colak.

„Die Lieferung wird heute Abend in das Lagerhaus in der Pfahlstraße gebracht. Morgen bereiten wir das Zeug für den Verkauf vor und verteilen es an die Dealer.“

„Gut, aber pass auf, dass da alles glatt läuft.“

„Keine Sorge. Die Männer sind zuverlässig.“

Javenko öffnete die Tür, wandte sich jedoch noch einmal um.

„Ach so, bevor ich es vergesse, im Nebenraum warten ein paar Typen. Sie sagten, sie hätten einen Termin.“

Colak nickte. „Ach ja. Lutz Rabowski und seine Leute. Sie wollen ein kleines Geschäft einfädeln und benötigen dafür meine Unterstützung.“

Er verließ sein Büro und ging in einen der angrenzenden Räume. Er musterte die Anwesenden flüchtig. Vier Männer hatten es sich hier in den Ledersesseln bequem gemacht. Clarissa stand am Fenster und schaute hinaus in den Garten.

„Ihr wollt also einen Kredit?“ fragte Colak.

Der Mann mit dem ungepflegten Oberlippenbart nickte. Reden war nicht seine Stärke. Er ließ lieber Waffen sprechen. Doch im Augenblick hatte er nicht einmal genug Geld für eine gebrauchte P9. Aber das sollte sich nun ändern.

„Wofür, wenn ich fragen darf?“

Der Mann beugte sich vor. „Für einen Raubüberfall. Meine drei Kumpels und ich benötigen Waffen, kugelsichere Westen und noch ein paar andere Kleinigkeiten.“

„Ich verstehe“, entgegnete Colak. „Ihr bekommt euer Darlehn. Reichen 30.000 Euro aus?“

Rabowski verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen.

Clarissa setzte sich abseits in einen großen Ledersessel und blätterte gelangweilt in einer Modezeitschrift. Der Unterhaltung schenkte sie keine Beachtung. Ebenso wenig interessierte sie sich für Colaks Geschäfte oder die Leute, die ihn hin und wieder besuchten. Die Kerle, die diesmal bei ihm waren, sahen noch gefährlicher aus als diejenigen, mit denen er es sonst zu tun hatte. Im Zimmer gab es eine Sitzgruppe, bestehend aus englischen Möbeln. Dort hatte Frank Colak Platz genommen. Und auch die vier Männer flegelten sich in die mit rotem Leder bezogenen Sessel.

„Clarissa, die Herren wünschen Whisky“, rief Colak zu ihr hinüber. „Wir haben ein gutes Geschäft zu feiern.“

„Ich kann noch immer nicht glauben, dass Sie uns das Geld für die Kanonen einfach leihen wollen“, sagte einer der vier Männer. Er schien ein schlichtes Gemüt zu haben. Auf jeden Fall trat ihm sein Nebenmann warnend vor das Schienbein. Colak bemerkte den Zwist. Er machte eine beschwichtigende Handbewegung.

„Nur keine Panik. Clarissa ist verschwiegen wie ein Grab. Nicht wahr, Liebling?“

„Ja, Frank“, erwiderte die junge Frau und schlug die Augen nieder.

Nun redeten die Männer ganz offen über ihren geplanten Coup, während sich Clarissa im Barfach der großen Schrankwand zu schaffen machte.

„Sie kriegen Ihr Geld wieder, sobald wir den Alten ausgeraubt haben“, sagte der Mann mit den kalten blauen Augen.

Colak beugte sich vor.

„Hauptsache, ihr habt nicht zu knapp kalkuliert. Eine gute Waffe ist nicht gerade billig.“

„Stimmt schon. Aber mit 30.000 Euro können wir uns auch noch eine gebrauchte Fluchtkarre leisten.“

„Warum klaut ihr nicht einfach ein Fahrzeug?“

„Wir wollen das Risiko so gering wie möglich halten. Es wäre doch blöd, wenn wir wegen eines simplen Autodiebstahls Stress mit den Bullen kriegen. Das ist es nicht wert.“

Clarissa bediente die Gäste. Nachdem alle ihren Whisky hatten, setzte sie sich wieder in ihren Sessel und widmete sich dem Modemagazin.

„Wann soll es losgehen?“ fragte Colak.

„Freitag, kurz vor Geschäftsschluss.“

„Wo?“

„Der Juwelier an der Kramerstraße“.

„Okay, dann ist ja alles klar“, sagte Colak. „Trinken wir auf ein erfolgreiches Geschäft.“

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DIE STRAßE WURDE NUR von wenigen Laternen beleuchtet. Degenbach hielt sich seit Stunden hinter einer Hausecke verborgen und beobachtete die Lagerhalle auf der anderen Straßenseite. Nach Anbruch der Dunkelheit waren mehrere Fahrzeuge vorbeigerollt, aber seit einiger Zeit kam nur noch gelegentlich ein Auto vorbei.

Er wartete.

Die Zeit verging nur sehr langsam. Unablässig beobachtete er das eingezäunte Areal, in dem sich die Lagerhalle befand. Auf den ersten Blick schien es keine Alarmanlagen oder sonstige Sicherheitsvorkehrungen zu geben. Auch einen Wächter konnte er nirgendwo entdecken.

Eine weitere Stunde verging.

Plötzlich ertönte das dumpfe Brummen eines Motors. Zwei Scheinwerfer tauchten aus der Dunkelheit auf. Man konnte die Umrisse des Fahrzeugs nicht ausmachen, aber es schien ein Lastwagen zu sein. Er hielt vor dem versperrten Tor. Ein Mann stieg auf der Beifahrerseite aus. Er zog einen Schlüssel aus der Tasche und schob ihn ins Schloss. Dann drückte er die beiden Flügel zur Seite. Der Lkw fuhr auf das Gelände. Dann erstarb der Motor. Die Scheinwerfer erloschen. Gedämpfte Stimmen erklangen. Aber die Entfernung war zu groß, um etwas zu verstehen.

Schattenhaft bewegten sich zwei Gestalten durch die Dunkelheit. Einer öffnete das Tor der Lagerhalle, der andere löste die Plane des Lkws und kletterte auf die Ladefläche. Degenbach konnte beobachten, wie Kisten abgeladen und in die Lagerhalle gebracht wurden. Es waren genau acht Stück. Er öffnete seine Segeltuchtasche und zog ein mit Metallfolie umhülltes Päckchen heraus.

Es enthielt Plastiksprengstoff, ein Teufelszeug, dass zehnmal so explosiv war wie Dynamit. Degenbach griff noch einmal in die Tasche und holte eine kleine Schachtel hervor. In ihr waren die Sprengzünder enthalten, dünne Hülsen mit einem Mikrochip und einem Kondensator. Man brauchte die Kapsel nur noch in die Sprengstoffmasse hineindrücken. Durch einen ferngesteuerten Impuls gab der Mikrochip die Ladung des Kondensators an die Glühbrücke weiter, wodurch es dann zur Detonation des Zünders kam.

Während Degenbach die Männer beobachtete, knetete er die Sprengladungen zurecht und versah sie mit Initialzündern. Nach fünfzehn Minuten hatten die Männer ihre Arbeit beendet. Der Lkw fuhr vom Gelände und das Tor wurde wieder verschlossen. Nachdem der Wagen abgefahren war, wartete Degenbach noch einige Minuten, dann verließ er seine Deckung, schlich zu dem Gelände hinüber und machte sich am Zaun zu schaffen.

Mit einer Zange schnitt er eine rechteckige Öffnung in das Geflecht aus engem Maschendraht. Geschmeidig kroch er hindurch und lief zur Lagerhalle. Es war ein langgestrecktes Gebäude und stand parallel zur Umzäunung, aber gut einhundert Meter davon entfernt. An der Vorderseite verlief eine Laderampe. Die Halle war mit einem massiven Eisentor versehen. Degenbach ging zur Rückseite. Dort befanden sich zwei rechteckige Fenster. Sie waren nicht vergittert. Auch eine elektrische Sicherung fehlte.

Degenbach zog einen Glasschneider aus der Tasche und ritzte ein Quadrat in die Scheibe. Dann drückte er es nach innen. Das Glas fiel auf den Boden, doch das klirrende Geräusch war so leise, das man es draußen kaum hören konnte. Degenbach langte durch das Loch, tastete nach dem Riegel und drückte ihn zurück. Die Scharniere knirschten leise, als er den Rahmen nach innen klappte.

Degenbach zwängte seinen Körper durch die Fensteröffnung. Seine Füße fanden auf dem Bord eines an der Wand verankerten Metallregals Halt. Dann kletterte er langsam daran herunter. Gleich darauf stand er im Innern der Halle. Es roch, wie genauso wie in anderen Lagerhäusern, die über Jahrzehnte hinweg für die verschiedensten Zwecke genutzt wurden. Ein undefinierbarer Geruch, in dem nur hin und wider ein bestimmtes Odeur durchsetzte.

Degenbach zog eine Stablampe aus der Gesäßtasche. Der Lichtschein wanderte umher. Die Halle war etwa zwanzig Meter lang. Kisten, Kartons und Regale standen beinahe wahllos herum. Es fiel ihm nicht schwer, sich zu orientieren. Neben dem verschlossenen Tor entdeckte er die Kisten, die von den Männern herein gebracht worden waren. Sie standen übereinandergestapelt neben einem der Regale.

Degenbach leuchtete sie ab und betastete den Deckel der obersten Kiste. Er ließ den Strahl der Taschenlampe über die Böden des danebenstehenden Regals wandern. Dort entdeckte er mehrere Werkzeuge, unter anderem ein Brecheisen. Er nahm es und machte sich daran, die Nägel des Deckels zu lockern. Sie waren hastig und unregelmäßig in das Holz geschlagen worden, und doch saßen sie erstaunlich fest.

Schließlich rutschte der Deckel von der Kiste. Degenbach blickte hinein. Mehrere dunkle Plastikpakete lagen darin. Er riss eines auf. Der Inhalt bestand aus schwarzem Kokain. Dabei handelte es sich um eine spezielle Form, die in jüngster Zeit, zum Schmuggeln verwendet wurde. Die schwarze Farbe entstand durch die Vermischung mit Kobalt- und Eisenchlorid. In dieser Form war das Kokain zwar nicht konsumierbar, aber dafür konnte es auch nicht von den üblichen Tests erkannt werden. Erst im Zielland wurde die Droge dann reextrahiert. Der Durchschnittspreis pro Kilogramm lag zwischen 25.000 und 40.000 Euro.

Degenbach arbeitete schnell und brachte seine Sprengladungen an. Nachdem er fertig war, verließ er das Lagerhaus, kroch wieder durch das Loch im Zaun und rannte zur gegenüberliegenden Straßenseite. Mehrmals überzeugte er sich davon, dass ihn niemand beobachtet hatte.

Degenbach holte den kleinen Kasten aus seiner Jackentasche und betätigte die Taste, mit der die Sprengsätze gezündet wurden. Sofort verschwand er hinter der Hausecke. Die Lagerhalle verwandelte in ein donnerndes, berstendes Inferno. Eine gewaltige Stichflamme schoss in den nächtlichen Himmel empor. Die Druckwelle ließ sämtliche Fensterscheiben in der Umgebung zerspringen.

Danach herrschte Stille.

Degenbach schaute kurz um die Ecke, dann rannte er los. Gleich darauf hatte ihn die Nacht verschluckt.

––––––––


JAVENKO UND DREI WEITERE Männer saßen beim Kartenspiel um eine tiefhängende Lampe. Javenkos Mobiltelefon läutete. Er holte das Gerät aus der Innentasche seines Anzugs und nahm das Gespräch an.

„Hallo ...“

Aufgeregt redete eine Stimme auf ihn ein.

„Was ist passiert? Soll das ein schlechter Witz sein?“ fragte Javenko gedehnt.

Die Stimme am anderen Ende überschlug sich.

„Schon gut“, knurrte Javenko. „Mach dir nicht ins Hemd, Mann. Ich werde mit dem Chef reden.“

Er beendete das Gespräch und steckte das Mobiltelefon wieder ein.

„Was ist los?“ erkundigte sich einer der anderen Kartenspieler.

Javenko sagte es ihm. Die Männer, die um den runden Tisch saßen, starrten ihn einen Moment ungläubig an. Dann warfen sie fluchend die Karten hin. Javenko erhob sich schwerfällig, ging in einen angrenzenden Raum und klopfte dort an die Tür.

„Ja, was ist denn?“ fragte Frank Colak ärgerlich.

„Ich bin‘s, Javenko. Ich muss Sie dringend sprechen. Es ist sehr wichtig.“

„Dann komm rein.“

Der Sicherheitschef öffnete die Tür und betrat einen schwach beleuchteten Salon. Colak schwang sich von einer breiten Couch. Er griff nach seinem seidenen Hausmantel und zog ihn an. Javenko streifte die nackte Frau auf der Couch mit einem verächtlichen Blick. Die Haut ihres grazilen Körpers schimmerte gelb. Schwarzes Haar umrahmte das schmale Gesicht und fiel bis auf die spitzen straffen Brüste hinunter. Eine Asiatin. Sie musste sehr jung sein.

Javenko verabscheute alle asiatischen Prostituierten. Ob sie aus Japan stammten, aus Thailand, China oder Korea. Für ihn waren sie alle das gleiche Gesindel, ein heimtückisches Pack, dem man aus dem Weg gehen sollte. Ganz gleich, wie hübsch sie sein mochten. Javenko hasste asiatische Frauen, seit er sich bei einer von ihnen einen Tripper geholt hatte. Er konnte auch nicht verstehen, wieso sich sein Chef mit einer Prostituierten abgab, wenn er dasselbe von Clarissa haben konnte.

„Also, was gibt‘s?“ fragte Colak.

„Bevor ich Ihnen das sage, sollten Sie die kleine Nutte lieber wegschicken.“

Colaks Züge verdüsterten sich. Er mochte es nicht, wenn man ihm sagte, was er zu tun habe. Javenko gehörte zwar zu seinen engsten Vertrauten, aber auch ihm stand es nicht zu. Colak hatte es auf der Zunge, seinen Sicherheitschef in seine Schranken zu weisen, aber dann überlegte er es sich anders. Er wandte den Kopf und fuhr die Frau an: „Verschwinde!“

„Ooch, warum denn?“ maulte sie.

„Hau ab! Sonst ...“

Mit der erhobenen Hand machte Colak einen Schritt auf sie zu. Die Frau stieß einen Entsetzensschrei aus, sprang auf und raffte ihre Kleidungsstücke zusammen. Dann klappte eine Tür.

„Nun rück endlich raus mit der Sprache“, sagte Colak und wandte sich zu Javenko um.

„Mario hat eben angerufen“, erklärte er düster. „Das Lagerhaus ist in die Luft geflogen.“

Colak erstarrte. Es dauerte einige Sekunden, bis er das Ausmaß der Katastrophe begriff. Und dann brauchte er eine volle Minute, bis er ein Wort hervorbringen konnte.

„Ein Sprengstoffanschlag?“

„Ohne Zweifel. Mario hat berichtet, die Explosion hätte das Lagerhaus komplett zerstört. Die Trümmer sind einen halben Kilometer im Umkreis verstreut worden.“

„Wie viele Leute sind dabei umgekommen?“ fragte Colak und wurde bleich.

Javenko zögerte.

„Niemand“, sagte er dann. „Um diese Uhrzeit hielt sich keiner unserer Leute mehr in dem Lagerhaus auf.“

Eisiges Schweigen herrschte im Raum. Colak ließ sich in einen der schweren Sessel fallen.

„Niemand?“ fragte er ungläubig. Aber es war mehr ein Selbstgespräch, das er mit sich führte. Dann fuhr er plötzlich aus dem Sessel hoch.

„Wie denkst du über die Sache?“ fragte er und wischte sich gleichzeitig den Schweiß von der Stirn.

„Für mich steht fest, dass unser ganz spezieller Freund seine Finger im Spiel hatte“, entgegnete Javenko. „Wenn ich nur wüsste, wer dieser Scheißkerl ist, und wo er steckt. Was glauben Sie, was dieser Knall für einen Wirbel verursacht hat? Überall wimmelte es plötzlich von Polizei. Die Bullen gehen davon aus, dass es ein Terroranschlag war.“

Colak nickte, dann aber sah er seinen Sicherheitschef an.

„Ja, und weiß der Teufel, welche Verhöre und Untersuchungen die anstellen. Das können wir nicht gebrauchen. Im übrigen ...“

Er überlegte.

„Soll ich noch mal unsere Spitzel aufscheuchen, damit sie sich umhören?“ fragte Javenko.

„Nein, du tust nichts dergleichen“, fuhr ihn Colak an. „Wir verhalten uns ruhig, bis sich die Aufregung gelegt hat.“

„Halten Sie das wirklich für eine gute Idee?“ fragte Javenko.

„Ja.“

„Okay, aber sagen Sie nachher nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt. Dieser Kerl wird nicht aufhören, bis ...“

„Schluss mit dem Gefasel“, unterbrach ihn Colak. „Verschwinde! Ich muss nachdenken.“

Javenko nickte und ging hinaus.

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DAS JUWELENGESCHÄFT hatte zwar keinen so legendären Ruf wie „Tiffany‘s“, doch die Auswahl konnte sich sehen lassen. Wilhelm Schlieker betrieb es bereits in der dritten Generation. Sein Großvater hatte den Laden aufgebaut, damals noch als bescheidenes Geschäft für Eheringe und einfachen Goldschmuck.

Doch die drei Männer, die an diesem Freitagabend den Juwelenladen betraten, waren weder an Eheringen, noch an Juwelen interessiert.

„Überfall!“ brüllte einer von ihnen.

Die Männer trugen dunkle Geschäftsanzüge und schwarze Strumpfmasken. Wie auf Kommando zogen sie Pistolen aus ihren Aktentaschen. Einer von ihnen sicherte die Tür, ein zweiter stellte sich mitten in den Verkaufsraum. Und der dritte bedrohte die Angestellten.

„Hände hoch!“ sagte er scharf.

Zögernd kamen die Angestellten und Kunden dem Befehl nach. Außer den Räubern befanden sich an diesem Abend noch sechs Menschen in dem Geschäft. Drei Verkäuferinnen, zwei Kunden und eine Kundin, die aufgrund ihres billigen Kleides gar nicht in diese Umgebung passte. Sie wirkte eher wie eine Putzfrau, und nicht wie jemand aus der vornehmen Gesellschaft, der allwöchentlich kostbare Juwelen kauft.

Der Anführer der Bande marschierte auf die älteste Verkäuferin zu und hielt ihr die Mündung seiner Waffe unter die Nase.

„Den Schmuck könnt ihr behalten. Wir sind nur an Barem interessiert, verstanden? Also mach den Tresor auf, bevor ich dir den Schädel wegpuste!“

In diesem Moment bekam die Kundin in dem billigen Kleid einen hysterischen Anfall. Sie schrie und versuchte, wegzulaufen. Sofort drehte sich der Mann an der Eingangstür herum. Zwei Schüsse ertönten und trafen die Frau. Blutüberströmt brach sie zusammen. Sofort eilte die Verkäuferin zum Safe und öffnete ihn. Ihr war bewusst geworden, dass die Männer es ernst meinten. Im Grunde genommen hatte sie daran ohnehin keinen Zweifel gehabt.

Der Anführer war ihr gefolgt. Er stellte eine große blaue Sporttasche auf den Fußboden. Dort hinein musste die Verkäuferin den Inhalt des Tresors werfen. Es handelte sich hauptsächlich um größere Euro-Scheine in dicken Bündeln. Als die Tasche gefüllt war, zog der Mann den Reißverschluss zu. Es kümmerte ihn offenbar nicht, dass noch mehr Geld im Safe war. Lautlos verließen die drei Männer den Laden. Nur der Körper der toten Frau zeugte von dem Überfall, der hier soeben stattgefunden hatte.

Hastig stiegen die drei Männer in den blauen Ford ein, der vor dem Geschäft mit laufendem Motor parkte. Nachdem die Türen geschlossen waren, gab der Fahrer Gas. Er konzentrierte sich ganz auf den Verkehr. Und so entging es ihm, dass sich im gleichen Moment ein dunkler VW-Golf aus der langen Reihe geparkter Fahrzeuge löste und die Verfolgung aufnahm. Doch selbst wenn er es gemerkt hätte, wäre ihm daran nichts Ungewöhnliches aufgefallen.

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DEGENBACH WARTETE, bis der Ford mit den drei Männern anfuhr. Dann scherte er ebenfalls mit seinem Wagen aus und fädelte sich in den Verkehrsstrom ein. Die Fahrt ging durch das abendliche Lichtermeer Hannovers in Richtung Süden. Nach etwa zehn Minuten erreichte der Ford eine düstere Wohngegend mit leerstehenden, baufälligen Häusern, die von mannshohem Unkraut umwuchert wurden. Der Wagen rollte an der zerbröckelten Mauer eines verwahrlosten Parkgrundstücks aus. Die Scheinwerfer erloschen.

Degenbach stoppte noch rechtzeitig in sicherer Entfernung und schaltete ebenfalls die Lampen aus. Er spähte durch die Windschutzscheibe. Ein großes graues Gebäude ragte zwischen den Bäumen auf. Kein Lichtschein drang aus den Fenstern. Er sah, wie die vier Männer ausstiegen, an der Mauer entlanggingen und ein Gittertor aufstießen. Das Knarren der rostigen Scharniere drang gespenstisch durch die nächtliche Stille. Im nächsten Moment waren die Männer verschwunden.

Degenbach zog sich eine schwarze Maske über den Kopf, die nur die Augen freiließ. Dann stieg er eilig aus dem Wagen. Mit langen Sätzen bewegte er sich lautlos auf das Gittertor zu. Als er es erreicht hatte, hörte er, wie eine schwere Tür mit einem dumpfen Geräusch ins Schloss fiel. Er blickte zu dem großen düsteren Haus hin. Es machte den Eindruck, als sei es seit Jahren unbewohnt. Es wirkte so unheimlich wie die Kulisse eines Horrorfilms. Degenbach schlich auf die Eingangstür zu. Dort entdeckte er an der Wand ein rostiges Metallschild mit dem Hinweis, dass der Zutritt wegen Einsturzgefahr verboten sei.

Vorsichtig drückte er die massive Holztür auf. Er gelangte in ein dunkles Treppenhaus, in dem es muffig roch. Degenbach glaubte, Schritte zu hören, die sich eilig entfernten. Dann vernahm er nichts mehr. Tiefe Stille herrschte ringsum. Er entsicherte die Beretta. Das Geräusch, das dabei entstand, wirkte überraschend laut. Degenbach holte eine Stablampe hervor und ließ sie aufblitzen. Der dünne Lichtstrahl glitt über allerlei Gerümpel, auf dem eine dicke Staubschicht lag. Auch der Fußboden war mit flockigem Staub bedeckt. Es sah aus, als läge ein Hirtenteppich darauf.

Als er langsam weiterging, wurden bei jedem Schritt kleine Wolken aufgewirbelt. Er unterdrückte den jäh aufkommenden Hustenreiz. Der Lichtstrahl erfasste vier Fußspuren, die auf dem staubigen Boden zu erkennen waren. Degenbach folgte ihnen zu einer Tür im Hintergrund. Die Abdrücke stammten von sehr großen Füßen. Kein Zweifel, die vier Männer waren durch diese Tür dort verschwunden. Degenbach ging darauf zu und öffnete sie. Für einen kurzen Moment überlegte er, ob er auf die Lampe verzichten sollte. Aber dann würde er in der undurchdringlichen Dunkelheit wie blind umherstolpern. Die damit verbundenen Geräusche mussten ihn weit eher verraten als der gedämpfte feine Lichtstrahl.

Er drückte die Tür vorsichtig auf und kam in einen langgestreckten Raum. Der Lichtstrahl glitt über wurmstichige Möbel, auf denen eine dicke Staubschicht lag. Er ging etwa zwanzig Schritte in den Raum hinein. Dann blieb er stehen. War da nicht eben ein Geräusch? Er lauschte angestrengt.

Nichts.

Die Stille wirkte beklemmend. Seine Augen versuchten, die Dunkelheit zu durchdringen. Die Männer hatten nur einen geringen Vorsprung gehabt. Wo zum Teufel konnten sie stecken? Er war noch unschlüssig, wie er sich verhalten sollte, da wurde ihm die Entscheidung abgenommen. Er hörte plötzlich mehrere Stimmen. Während er sich weiter vorwärtsbewegte, stieß er mit dem Fuß gegen eine Metallstange, die auf dem Boden lag. Sofort unterbrachen die Männer ihre Unterhaltung.

„Ist da jemand?“ fragte einer von ihnen.

Degenbach war ungefähr zwanzig Meter von ihnen entfernt und konnte jedes Wort verstehen.

„Glaub‘ ich nicht“, entgegnete Rabowski. „Wer soll denn hier ...“

„Los, Hände hoch“, unterbrach ihn Degenbach.

Die vier Männer wandten sich ruckartig um. Mit großen Augen starrten sie zu dem maskierten Mann hinüber, der in der Türöffnung stand und seine Pistole auf sie richtete. Hier lief etwas schief, das spürten sie ganz deutlich.

„Eure Vorstellung ist zu Ende. Werft die Waffen weg und verschränkt die Hände hinter den Köpfen.“

Sekundenlang blickten sich die Männer verblüfft an. Dann schüttelte der Anführer den Kopf. Er brachte kein Wort heraus. Schüttelte nur immer wieder den Kopf.

„Ich darf dann bitten“, sagte Degenbach. Seine Stimme verriet Ungeduld.

„Wir denken gar nicht daran“, krächzte Rabowski tonlos.

„In diesem Fall muss ich euch an Ort und Stelle töten.“

„Was zum Teufel soll die Scheiße? Weißt du eigentlich, wer wir sind?“

„Natürlich weiß ich das. Ihr habt soeben einen Juwelierladen ausgeraubt. Mit dem Einverständnis von Frank Colak.“

„Ja und?“

„Er hat es sich anders überlegt. Er möchte die ganze Beute.“

„Das soll wohl ein Witz sein?“

Degenbach deutete auf die Waffe. „Sieht das hier aus wie ein Witz?“

„Knallt ihn ab!“ rief Rabowski, während er eine Pistole aus der Jackentasche zog. Sein Finger krümmte sich um den Abzug. Drei andere Finger ebenso. Im selben Moment begann der Teufelstanz. Die Pistolen hämmerten los. Degenbach warf sich zur Seite. Er sah das Mündungsfeuer, bevor er das heisere Bellen hörte. Mehrere Geschosse bohrten sich hinter ihm in die Wand. Er wandte sich nach links und feuerte drei Schüsse in rascher Folge ab, weil er glaubte, dort eine Bewegung gesehen zu haben. Ein lauter Schrei gellte durch den Raum. Gleich darauf war eine taumelnde Gestalt zu sehen – mit hochgerissenen Armen. Irgendwo zwischen dem Gerümpel schlug er auf den Boden.

„Verdammt“, brüllte jemand. „Er hat Ralle erwischt. „Ich muss raus. Dieser verfluchte Dreckskerl schießt uns alle über den Haufen.“

„Du bleibst gefälligst hier“, stieß Rabowski hervor. „Wir machen den Kerl fertig.“

Doch der Mann dachte gar nicht daran. In blinder Panik rannte er zu der Öffnung, die in den angrenzenden Raum führte. Degenbachs Pistole krachte. Der Räuber schlug einen Salto, landete auf dem Gesicht und blieb reglos liegen. Zwei Männer waren noch übrig. Sie gingen hinter einem umgestürzten massiven Schreibtisch in Deckung und feuerten. Degenbach konnte nicht mehr rechtzeitig ausweichen.

Eine Kugel streifte seinen linken Oberarm. Die Wunde blutete stark. Degenbach biss die Zähne zusammen. Er musste die nächsten Sekunden überstehen. Er griff in die Innentasche seiner Jacke und holte eine Handgranate aus der Tasche. Mit den Zähnen zog er den Sicherungsstift heraus, zählte und warf sie in Richtung der Männer. Dann duckte er sich flach auf den Boden. Die Explosion schien das ganze Haus zu erschüttern. Schreie ertönten. Betonbrocken wurden aus der Decke gerissen und polterten herab. Es dauerte einige Minuten, bis sich der Staub gelegt hatte.

Degenbach zog das Magazin aus der Waffe, griff in die Seitentasche seiner Jacke und ersetzte es durch ein neues. Langsam kam er aus seiner Deckung. Die Beretta hielt er schussbereit in der Hand. Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. Er blickte sich um. Der Raum glich einem Kriegsschauplatz. Die Wände waren durchlöchert, ebenso die wenigen Einrichtungsgegenstände. Und auf dem Boden lagen drei tote Körper. Der vierte Mann lebte noch. Degenbach ging auf ihn zu. Rabowski blutete heftig aus einer Wunde an der Stirn. Das Blut rann ihm in die Augen und nahm ihm die Sicht. Mühsam richtete er auf.

„Du Schwein“, keuchte er. „Du verdammter Scheißkerl. Ich mach dich fertig.“

Mit dem linken Fuß trat Degenbach zu und traf den Mann mitten ins Gesicht. Das Brechen von Knochen verursachte ein hässliches Geräusch. Der Bursche röchelte und blieb liegen. Degenbach nahm die Tasche mit dem Geld. Er musste so schnell wie möglich von hier verschwinden. Der Krach, den die Granate verursacht hatte, konnte irgendjemanden aufmerksam gemacht haben.

Er verließ das Haus und trat hinaus auf die Straße. Sie war menschenleer. Probleme bereitete ihm allerdings sein linker Oberarm. Das Blut war durch das Hemd gedrungen und tropfte auf den Boden. Der Fleck auf dem Jackenärmel breitete sich mehr und mehr aus. Zudem fühlte er sich nicht wohl. Durch den Blutverlust war er so erschöpft, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte.

Er wankte zu seinem Wagen hinüber, öffnete die linke Tür und ließ sich hineinfallen. Dann schaltete er die Innenbeleuchtung ein und untersuchte die Wunde an seinem Oberarm mit der Routine eines ausgebildeten Arztes. Die Blutung war inzwischen zum Stillstand gekommen. Natürlich musste die Wunde versorgt werden, doch das hatte Zeit, bis er in seinem Hotelzimmer war. Er schaltete die Innenbeleuchtung wieder aus, startete den Motor und fuhr davon.

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FRANK COLAK HATTE NOCH nicht geschlafen, sondern lag lesend im Bett. Deshalb brauchte er auch keine Anlaufzeit. Als das Mobiltelefon klingelte, nahm er das Gespräch sofort an. Schweigend hörte er dem Mann am anderen Ende eine Weile zu, doch dann begann er zu brüllen.

„Was? Wie zum Teufel konnte das passieren? So eine verdammte Scheiße!!“

Er beendete das Gespräch und wählte die Nummer seines Sicherheitschefs. Es dauerte einige Sekunden, bis Javenko sich meldete.

„Na, endlich“, schnauzte Colak ihn an. „Warum hat das solange gedauert?“

„Ich ...“

„Egal. Komm sofort in mein Büro. Es ist wichtig.“

Colak beendete das Gespräch. Während des Telefonats hatte er sich seinen Morgenmantel übergestreift. Immer wieder warf er einen Blick aus dem Fenster seines Schlafzimmers, von dem aus er einen Teil des hellerleuchteten Gartens sehen konnte. Clarissa kam aus dem angrenzenden Bad. Sie trug nur ein kurzes Nachthemd, das mehr zeigte, als verbarg.

„Ist was passiert, Schatz?“ fragte sie verschlafen.

„Nein, nein, es ist alles in Ordnung. Geh wieder ins Bett.“

Sie murmelte etwas Unverständliches, zog die Decke zurück und legte sich hin. Colak sah ihr kopfschüttelnd zu. Mittlerweile war er ihrer Anwesenheit überdrüssig. Zudem wusste sie zu viel über seine Geschäfte. Ganz schlecht, dachte er. Schlecht für dich, mein hübsches Kind. Ich kann es nicht leiden, wenn man sich in meine Angelegenheiten einmischt. Und er konnte es sich auch nicht leisten, so etwas zu tolerieren. Immerhin bestand die Möglichkeit, dass sie ihn eines Tages verriet, an wen auch immer. Es gab eine Menge Leute, die nur auf eine günstige Gelegenheit warteten, um ihn fertigzumachen. Und dazu war ihnen jedes Mittel recht.

Die Frauen! Sie waren hirnlos, allesamt. Colak verstand nicht, wie irgendwann jemand damit hatte beginnen können, sie für Menschen zu halten. Während er in sein Arbeitszimmer ging, grinste er über seine Vorurteile. Er übertrieb gerne – aber grundsätzlich fand er es sehr vernünftig, allen weiblichen Wesen mit großem Misstrauen zu begegnen. Auch Clarissa. Das energische Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken.

„Ja?“

Die Tür wurde geöffnet und Javenko trat ein.

„Ist was passiert, Chef?“

„Allerdings. Jemand hat Rabowski überfallen und ihm die Beute aus dem Juwelierraub abgenommen.“

„Wer?“ fragte Javenko verblüfft.

„Das weiß ich nicht. Aber ich kann mir schon denken, wer dahintersteckt.“

„Genau deswegen wollte ich Sie sprechen, Chef. Ich habe einige von meinen alten Kontakten angezapft, um herauszukriegen, was dieses Wort RANOK bedeutet.“

„Und?“ fragte Colak.

„Es ist der Spitzname eines Profikillers. Ihm werden verschiedene Attentate zugeschrieben. Vor allem in Osteuropa. Allerdings gab es bisher nie einen Beweis, das er überhaupt existiert.“

„Gibt es einen Namen?“

„Nein.“

„War er jemals in Deutschland aktiv?“

Javenko zuckte mit den Schultern.

„Keine Ahnung.“

„Und was ist mit seinem Spitznamen?“

„‘Ranok‘ ist ungarisch und bedeutet ‚Morgen‘. Den bekam er, weil die Leute, die er umlegen sollte, den nächsten Morgen nicht mehr erlebten.“

„Sehr viel ist das nicht.“

„Meine Informanten können nichts liefern. Niemand weiß, wie er aussieht oder wo er sich aufhält. Der Kerl ist ein Geist, ein Phantom ...“

„Nein, er ist ein Mensch aus Fleisch und Blut“, entgegnete Colak. „Zum Teufel mit diesem verfluchten Scheißkerl. Warum mischt der sich in meine Geschäfte ein? Will er mich damit nervös machen?“

„Gelingt ihm das etwa nicht?“ fragte Javenko besonnen. „Wir lassen uns zum Narren halten. Wir werden ständig nervöser, und irgendwann wird einer von den Männern durchdrehen.“

„Rede doch keinen Scheiß“, sagte Colak barsch.

Javenko ließ sich jedoch nicht beeindrucken.

„Fassen wir doch mal zusammen“, sagte er sachlich. „Für mich stellte sich die Situation so dar: Dieser Kerl will Sie fertigmachen. Er ist verdammt gut, plant seine Aktionen sorgfältig und mit äußerster Präzision. Er überlässt nichts dem Zufall.“

„Das brauchst du mir nicht vorzubeten“, sagte Colak. „Das weiß ich auch. Was mich beunruhigt, ist die Frage, wer ihn angeheuert hat.“

Javenko lächelte geringschätzig. „Die Liste dürfte ziemlich lang sein.“

„Ja, vermutlich.“

„Unsere Situation ist doch gar nicht schlecht. Wir müssen nur Ruhe bewahren und dürfen uns durch den Kerl nicht verwirren lassen.“

„Ach, und das ist alles?“ fragte Colak höhnisch.

„Ja, das ist alles. Denken Sie doch nach, Chef, was glauben Sie, wie lange er diese Nummer durchziehen kann? Irgendwann wird er einen Fehler machen. Und dann haben wir ihn.“

„Glaubst du wirklich, es ist so einfach?“

Javenko schwieg. Er presste die Lippen zusammen und überlegte einige Sekunden.

„Wir sollten versuchen, uns mit ihm in Verbindung zu setzen.“

„Und dann?“

„Wir könnten ihm Geld anbieten.“

„Geld?“

„Ja, vielleicht geben wir ihm die doppelte Summe von dem, was er für seinen jetzigen Auftrag bekommt.“

„Bildest du dir wirklich ein, der lässt sich so einfach kaufen?“

„Wir könnten es zumindest versuchen.“

„Nein“, sagte Colak mit scharfer Stimme. „Ich werde nicht vor diesem Hurensohn kapitulieren. Er hat sich in meine Geschäfte eingemischt. Dafür wird er bezahlen. Es wird mir eine Freude sein, ihn persönlich zur Hölle zu schicken!“

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DEGENBACH SAß IN SEINEM Hotelzimmer und bereitete sich auf den finalen Schlag vor, indem er seine Pistolen reinigte. Während er seinen Gedanken über Frank Colak nachhing, nahm er das Magazin aus der Waffe, die er in der Hand hielt. Er vergewisserte sich, dass keine Patrone im Lauf steckte. Dann zog er den Schlitten zurück und stellte ihn mit dem Sicherungshebel fest. Er drehte den Lauf bis zum Anschlag und nahm ihn ab, samt dem Schlitten. Er zerlegte die Waffe in ihre Einzelteile.

Dann starrte er die Führungsstange mit der Schließfeder an, als könne sie ihm Antworten auf seine Fragen geben. Er runzelte die Stirn, begann, die Einzelteile der Pistole zu reinigen, ölte, was zu ölen war, und setzte die Waffe schließlich wieder zusammen.

Dann breitete er den Plan von Colaks Villa auf dem Tisch aus und vertiefte sich darin. Zum wievielten Mal? Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass er den Plan bis ins letzte Detail auswendig kennen musste, um jedes vermeidbare Risiko auszuschalten. Es war nicht schwer gewesen, an diesen Plan heranzukommen. Über das Baudezernat hatte er den Namen des Architekten in Erfahrung gebracht. Er war bei dem Mann eingebrochen und hatte den Plan fotografiert.

Aber Degenbach wusste auch, dass dieser Plan nur eine grobe Übersicht bot. Colak hatte mit Sicherheit Vorkehrungen getroffen, um ein unbemerktes Eindringen zu verhindern.

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DAS GRAU DES HIMMELS wurde dunkler. Die Wolkendecke riss nicht auf und gestattete der Sonne kaum, sie mit ihren Strahlen zu durchdringen. Es würde eine mondlose, stockfinstere Nacht werden. Das Zwielicht der Abenddämmerung senkte sich über das Land.

Frank Colak hatte seine Unterführer zu einer wichtigen Besprechung zusammengerufen. Auch Nicolai Javenko nahm daran teil.

„Ihr wisst, weshalb ich euch hierher bestellt habe. Es geht um diesen Dreckskerl, der uns seit einiger Zeit Ärger macht. Trotz intensiver Suche haben wir ihn immer noch nicht aufgespürt. Aber wir werden ihn finden und erledigen. Bis dahin verlange ich höchste Aufmerksamkeit. Die Wachen müssen verdoppelt werden, sodass niemand ungesehen hier hereinkommt.“

„Glauben Sie wirklich, dass er das vorhat?“ fragte einer der Männer.

„Ich bin sogar davon überzeugt.“

„Ist das nicht ein bisschen viel Aufwand?“ wollte ein anderer wissen. „Immerhin handelt es sich nur um einen Mann.“

Colak bekam eine dunkelrote Gesichtsfarbe. Seine Augen funkelten.

„Ja, aber dieser Mann ist kein Amateur. Das hat er in den letzten Tagen oft genug unter Beweis gestellt. Er weiß verdammt gut über unsere Geschäfte Bescheid. Er kennt die Strukturen. Er plant seine Aktionen sehr genau und absolut präzise. Und er überlässt nichts dem Zufall.“

„Aber trotzdem ist es nur ein Mann“, meldete sich einer der Umstehenden in öligem Ton zu Wort. „Wir werden eine Möglichkeit finden, um ...“

„Nein!“, fauchte Colak ihn wutentbrannt an. „Dafür ist keine Zeit. Ich will, dass man die Wachen verdoppelt. Dieses Gebäude soll für ihn zu einer uneinnehmbaren Festung werden. Und ich zahle demjenigen fünfzigtausend Euro, der ihn umlegt.“

Die Männer sahen sich an. Alle dachten das Gleiche. Colaks wütendes und herrisches Gehabe waren ein zu durchsichtiges Manöver. Bisher hatte er die Geschäfte unter Kontrolle gehabt und jeden ausgeschaltet, der sich ihm in den Weg stellte. Doch nun war ein neuer Gegner aufgetaucht. Er spielte nach seinen eigenen Regeln, hart und rücksichtslos. Er ließ sich weder erpressen, noch kaufen. Colaks Imperium begann, auseinanderzubrechen. Er war erledigt. Doch er wollte es nicht wahrhaben.

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DAS GELÄNDE WURDE VON einem drei Meter hohen Metallzaun eingefasst, der mit einer Alarmanlage versehen war. Degenbach näherte sich dem Anwesen. Seinen Wagen hatte er etwa zweihundert Meter entfernt unter einem Baum geparkt. Vorsichtig schlich er auf den Zaun zu und kletterte daran empor. Mit sicherem Blick machte er den dünnen Draht der Alarmanlage aus, der an der Oberkante entlanglief.

Es gelang ihm hinüberzuklettern, ohne den Draht zu berühren. Dann ließ er sich auf der anderen Seite hinunter. Die geriffelten Gummisohlen seiner Schuhe ermöglichten ihm, sich völlig geräuschlos vorwärtszubewegen. Dabei achtete er sorgsam darauf, nicht in den Bereich der Überwachungskameras zu kommen, die überall auf dem Grundstück in den Bäumen verteilt waren. Hinter einem Baum stoppte er. Zehn Schritte von ihm entfernt sah er die Umrisse eines kräftigen Mannes, der hin und her marschierte. Er schien zu frieren und ging deshalb schneller, als es notwendig gewesen wäre. Degenbach hörte ihn etwas murmeln. Es klang wie ein Fluch.

Der Mann blieb stehen und wandte sich um. Degenbach verbarg sich hinter dem Baumstamm. Hatte man ihn entdeckt? Dann blieb ihm nur eine Möglichkeit: Er musste wieder über den Zaun klettern und möglichst viel Platz zwischen sich und die Villa bringen.

Bange Sekunden vergingen. Dann tauchten zwei weitere Männer auf.

„Ach, ihr seid das“, sagte der Wächter. „Hier wird man allmählich nervös und fängt an, Gespenster zu sehen. Ich hätte beinahe abgedrückt.“

„Bist du bescheuert?“ fragte jemand.

„Kein Grund zur Aufregung“, sagte eine andere, ruhige Stimme. „Wir haben noch mal alles durchgesprochen und sind zu der Überzeugung gekommen, dass die Gefahr gar nicht so groß ist.“

Wenn du dich da mal nicht täuscht, dachte Degenbach.

„Du und die anderen – ihr müsst nur aufpassen.“

„Wie wär‘s denn mit ‘ner Ablösung?“

„In einer Stunde“, sagte die ruhige Stimme. „Ist doch abgemacht. Ich will hoffen, dass ihr wirklich alle die Augen offenhaltet, Tommy. Der Chef zählt auf euch. Ist zwar unwahrscheinlich, dass es jemand wagt, hier einzudringen, aber wir wollen alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.“

Der Wächter brummte unwillig.

„Was meinst du?“ fragte der andere scharf.

„Möchte wissen, wie hier jemand reinkommen soll? Ist doch alles abgesichert.“

Sein Gegenüber räusperte sich. Bevor er jedoch etwas sagen konnte, mischte sich der Mann mit der ruhigen, besonnenen Stimme ein.

„Geht auch in erster Linie darum, dass ihr sofort Meldung macht, falls sich etwas Ungewöhnliches ereignet. Ich glaube ja auch nicht, dass hier plötzlich jemand auftaucht. Aber der Chef will es so. Und sein Wille ist Gesetz.“

„Schon gut“, sagte der dritte Mann übellaunig. „Wir werden auf alles achten.“

Degenbach hatte jedes Wort verstanden. Vorsichtig schaute er hinter dem Baumstamm hervor, als sich die Schritte entfernten. Der Wächter ging mit den beiden anderen Männern. Er begleitete sie, bis sie in der Dunkelheit verschwanden. Dann kam er zurück. Er ging jetzt langsamer, blieb mehrmals stehen und kramte in seinen Taschen.

Verschwinde, dachte Degenbach. Geh noch ein Stück weiter, bevor du dir die Zigarette anzündest!

Tatsächlich ging der Wächter weiter. Er hatte seine MPi unter den Arm geklemmt und brummte unwillig, weil er vergeblich nach Streichhölzern suchte. Degenbach kam hinter dem Baum hervor, zog das lange, schmale Messer mit der rasiermesserscharfen Klinge aus der Scheide, die am Bein befestigt war und schlich auf den Mann zu. Der Wächter hatte seine Streichhölzer gefunden und riss eins ab. Degenbach war genau hinter ihm.

„Tommy“, sagte er leise und drehte sich um.

Degenbach rammte ihm die Klinge in den Hals. Eine Blutfontäne spritzte aus der Wunde. Er riss den Mund auf, aber sein Schrei wurde erstickt. Degenbach spürte, dass alle Kraft aus dem Körper wich, und bremste dessen Fall. Behutsam ließ er den Mann zu Boden gleiten. Er sah sich um. Wo waren die beiden anderen Wächter? Sehen konnte er sie nicht. Er sicherte sich nach allen Seiten, bevor er seinen Weg fortsetzte.

„Ist doch klar“, hörte Degenbach jemanden sagen, dessen Tonlage ihm bekannt vorkam. Es war der Mann mit der ruhigen, besonnenen Stimme.

„So klar ist das nicht“, sagte ein zweiter Mann.

„Hast wohl die Hosen voll?“ fragte der andere spöttisch.

„Ich würde mich besser fühlen, wenn es endlich hell wäre.“

„Sonst hast du keine Sorgen, was?“

Degenbach hatte nicht mit solchen Verzögerungen gerechnet, wie sie sich ergaben. Es war unmöglich, den Weg fortzusetzen, solange er den Standort des zweiten Mannes nicht einwandfrei ausgemacht hatte, um sicher zu sein, dass er beide rechtzeitig erwischen würde. Wenn die beiden Männer zurückkamen oder auch nur einer von ihnen, oder wenn ein anderer Wächter beschloss, ein Wort mit seinem Kollegen zu reden ...

Degenbach schlich zu dem Toten zurück und schleifte ihn zwischen die Büsche.

„Weißt du, wie lange diese verstärkten Nachtwachen noch andauern sollen?“ fragte einer der Männer eben.

Sein Gesprächspartner antwortete nicht, sondern gab nur ein uninteressiertes Brummen von sich.

„He, ich habe dich was gefragt.“

„Woher soll ich das wissen?“

„Ich glaube, ich habe eben ein Geräusch gehört.“

Degenbach verharrte mitten in der Bewegung.

„Du hörst dich furzen“, sagte der andere grob. „Das ist es, was du hörst.“

Degenbach hatte sehr konzentriert gelauscht, um zu bestimmen, woher die zweite Stimme kam. Wenn er sich nicht ganz und gar irrte, war ihr Besitzer irgendwo links von ihm. Noch einmal sah er sich um. Mit drei Schritten war er hinter dem Wächter. Das Messer drang von hinten durch die Rippen und traf exakt ins Herz. Ein Gurgeln war alles, was der Mann von sich gab.

„Was sagst du?“ fragte der andere.

Degenbach zog das Messer aus dem Körper des Toten und ließ ihn vorsichtig zu Boden gleiten. Dann wandte er sich dem nächsten Posten zu. Er kehrte Degenbach den Rücken zu. Doch nur für kurze Zeit. Dann drehte er sich um und hielt ein Nachtglas vor seine Augen. Er suchte das Grundstück ab, sah jedoch nichts, das ihm verdächtig vorkam.

Degenbach wartete, während er den bulligen Mann nicht aus den Augen ließ. Er setzte gerade das Nachtglas ab und ließ es an einem Lederriemen vor seiner Brust baumeln. Der Mann hieß Joachim, doch alle nannten ihn nur Jo-Jo. Auf ihn hielt Colak besonders große Stücke, weil er jeden Befehl ausführte, ohne darüber nachzudenken. Und das hatte er in der Vergangenheit schon oft genug bewiesen. Es gab einfach nichts, was Jo-Jo für Colak nicht getan hätte. Er wollte sich bei seinem Chef unentbehrlich machen, um so einer möglichen Entlassung zu entgehen. Jo-Jo war frei und ungebunden.

Er konnte Colak überallhin folgen. Nirgendwo hatte er Wurzeln, die so fest verankert waren, dass er nicht mehr wegkam. Er fühlte sich überall wohl. Zuhause war er dort, wo er am besten verdiente. Und er war zuversichtlich, dass das auch noch lange so bleiben würde. Den Killer, vor dem Colak solche Angst hatte, sah er nicht als ernsthafte Bedrohung an. Okay, er hatte einige Leute ausgeschaltet, aber das war nur Glück, nichts weiter.

Ihn würde man nicht so leicht umlegen können. Dazu war er viel zu gut ausgerüstet. Jo-Jo trug ein Jagdmesser im Gürtel, einen Revolver im Schulterhalfter und eine Pistole im Hosenbund. Sollte ihm irgendetwas Verdächtiges auffallen, konnte er sich ganz leicht verteidigen. Jo-Jo zündete sich eine Zigarette an. Das Feuerzeug steckte er wieder in die Jackentasche.

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DEGENBACH BLIEB HINTER dem Baumstamm verborgen. Der Mann dort drüben war immer noch ahnungslos. Er rauchte mit tiefen Zügen. Degenbach beobachtete ihn sehr genau. Er studierte jede seiner Bewegungen, machte sich mit ihm so gut wie möglich vertraut. Als Jo-Jo mit der Zigarette fertig war, warf er sie zu Boden und trat mit dem Fuß drauf. Während er das Nachtglas wieder an die Augen setzte, verließ Degenbach seine Deckung und näherte sich dem Mann von hinten. Sein plötzliches Auftauchen würde den Posten, auf den er es abgesehen hatte, verwirren, davon war er überzeugt.

Joe wurde auf einmal von einer gewissen Unruhe erfasst, ohne den genauen Grund dafür zu kennen. Langsam drehte er sich um. Sein Blick wanderte suchend über das Grundstück. Er konnte sich des Endrucks nicht erwehren, dass hier irgendetwas faul war, und er fragte sich, ob er die anderen Posten darauf aufmerksam machen sollte. Funkelte dort nicht ein Augenpaar in der Dunkelheit? Er fühlte sich angestarrt und belauert.

Degenbach überlegte, wie er den Mann möglichst geräuschlos ausschalten konnte. Seine Finger tasteten den Erdboden ab. Er fand einige kleine Steine, hob sie auf und warf sie in die entgegengesetzte Richtung. Der Trick schien zu funktionieren. Der Posten zuckte zusammen, riss den Revolver aus dem Schulterhalfter und drehte sich so, dass er Degenbach den Rücken zukehrte. Der Killer holte ein Messer aus der Scheide und rannte los.

Nach wenigen Schritten erreichte er den Mann. Er presste ihm die linke Hand auf den Mund, damit er nicht schreien konnte. Gleichzeitig schnitt er ihm mit dem Messer die Kehle durch. Er tat das so gründlich, dass der Kopf nur noch von der Wirbelsäule gehalten wurde. Degenbach wischte das Messer an der Kleidung des Mannes ab und steckte es weg. Wie wachsam die anderen Posten waren, stellte sich einen Augenblick später heraus. Degenbach wollte den Toten zu Boden gleiten lassen, da fragte jemand hinter ihm: „Ist Jo-Jo schlecht geworden?“

„Ja“, antwortete der Killer heiser. „Das lange herumstehen hat ihn wohl geschafft. Fass mit an!“

Der Mann griff nach den Beinen des vermeintlich Ohnmächtigen. Als er sie hochhob, sah er die durchschnittene Kehle und das Blut. Sofort ließ er die Beine wieder los.

„Der ist doch ...“

Weiter kam er nicht, denn Degenbach warf sich auf ihn. Er wusste, wie man einen Mann mit einem Schlag töten konnte. Sein Gegner brach lautlos zusammen. Degenbach versteckte die beiden Posten zwischen den Büschen. Gerade als er fertig war, tauchte aus der Dunkelheit ein weiterer Wächter auf. Er schien besonders misstrauisch zu sein. Seine Pistole befand sich im Anschlag. Er war bereit, auf einen Gegner sofort das Feuer zu eröffnen.

Degenbach presste sich an einen Baumstamm und wartete. Der Mann schlich an ihm vorbei. Gleich musste er die Toten sehen, und dann würde er Alarm schlagen, wenn Degenbach ihn nicht daran hinderte. Der Posten machte den nächsten Schritt, dann ging ein Ruck durch seinen Körper. Es war soweit. Er hatte die Leichen entdeckt. Nun musste Degenbach sehr schnell sein. Er zog sein Messer, sprang hinter den Mann und hielt ihm mit der linken Hand den Mund zu, während er mit der Rechten zustach. Degenbach versteckte die drei Toten sorgsam. Dann schlich er auf die Villa zu.

An der rechten Seite tauchten zwei Gestalten auf. Degenbach ging sofort hinter einem Busch in Deckung. Die beiden Männer wurden wahrscheinlich für ihre Langsamkeit bezahlt, denn Langsamkeit war in ihrem Fall gleichbedeutend mit Gründlichkeit. Nichts durfte ihren misstrauischen Blicken entgehen. Sie trugen schwarze Anzüge und quer vor der Brust umgehängte Maschinenpistolen. Der eine war ein großer dunkelhaariger, der andere, ein kahlköpfiger, trug außerdem noch ein Fernglas.

Degenbach wartete, nachdem die beiden Wachposten an seinem Versteck vorbeigegangen und um die nächste Ecke verschwunden waren. Sie unternahmen einen andauernden Rundgang um das Gebäude. Degenbach wartete. Es dauerte eine Viertelstunde, bis die beiden Männer wieder auftauchten. Sie überprüften jeden einzelnen Fensterladen im Erdgeschoss. Abermals wartete er, bis sie an seinem Versteck vorbeigegangen waren. Sie hatten sich so an ihr Schlendern gewöhnt, dass die Mauerecke schon zwei Schritte hinter ihnen war, als sie ihn bemerkten.

Degenbach erreichte den Kahlköpfigen im Sprung und brachte ihn mit einem Faustschlag gegen den Hals zu Fall. Ihm blieb die Luft weg. Sofort sprang Degenbach hoch. Aus der Drehbewegung heraus rammte er dem Dunkelhaarigen das Messer in die Brust. Er hatte den Mund schon aufgerissen, um loszubrüllen, doch er kriegte nicht einmal mehr den Ansatz einer Silbe heraus. Dann wandte sich Degenbach wieder dem Kahlköpfigen zu und schnitt ihm mit einer schnellen Bewegung die Kehle durch. Sofort zerrte er die beiden Leichen hinter einen Busch. Degenbach nahm ihnen die MPis ab und schlich weiter zur Villa.

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„WAS? ES KANN DOCH wohl nicht so schwer sein, einen einzelnen Mann ausfindig zu machen! Irgendwo muss er sich doch verkrochen haben. Verdammte Scheiße!“

Wütend beendete Colak das Gespräch und warf das Mobiltelefon auf den Schreibtisch. Die drei Männer spielten Karten. Sie saßen an einem großen Tisch und tranken Cola. Sie begingen nicht den Fehler, sich umzudrehen. In seiner Wut konnte Colak unberechenbar sein. Die Demütigungen durch den Fremden, der ihn ausgeraubt und in der ganzen Stadt lächerlich gemacht hatte, waren für ihn noch lange nicht erledigt.

Er ging zur Bar, schenkte sich einen Whisky ein und trank das Glas in einem Zug leer. Die Flüssigkeit brannte wohltuend in seiner Kehle. Er kramte in den Regalfächern hinter der Theke und fand einen Stapel teurer Havanna-Zigarren, die in Glasröhrchen verpackt waren. Genuss! Genau darum ging es. Dann würde er auch ruhiger werden. Und weshalb regte er sich eigentlich so auf?

Seine Leute durchsuchten die ganze Stadt. Irgendwann würden sie diesen Kerl finden. Wenn nicht heute, dann vielleicht morgen, oder übermorgen. Er konnte sich nicht ewig verstecken. Colak grinste und ließ die Zigarre aus dem Röhrchen rutschen. Am Tisch klatschten sie mit den Karten und tranken die billige Cola. Er war ein paar Klassen besser. Mindestens. Während er die Zigarre anzündete, dachte er an die Tabakpflanzungen auf Kuba, wo sie die edelsten Blätter für Leute wie ihn aussuchten. Für Männer, die es verstanden, zu genießen.

Die Tür zum Wohnzimmer wurde aufgerissen. Der Mann, der hereinstürmte, trug einen schwarzen Anzug und eine dazu passende Krawatte. Er schloss die Tür so rasch, dass man glauben konnte, der Teufel persönlich säße ihm im Nacken. Colak runzelte die Stirn. Er hatte Andre hinausgeschickt, um zu kontrollieren, ob die Wachen noch auf ihren Posten waren. Die Männer am Tisch unterbrachen ihr Kartenspiel. Andre lief auf Colak zu. Panik stand in seinem Gesicht.

Colak klemmte sich die Zigarre zwischen die Zähne. Er fühlte sich dadurch wie eine uneinnehmbare Festung aus Selbstsicherheit. Jetzt konnte alles an ihm abprallen.

„Chef!“ keuchte Andre. „Die Wachposten ...“

„Immer mit der Ruhe“, sagte Colak. „Jetzt sortier erst mal deine Gedanken und dann erzähl der Reihe nach.“

Er bemerkte, dass die Männer am Tisch grinsten. Es machte ihn stolz. Er konnte originell sein, wenn er wollte.

„Verdammt, sie sind weg!“ stieß Andre hervor. „Verschwunden! Alle!“

Colak nahm die Zigarre aus dem Mund und blies den Rauch durch die Nase.

„Bist du sicher?“

„Sie haben klare Anweisungen“, sagte Andre. „Wache ist Wache. Und ich habe überall nachgesehen, konnte sie jedoch nirgendwo entdecken. Aber es steht fest. Die Wachen sind verschwunden.“

Er drehte sich halb zu den anderen um.

„Ihr braucht mir ja nicht zu glauben. Spielt weiter Karten. Warten wir einfach ab, was auf uns zukommt.“

Er wandte sich der Bar zu.

„Am besten nehme ich erst mal einen Drink, dann sehe ich wohl keine Gespenster mehr.“

„Von wegen“, knurrte Colak. „Du brauchst dich hier nicht volllaufen zu lassen. So gleichgültig, wie du denkst, bin ich absolut nicht. Wenn da was nicht in Ordnung ist, dann werden wir es überprüfen. Sofort!“

Seine Stimme wurde laut.

„Ihr geht alle raus. Alle vier. Und ihr bringt mir die Wachposten, verstanden! Für alberne Scherze haben wir keine Zeit.“

Andre starrte ihn sekundenlang an, als würde er seinen Ohren nicht trauen. Die Männer am Tisch standen widerspruchslos auf und nahmen ihre Maschinenpistolen mit. Andre folgte ihnen. Sie waren es mittlerweile gewöhnt, dass ihr Chef häufig seine Meinung änderte.

„Augenblick noch“, sagte Colak.

Andre wandte sich um. „Ja?“

„Wo steckt Javenco?“

„Ich weiß nicht.“

„Dann such ihn gefälligst. Er soll sofort hierherkommen.“

Okay, Chef, ich sage es ihm.“

Andre verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich.

Colak schenkte sich einen Whisky ein. Er trank, rauchte und beobachtete die Männer durch die Fenster. Zwei gingen nach rechts, die anderen nach links. Es konnte sich wirklich nur um einen Scherz handeln. Er würde an seinen Wachleuten ein Exempel statuieren, damit seine Autorität gewahrt blieb. Sie durften sich solche Sachen einfach nicht erlauben. Die Männer erreichten die Seiten der Villa und waren durch die Fenster nun nicht mehr zu sehen.

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DEGENBACH GING AUF den rückwärtigen Eingang des Gebäudes zu. Er lag tief im Schatten, was dem Mann sehr zustattenkam. Er brauchte kaum zu fürchten, dass ihn hier jemand entdeckte. Die Tür war verschlossen. Degenbach hatte das nicht anders erwartet. Er zog ein flaches Etui aus der Hosentasche, legte die Waffe für eine Weile aus der Hand, wählte das passende Instrument und knackte das Schloss in wenigen Sekunden.

Die Tür ließ sich geräuschlos öffnen. Vor ihm lag ein langer Gang. Neonlichter brannten in regelmäßigen Abständen. Hier gab es keinen Luxus. Nur nüchterne, praktische Funktionalität. Vorsichtig schlich er den breiten Gang entlang. Auf der linken Seite war eine Stahltür nur angelehnt. Er drückte sich flach gegen die Wand und stieß die Tür mit dem Fuß auf. Mit der Waffe im Anschlag trat er in den dahinterliegenden Kellerraum. Einige Gänge zweigten von ihm ab.

Degenbach ging geradeaus weiter. Er kam an einigen Türen vorbei, die verschlossen waren. Dann entdeckte er einen schwachen Lichtschimmer. In eine der Türen war ein kleines Fenster eingelassen. Degenbach blickte hindurch. In der Mitte des Raumes saß ein Mann auf einem Drehstuhl. Er kehrte der Tür den Rücken zu und beobachtete unablässig eine farbenfrohe Wand aus Monitoren. Sie zeigten verschiedene Ansichten des Gartens. Auf anderen war die Eingangshalle der Villa zu sehen.

Vorsichtig öffnete Degenbach die Tür. Ein knarrendes Geräusch ertönte. Sofort wandte sich der Mann im Drehstuhl um. Degenbach schnellte nach vorn. Er rammte dem Gegner die MPi in den Bauch. Ein zweiter Schlag traf seine Stirn. Der Mann prallte mit dem Hinterkopf gegen die Wand des kleinen Kellerraums. Es gab einen dumpfen Laut und dann ein schabendes Geräusch, als er mit den Schultern an der rauen Wand herabrutschte.

Trotz allem war er nicht bewusstlos. Er stieß einen grunzenden Laut aus und griff mit der rechten Hand nach Degenbach. Mit der rechten Hand zog er ein Messer aus dem Futteral an seinem Gürtel. Seine Finger schlossen sich um Degenbachs linkes Bein. Das Messer zischte durch die Luft. Es streifte Degenbach nur, riss ihm die Hose bis zum Knie auf.

Er schnellte nach vorn und schlug mit der MPi zu, als der Mann zum zweiten Mal ausholte. Diesmal traf er genau zwischen die Augen. Der Mann grunzte und sackte dann nach vorn. Das Messer entglitt seiner Hand und polterte auf den Boden. Degenbach packte danach, packte den Mann an den Haaren und zog seinen Kopf nach hinten. Mit einer schnellen Bewegung schlitzte er dem Mann die Kehle auf.

Degenbach blickte kurz zu den Monitoren hinüber und verschaffte sich einen kurzen Überblick. Im Garten sah er nur drei Männer patrouillieren. Doch die stellten im Moment keine Gefahr dar. Außer natürlich, sie fanden die Leichen der anderen Wachen. Dann wurde es brenzlig. In der Empfangshalle standen zwei Männer mit Maschinenpistolen. Aber wie viele mochten sich noch im Gebäude aufhalten? Degenbach verließ den Raum. Er wandte sich nach rechts. Plötzlich stand ein untersetzter Mann vor ihm und sah ihn drohend an.

„Was wollen Sie hier?“

„Ich hab eine Verabredung mit Herrn Colak“, sagte Degenbach und rückte ein Stück näher. „Man sagte mir, er sei hier.“

„Nein, er ist ...“, antwortete der Mann, doch dann fiel sein Blick auf die Maschinenpistole in Degenbachs Hand. Bevor er reagieren konnte, rammte ihm sein Gegenüber die Waffe in den Magen. Der Mann wand sich und keuchte. Ein zweiter Schlag traf ihn seitlich am Kinn. Degenbach packte ihn am Kragen, als er wegsackte, und ließ ihn langsam zu Boden gleiten. Dann stieg er über ihn hinweg. Er blickte sich um und versuchte, sich zurechtzufinden.

Gleich vor ihm war die Treppe, die nach oben führte. Er stieg die Stufen empor, öffnete vorsichtig die Tür und sah sich um. Er befand sich in der Eingangshalle. Rechts und links gab es mehrere Türen. Degenbach lauschte eine Zeitlang. Hinter einer der Türen ertönte das Gemurmel von Männerstimmen, aber sonst konnte er nichts hören. Ein hartes Lächeln grub sich in Degenbachs Mundwinkel. Er entsicherte eine der Maschinenpistolen.

Nach einem kurzen Anlauf trat er die Tür ein. Das Holz splitterte. Die Tür schwang auf und krachte gegen die Wand. Degenbach sprang in den hell erleuchteten Raum. Mit raschen Körperdrehungen schwenkte er die MPi. Dann hatte er die vier Männer im Visier. Links, wo die Sessel standen. Ruckartig waren sie alle aufgestanden, starrten ihn aus schmalen Augen an. Er trat einen Schritt zur Seite.

„Wo ist Colak?“ fragte er.

„Wer ist Colak?“ fragte ein blonder Mann und grinste.

Degenbach war sofort bei ihm, dass er nicht einmal Zeit hatte, mit dem Grinsen aufzuhören. Mit dem Handrücken der Linken schlug er zu. Die Wucht schleuderte den Blonden zu Boden. Zwei Meter entfernt nutzte ein dunkelhäutiger Mann seine Chance. Er war ungeheuer schnell. Degenbach musste es erkennen, als sein Gegner zu Boden rollte und noch im selben Sekundenbruchteil hinter einem Sessel wieder hochkam. In seiner rechten Hand hielt er einen Colt.

Degenbach feuerte. Das kurze Rattern der MPi übertönte das Krachen des Revolvers. Der Dunkelhäutige taumelte mit dem Rücken gegen die Wand, sackte nach unten und hinterließ eine breite Blutspur. Eine Bewegung entstand plötzlich in Degenbachs linkem Blickfeld. Er hatte nicht geglaubt, dass der Blonde es riskieren würde. Als er reagierte, hatte sein Gegenüber die Pistole schon aus dem Schulterhalfter hervorgeholt. Zum zweiten Mal innerhalb von Sekunden blickte Degenbach in eine Laufmündung.

Er ließ sich fallen. Im Donnern des Schusses spürte er einen brennenden Schmerz, der seine Schulter durchzuckte. Degenbach feuerte vom Fußboden aus. Mehrere Schüsse trafen den Blonden, bevor es ihm gelang, eine weitere Kugel abzufeuern. Degenbach stand auf und näherte sich dem Reglosen mit der gebotenen Vorsicht. Doch es drohte keine Gefahr mehr. Beide hatten nicht überlebt. Er nahm die Waffen an sich und betastete seine linke Schulter. Der Stoff der Jacke war aufgerissen. Glücklicherweise handelte es sich nur um eine Schramme, die nicht einmal blutete. Sie würde sich in einen blauen Fleck verwandeln.

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SCHÜSSE ERTÖNTEN.

Colak lag augenblicklich auf dem Boden und rechnete mit dem Klirren von Fensterscheiben. Eisiger Schrecken ließ ihn regungslos verharren. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen, begriff nur, dass seine Wachleute sich keinen Scherz erlaubt hatten. Jemand stieß die Tür auf. Colak zuckte zusammen, tastete nach der Pistole. Erleichtert ließ er sie sinken, als er Javenko erkannte.

„Jemand ist in das Haus eingedrungen und schießt wild um sich!“ rief er.

Im selben Moment ratterten draußen im Treppenhaus Maschinenpistolen. Von irgendwoher wurde das Feuer erwidert.

„Los, verriegle die Tür!“ entgegnete Colak.

Javenko stieß den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn mehrmals herum.

„Der Kerl ist schwer bewaffnet!“

„Nur ein Mann?“ fragte Colak erstaunt.

„Bislang jedenfalls. Abwarten. Ich denke ...“

Schüsse ertönten. Ein Schrei gellte durch das Haus. Dann herrschte wieder Stille.

„Ich muss hier raus“, rief Javenko. „Verdammt, so geht das nicht weiter. Dieser verrückte Hund schießt uns alle zusammen, wenn wir nicht aufpassen.“

Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als das Rattern der MPi nach einem letzten Pistolenschuss endete.

„Du bleibst hier!“ stieß Colak erregt hervor und packte den Mann am Arm. „Du bist mein Sicherheitschef, verdammt noch mal!“

Javenko sah ihn an und hätte beinahe höhnisch gegrinst. Angst war eben keine Zier. Schon gar nicht für einen sonst so abgebrühten Kerl wie Frank Colak. Was jetzt kam, stand jedenfalls fest. Er würde alles unternehmen, um seine erbärmliche Haut zu retten.

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DEGENBACH ENTSCHLOSS sich, in den ersten Stock zu gehen und dort nach Colak zu suchen. Gerade als er sich in Bewegung setzen wollte, hörte er, wie eine Tür geöffnet wurde. Sofort versteckte er sich im Schatten des Treppenaufgangs. Schritte ertönten. Vorsichtig blickte Degenbach durch das Geländer und sah einen Mann. Er wartete.

Mit schnellen Schritten näherte sich der Mann der Treppe. Doch plötzlich blieb er auf der obersten Stufe stehen. Degenbach sah nur seine Schuhe. Wahrscheinlich dachte der Kerl, man könne gar nichts von ihm sehen. Aber seine Schuhe waren sehr auffällig, braun, mit hellen Lederflecken verziert. Degenbach wartete, ebenso wie der Mann auf der Treppe. Sekunden verstrichen, dann bewegten sich die Schuhe.

Flink kamen sie die Stufen hinunter, ließen erst die Beine und dann den Unterleib sehen. Der Mann wusste nicht, dass es die letzten Stufen seines Lebens waren. Sie führten ihn direkt in den Tod. Degenbach sprang hinter der Ecke hervor, stand breitbeinig da und umklammerte den Griff der MPi mit der rechten Hand. Die Gesichtszüge des Mannes auf der Treppe verzerrten sich. Seine Augen huschten hin und her, bis sie zur Ruhe kamen, in genau dem Moment, da sein Finger den Abzug seiner Pistole betätigen wollte.

Aber Degenbach war schneller. Der Mann erkannte es in dem Augenblick, als die Stichflamme aus dem Lauf der MPi schoss und die Kugeln seine Brust durchschlugen, ohne dass er noch imstande war, den Abzug seiner Pistole zu betätigen. Er konnte es nicht, denn die Waffe entglitt bereits seiner Hand. Dann brach er zusammen. Der Mann war schon tot, noch ehe er polternd die Stufen hinabstürzte.

Im nächsten Moment erschienen am oberen Ende der Treppe zwei Männer mit kurzläufigen Uzis und schossen ohne Vorwarnung. Degenbach warf sich hinter die Sockel einiger Marmorstatuen, die wie steinerne Wächter in der Eingangshalle standen. Auf eine längere Schießerei durfte er es nicht ankommen lassen, sonst tauchten noch mehr Gegner auf. Er brachte seine Waffe in Anschlag. Kugel um Kugel jagte aus der Mündung der Waffe.

Gleichzeitig wurde im Erdgeschoss eine Tür aufgerissen. Der Kopf einer blonden Frau erschien in der Öffnung. Die beiden Leibwächter schossen ohne Vorwarnung. Clarissa stieß einen lauten Schrei aus, drehte sich um die eigene Achse und stürzte zu Boden. Ihr blaues Kleid färbte sich blutrot. Die Augen starrten blicklos zur Decke.

„Scheiße!“ rief einer der Leibwächter. „Wir haben die Freundin vom Boss gekillt!“

Degenbach hechtete auf den Fuß der Treppe zu, rollte ab und zielte. Mit einer Kugel zerschmetterte er dem ersten Leibwächter das linke Knie. Der Mann fiel die Treppe herunter und blieb in der Eingangshalle liegen. Der andere jagte Degenbach noch eine Salve entgegen, traf jedoch nicht. Die Projektile zerhackten einige teure Möbel oder drangen in den Fußboden ein. Dann gab die Waffe nur noch ein klickendes Geräusch von sich. Das Magazin war leer. Degenbach nutzte seine Chance, indem er seinerseits feuerte.

Der Mann oben an der Treppe taumelte zurück, machte eine halbe Drehung und prallte auf den Boden. Die Waffe fiel aus seiner plötzlich schlaff gewordenen Hand. Er bäumte sich noch einen Moment auf. Fast schien es, als wolle er sich wieder erheben. Seine Hand zuckte nach der entfallenen Maschinenpistole, dann sackte er zusammen.

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COLAK FÜHLTE DUNKELHEIT von allen Seiten auf sich eindringen. Er hatte ausgespielt. Selbst wenn er den Angriff auf seine Villa überleben sollte, sein Unternehmen, dass er in jahrelanger Arbeit aufgebaut hatte, war dem Untergang geweiht. Warum wurden seine Leute nicht mit diesem Kerl fertig? Es war schließlich nur ein Mann. Beinahe hätte Colak in seiner panischen Angst nach dem Killer gerufen und sich dadurch verraten.

Doch er beherrschte sich. Noch war nicht alles verloren. Er musste lediglich eine Möglichkeit finden, um unbeschadet aus dieser Situation herauskommen. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass er in Schwierigkeiten steckte. Und bisher hatte er immer einen Ausweg gefunden. Warum sollte es ihm diesmal nicht auch gelingen? Er musste nur einen kühlen Kopf zu bewahren. So wie er es immer getan hatte.

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DEGENBACH STIEG DIE breite Treppe empor. Vor ihm lag ein langer Gang. Links und rechts befanden sich jeweils zwei Türen. Er spreizte die Finger der Schusshand und fasste den Griff der MPi fester. Seine Mundhöhle war trocken. Langsam, Schritt für Schritt, bewegte er sich auf die erste Tür zu. Er drückte die Klinke nach unten, riss die Tür mit einem Schwung auf und warf sich geduckt in den Raum. Er landete auf der rechten Schulter, rollte ab und ließ den Lauf der Waffe hin- und herpendeln. Aber in dem Raum befand sich niemand.

An der Wand hing ein hoher Spiegel, in dem er sich selbst sehen konnte, auf dem Boden liegend, das Gesicht vor Anstrengung verzerrt. Der Raum war spärlich eingerichtet. Es gab ein Bett, einen Stuhl und einen breiten Schrank. Lautlos erhob sich Degenbach, verließ den Raum und schlich auf die zweite Tür zu. Sie war nur angelehnt. Degenbach trat einen Schritt zurück. Er machte sich keine Illusionen. Wenn Colak da drin war, hatte er ihn längst gehört. Und wenn er ihn gehört hatte, würde er ihn auch mit einer Ladung Blei empfangen.

Aus dem Stand warf sich Degenbach vor, rammte die angelehnte Tür mit der Schulter auf und warf sich dann sofort zur Seite, um keine Silhouette abzugeben. Seine Hand zuckte empor zum Lichtschalter, aber die aufflammende Helligkeit zeigte ihm, das auch dieser Raum leer war.

Jetzt blieben ihm nur noch zwei Türen. Hastig fuhr er sich mit dem linken Unterarm über die Stirn. Es war ein gefährlicher Weg, der vor ihm lag. Vielleicht hockte Colak hinter der Tür, wartete, bis er sich in der besten Zielposition befand. Dann würde er ihn sofort abknallen. Degenbach näherte sich der nächsten Tür und lauschte. Kein Geräusch drang nach außen. Aber das musste nichts bedeuten.

Plötzlich wurde die Tür geöffnet. Ein schwarzhaariger Mann kam heraus. Seine Bewegungen waren geschmeidig wie bei einer Katze. Er schien ständig auf der Hut zu sein, um einen Angriff abzuwehren. Degenbach kannte diese Typen genau. Solche Leute schossen erst und stellten dann Fragen. Vorausgesetzt natürlich, ihr Opfer konnte noch antworten. Aus geweiteten Augen starrte er Degenbach an, doch bevor er reagieren konnte, bekam er einen Faustschlag ins Gesicht. Der Mann stieß ein leises Röcheln aus. Bevor er zu Boden fallen konnte, fing Degenbach ihn auf, ließ ihn langsam hinuntergleiten und schleifte ihn in den Raum. Ein kurzer Blick genügte, um zu erkennen, dass er leer war.

Degenbach konnte sich nicht lange mit dem Mann aufhalten, deshalb verabreichte er ihm zwei Ohrfeigen, um ihn schneller in die raue Wirklichkeit zurückzuholen. Als der Mann die Augen aufschlug, sah er in die Mündung der Pistole. Er war ein Profi und fand sich sofort mit der veränderten Situation ab. Er stellte auch keine Fragen, sondern stellte lakonisch fest: „Jetzt sind Sie am Drücker. Was wollen Sie?“

„Nicht viel. Du wirst mir nur verraten, wo ich deinen Boss finde.“

„Sonst nichts?“

„Nein, sonst nichts. Im Augenblick jedenfalls.“

„Und wenn ich es nicht sage?“

„Nun, dann gibt es verschiedene Möglichkeiten. Aber die sind alle verdammt unangenehm – zumindest für sich.“

Er verstand sofort, ohne das Degenbach noch weitere Ausführungen zu machen brauchte.

„Okay, ich passe. Colak ist nebenan.“

Degenbach hatte den Eindruck, dass er die Wahrheit sagte. Allzu viele Tricks konnte er sowieso nicht abziehen. Degenbach hatte plötzlich sein Messer mit der langen, beidseitig geschliffenen Klinge in der linken Hand. Das Letzte, was der Mann in diesem Leben noch von sich gab, war ein leises Röcheln. Dann fand der letzte, verzweifelte Kampf, sich am Leben festzuklammern, ein Ende und sein Körper sackte in sich zusammen. Mit einem Ruck zog Degenbach das Messer aus der Wunde und überzeugte sich davon, dass der Mann tot war. Dann schlich er zu der Tür hinüber, hinter der sich Colak befinden sollte.

Er steckte das Messer in den Schaft und lauschte. Kein Geräusch war zu hören. Doch das musste nichts bedeuten. Entweder war diese Tür ungeheuer massiv, oder Colak gab aus Angst kein Geräusch von sich. Degenbach zuckte mit den Schultern. Er überzeugte sich noch einmal davon, dass seine Waffe entsichert war, und drückte die Klinke herunter. Die Tür schwang auf.

„Treten Sie ruhig ein“, sagte Colak und lächelte auf eine Art, die fast jedem anderen Menschen einen eiskalten Schauer über den Rücken gejagt hätte. „Aber seien Sie vorsichtig mit dem Ding, dass Sie da tragen.“

„Sonst müsste ich Sie umlegen“, sagte eine andere Stimme hinter Degenbachs Rücken. Javenko nahm ihm die Waffe aus der Hand.

„Setzen Sie sich doch“, forderte Colak ihn auf, während er seine Pistole auf ihn richtete. „Nein, nein, dort drüben bitte. So, nun können wir uns in aller Ruhe unterhalten.“

„Bevor wir Sie erledigen“, ergänzte Javenko.

Degenbach lächelte sanft und zuckte mit den Schultern.

„Ich habe eine Idee“, wandte sich Javenko an seinen Chef. „Was haben wir davon, wenn wir lange Diskussionen mit ihm führen? Warum schaffen wir ihn nicht in den Keller und legen ihn dort einfach um?“

„Glänzende Idee“, erwiderte Colak spöttisch. „Vorher soll er uns noch sagen, wer ihn angeheuert hat.“

„Kapiert, Freundchen?“ fragte Javenko.

Degenbach nickte gehorsam.

„Und merk dir: Bei der geringsten falschen Bewegung leg ich dich um.“

„Das ist mir vollkommen klar“, beteuerte der Gefangene.

„Los, durchsuche ihn“, forderte Colak.

Degenbach drehte sich lächelnd zu Javenko um. Er richtete es so ein, dass er zwischen ihn und Colak geriet.

„Bitte“, sagte er und griff nach seiner Jacke. Es sah aus, als wolle er sie auseinanderziehen, damit Javenko ihn leichter durchsuchen konnte. Und der Mann fiel auf den Trick herein. Im nächsten Augenblick drang das lange schmale Messer mit der beidseitig geschliffenen Klinge in seinen Körper. Es glitt exakt zwischen zwei Rippen hindurch ins Herz. Javenko sank röchelnd nach vorn. Degenbach packte ihn und schleuderte ihn gegen Colak.

Alles ging so schnell, das der Gangsterboss bis jetzt nicht hatte schießen können. Die einzige Kugel, die er noch abfeuerte, drang in den bereits leblosen Körper von Javenko ein. Dann war Degenbach auch schon bei ihm und schlug ihm die Waffe aus der Hand. Colaks kalter Blick glitt zu der am Boden liegenden Pistole. Er schätzte die Entfernung ab.

„Glauben Sie, dass Sie‘s schaffen?“ fragte Degenbach.

Da er jetzt nicht mehr mit der Hilfe seiner Leute rechnen konnte, fühlten Colaks Nerven die Beanspruchung. Er fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Sein Atem kam in immer kürzeren Abständen. Vergeblich hielt er nach einem Hoffnungsschimmer Ausschau. Degenbach stand reglos wie eine Statue vor ihm. Sein Gesicht war bar jeder Regung. Er ließ den Mann keine Sekunde aus den Augen.

„Ich habe Sie unterschätzt“, sagte Colak schließlich. „Und verdammt, Sie sind nicht sehr delikat zu Werke gegangen.“ Bei dieser Bemerkung kam ein wenig Leben in seine Stimme, doch gleich darauf wirkte er wieder völlig unbeteiligt. „Es hat keinen Zweck, dass wir uns gegenseitig Schwierigkeiten machen, denke ich.“

„Na und?“ fragte Degenbach, als eine Pause eintrat.

„Ich glaube, dass es sich hier um ein kleines Missverständnis handelt. Was wollen Sie denn von mir? Mein Geschäft? Ist es das? Wollen Sie mein Geschäft übernehmen?“

Colak lachte – um sich selbst Mut zu machen.

„Das ist doch nicht Ihr Ernst. Sie können mich nicht aus Hannover vertreiben.“

„Wer sollte mich daran hindern?“ entgegnete Degenbach kalt.

„Was bilden Sie sich ein!“ fauchte Colak, plötzlich von Wut übermannt. „Wer sind Sie denn? Glauben Sie, ich lasse ...“

Seine Stimme erstarb in einem atemlosen Keuchen, denn Degenbach hatte ihm seine Faust in die Magengrube gerammt. Der Schlag war so ansatzlos, dass Colak keine Chance zu einer Reaktion hatte. Er krümmte sich zusammen und presste beide Hände gegen den Bauch. Eine endlose Zeit schien zu vergehen, bevor er wieder Luft bekam. Degenbach stand vor ihm und beobachtete ihn genau. Als Colak sich aufrichtete, traf ihn der nächste Schlag auf die Herzspitze. Er stieß einen erstickten Schrei aus und glaubte zu explodieren.

Degenbach schlug mit den Fäusten zu. Er vermied es, seinen Gegner im Gesicht zu treffen. Seine Schläge waren allesamt darauf berechnet, Schmerzen zu bereiten, aber wenige oder gar keine Spuren zu hinterlassen. Colak ertrug allerhand. Er hatte Nehmerqualitäten. Das war sein Pech. Degenbach schlug zu, solange sich der Mann auf den Beinen hielt. Zweimal versuchte Colak noch, sich aufzurichten. Dann blieb er ausgestreckt auf dem Teppich liegen. Sein Gesicht war nass. Wut und Erregung ließen ihn weinen.

Seine Hand zuckte nach der Waffe, die keinen Meter von ihm entfernt auf dem Boden lag. Doch Degenbach kam ihm zuvor. Er nahm die Pistole und steckte sie in seinen Hosenbund. Dann verpasste er Colak einen Fußtritt in die Rippen. Der Mann stöhnte kurz auf und sackte zusammen.

„Na, wieder bei Bewusstsein?“ fragte Degenbach.

„Scher dich zum Teufel, du Hurensohn“, knurrte Colak mühsam. Im Augenblick war ihm alles egal. Er wunderte sich nur, dass er überhaupt noch lebte, und er zweifelte nicht daran, dass dieses Leben an einem seidenen Faden hing. Sekundenlang stützte er sich mit Händen und Füßen ab und glaubte, zu schwach zu sein, um aufzustehen. Dann gelang es ihm doch noch. Aber schon im nächsten Moment stützte er wieder zu Boden. Degenbach riss ihn hoch und stieß ihn unsanft gegen die Wand.

„Machen wir‘s kurz, Herr Colak“, sagte er. „Ich habe genug Zeit mit Ihnen vertrödelt. Meine Geduld ist erschöpft.“

Degenbach sprach mit solcher Kälte und Bestimmtheit, dass es keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit seiner Worte gab.

„Was ... was wollen Sie eigentlich von mir?“ fragte Colak. „Was habe ich Ihnen getan? Sagen Sie mir, was Sie von mir wollen, und wir unterhalten uns darüber. Man kann schließlich über alles reden, sage ich immer.“

Vor Aufregung war seine Stimme plötzlich heiser geworden.

„Es gibt nicht viel zu besprechen“ erwiderte Degenbach ruhig.

Colak spürte die kalten Schweißtropfen auf seiner Stirn. Es war nicht das erste Mal, dass er sich in einer gefährlichen Situation befand, und dass ihm jemand ans Leder wollte. Aber er wusste, dass er noch nie einem Mann gegenübergestanden hatte, der so gefährlich war.

„Erinnern Sie sich an Alexandra Piehl?“ fragte Degenbach fast sanft. „Bedeutet Ihnen der Name etwas?“

Colak starrte ihn verständnislos an. Er wartete, lauschte.

„Na schön, wenn Ihnen der Name nichts sagt, dann vielleicht ihr Beruf. Sie arbeitete als ...“

„Die Journalistin?“ krächzte Colak.

„Genau. Sie war hübsch, nicht wahr?“

„Ich ... ich weiß nicht ...“

„Eine junge Frau, getötet durch eine Überdosis. Man fand ihre Leiche in einer dreckigen Gasse mit einer Spritze im Arm.“

Colak schüttelte den Kopf wie ein Mensch in Trance, das Gesicht eingefallen, die Augen umtrübt.

„Ich ... ich wollte nicht, dass sie draufging“, sagte er stockend.

„Ist das so?“ fragte Degenbach.

„Ja. Ich hatte meinen Männern gesagt, sie sollten sie nur ein bisschen einschüchtern. Das ist alles. Also wenn ...“

„Sie war meine Schwester.“

„Ihre ... Schwester? Das ... das habe ich nicht gewusst.“

„Ist auch egal. Sie sollten nur wissen, warum Sie sterben.“

Der Gangster wollte sich aus dem Griff befreien, doch Degenbach hinderte ihn daran, indem er ihm einen Faustschlag in dem Magen verpasste. Colak verschwamm alles vor den Augen. Er gab sich instinktiv Mühe, tief durchzuatmen, um das Bewusstsein nicht zu verlieren.

„Den Tod haben Sie ohnehin verdient“, sagte Degenbach kalt. „Mehr als einmal.“ Muskelknoten bewegten sich entlang seiner Kinnbacken.

„Lassen Sie mich laufen!“ flehte Colak. Seine Zähne klapperten. Schweißperlen krochen aus seinem Haaransatz heraus und benetzten seine Stirn. Seine Zunge leckte über trockene Lippen. Er hatte selten in seinem Leben Angst gehabt. Nie aber hatte er dieses nackte Entsetzen gespürt, das aus seinem Körper jetzt einen Eisklumpen machte und ihn vollständig lähmte.

„Warum?“

„Ich habe Geld. Ich gebe Ihnen, soviel Sie wollen.“

Degenbach schüttelte den Kopf. „Sie werden für meine Schwester sterben, die Sie ermordet haben. Denken dran, wenn Sie Abschied nehmen.“

„Nein!“ schrie Colak, während er sich auf seinen Gegner stürzte.

Doch Degenbach reagierte sofort. Er packte den Mann und drehte ihm mit einem Ruck das Gelenk des Oberarms aus dem Schulterblatt. Ein sehr hässliches Geräusch ertönte. Colak verlor fast die Besinnung. Degenbach stieß ihn von sich und warf ihn zu Boden. Dann zog er seine Waffe aus dem Hosenbund. Er zielte und drückte ab. Die Kugel drang mitten in seinen Oberkörper.

Colak zuckte zusammen, während er die Augen weit aufriss. Er hatte in ähnlichen Situationen Dutzende von Menschen sterben sehen. Er hatte grinsend dabei gestanden und sich seltsam stark und unverwundbar gefühlt. Jetzt war er selbst das Opfer eines Killers geworden. Ihm wurde heiß. Er spürte keine Schmerzen, aber er wusste, dass es mit ihm zu Ende ging.

Degenbach zielte ein zweites Mal. Sein Finger krümmte sich. Es krachte. Colak stieß einen Schrei aus. Er murmelte noch etwas Unverständliches, bevor er endgültig verstummte.

Degenbach handelte kühl und überlegt. Zunächst lud er die Waffe nach. Er steckte sie in den Hosenbund, ging zur Hausbar und öffnete die Whiskyflasche. Mit dem Inhalt tränkte er die Vorhänge an den Fenstern. Er holte sein Feuerzeug aus der Hosentasche und zündete die Gardinen an. Sie brannten sofort. Die Flammen fanden überall Nahrung. Dicker schwarzer Rauch stieg zur Decke empor.

Degenbach verließ das Zimmer, stieg die Treppe hinab ins Erdgeschoss und verließ das Haus durch den Haupteingang. Dumpfe Zufriedenheit erfüllte ihn. Er hatte sein Vorhaben erfüllt. Am Tor drehte er sich noch einmal um. Fenster barsten mit lautem Klirren. Flammen schlugen aus den Öffnungen. Dumpfe Explosionen erfolgten. Das Dach brach ein. Funken wirbelten in den Nachthimmel. Als Degenbach seinen Wagen erreichte, der außerhalb des Grundstücks unter einem Baum parkte, ertönte aus der Ferne Sirenengeheul. Irgendjemand musste die Feuerwehr gerufen haben.

Das Haus stand schon komplett in Flammen, als die ersten Fahrzeuge mit kreischenden Reifen zum Stehen kamen und die Männer in ihren dunklen Uniformen und den Schutzhelmen ausschwärmten. Befehle klangen durch die Nacht. Degenbach stieg in seinen Wagen und sah zu, wie die Feuerwehrleute sich mühten, den Brand unter Kontrolle zu bekommen. Doch es gelang ihnen nicht. Und bis sie die Trümmer des Hauses durchsuchen konnten, würde noch viel Zeit vergehen.

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ENDE

Sammelband 5 Krimis - Killer ohne Reue und andere Krimis

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