Читать книгу Schwertmeister der Magie: Drei Fantasy Sagas auf 2500 Seiten - Alfred Bekker - Страница 11

Kapitel 1: Zeichen

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Es hieß, dass in jener Nacht, als Gorian geboren wurde, ein glühender eisenhaltiger Stein vom Himmel fiel und unweit des Dorfes Twixlum nahe der Bucht von Thisilien niederging. Und es hieß auch, dass Nhorich, sein Vater, noch in derselben Nacht, kaum dass man den ersten Schrei des Jungen gehört hatte, aufbrach, um den Stein zu suchen und sein Eisen zu bergen.

Aus diesem Eisen schmiedete Nhorich zwei Schwerter ...

Später sollte man in all diesen Begebenheiten Zeichen des Schicksals erkennen.

Zeichen des Bösen.

Zeichen des Guten.

Zeichen der Verzweiflung.

Zeichen der Hoffnung.

Und Zeichen einer nahenden, tief greifenden Veränderung, die alles erfassen würde. Nicht ein einziges Staubkorn sollte davon unberührt bleiben.

Nichts würde sein, wie es war ...

––––––––




Das Erste, woran sich Gorian später erinnerte, war die helle Sonne am blassblauen Himmel und der dunkle Schatten, der einen Teil dieser grell leuchtenden Scheibe verdeckte. Er sah aus wie ein schwarzer Fleck, und Gorian hatte von Anfang an das Gefühl, dass er nicht dorthin gehörte.

Er war zwei Jahre alt, lag in einem schaukelnden Boot, hatte geschlafen, und als er erwachte, sah er diesen überwältigend blauen Himmel über sich – und die Sonne.

Und jenen dunklen Fleck, von dem er damals noch nicht wusste, dass man ihn den Schattenbringer nannte und dass er aus der Welt langsam, aber sicher einen kalten, toten Ort machen würde.

Gorian drehte den Kopf und er sah seinen Vater an der Pinne der kleinen Segelbarkasse. Ein breitschultriger Mann mit warmen graugrünen Augen und dunklem Bart. „Wir sind gleich da, mein Junge“, sagte er.

Gorian setzte sich auf. Er konnte gerade über den Rand der Barkasse sehen. Da waren ein Ufer, Häuser, ein Hafen.

Als Gorian wieder zu seinem Vater blickte, sah er, dass sich dessen Gesichtsausdruck vollkommen verändert hatte. Eine tiefe Furche reichte von der Nasenwurzel bis zum Haaransatz, und die dichten Augenbrauen hatte er zusammengezogen. Ein Ausdruck, den Gorian im ersten Moment nicht zu deuten vermochte. Aber er spürte, dass etwas nicht so war, wie es sein sollte.

Sein Vater lockerte das Segel. Es flatterte, das Boot drehte sich mit der Spitze in Windrichtung und verlor augenblicklich jegliche Fahrt.

„Bleib ganz ruhig!“, gebot er – auf eine Weise, die Gorian klarmachte, dass es das Beste war, genau zu tun, was man ihm sagte. Denn Gorian hörte die Stimme seines Vaters auf ganz besondere Art: Die Worte drangen auf eine fast bedrängende Weise in seine Gedanken, und Gorian spürte die unheimliche Kraft, die in ihnen wirkte. Eine Kraft, die er nicht erklären, nicht begreifen, ja, noch nicht einmal mit Worten bezeichnen konnte. Er spürte sie einfach – und es fühlte sich wie etwas Bekanntes, Vertrautes an.

Mit einer schnellen Bewegung griff sein Vater nach dem Schwert, das er am Gürtel trug. Die Klinge blitzte im Sonnenlicht. Sie wirbelte so schnell durch die Luft, dass man sie kaum zu sehen vermochte.

Sie zuckte auf Gorians Kopf zu, sauste haarscharf an ihm vorbei und drang in den Schädel eines riesigen geflügelten Fisches. Urplötzlich war die Bestie aus der Tiefe emporgeschossen, war aus dem Wasser gestiegen, hatte die Flügel ausgebreitet und sie so schnell bewegt, dass sie kaum noch sichtbar waren. Ein geflügelter Fisch konnte in der Luft stehen, während er sich mit seinem gewaltigen Maul die Beute einverleibte.

Aber nicht dieses Mal.

Während das Schwert der Bestie in den Kopf fuhr, hörte Gorian den Schrei seines Vaters, der ihm durch Mark und Bein fuhr. In diesem Schrei war noch viel mehr zu spüren von jener unheimlichen Kraft, über die sein Vater zu gebieten schien.

Der geflügelte Fisch stieß einen ächzenden Laut aus, während das Schwert, dessen Griff Nhorich mit beiden Händen hielt, zu glühen begann. Fischblut spritzte aus dem Körper der aufbrüllenden Kreatur. Es war bläulich und zischte, wo immer es auf die Planken des Bootes traf, und auch Gorian bekam etwas davon ab.

Aber er konnte nicht schreien. Er öffnete zwar den Mund, aber nicht ein einziger Laut kam ihm über die Lippen.

Die Bestie sank ins Wasser. Blasen stiegen auf, die Wellen färbten sich blau, und das Boot schwankte entsetzlich.

Gorian sah seinen Vater an, in dessen Augen nichts Weißes mehr zu sehen war; sie waren vollkommen von einer undurchdringlichen Schwärze erfüllt. Breitbeinig stand er da und glich so die Schwankungen der Barkasse aus, die führerlos dahintrieb. Sie drehte sich, Wind fiel ins Segel und ließ es erneut flattern.

Gorians Blick wanderte an seinem Vater vorbei.

Dort war nichts außer der weiten glitzernden Wasserfläche der Thisilischen Bucht und in der Ferne eine Wand aus grauem Dunst.

In diesem Augenblick vermochte Gorian endlich zu schreien. Aber es war kein Schmerzensschrei wegen des ätzenden Fischbluts, sondern eine Warnung – gemischt mit Entsetzen.

Ein einziges Wort kam über die Lippen des Jungen. „Da!“ Er streckte den Arm aus, deutete dorthin, wo noch nichts war, und legte in diesen Schrei alle Kraft, zu der er fähig war.

Im selben Moment tauchte etwa fünf Schiffslängen von der Barkasse entfernt ein zweiter geflügelter Fisch aus dem Wasser. Er war kleiner als der erste, vom Kopf bis zum Schwanz maß er nicht mehr als eine Mannlänge. Dafür war er viel schneller als die Bestie zuvor. Das surrende Geräusch der schwirrenden Flügel klang wie hundert wütende Hornissenschwärme.

Das Wesen aus der Tiefe schoss auf Nhorich zu. Dieser wirbelte herum, stieß erneut einen Schrei aus und ließ die Klinge des Schwerts durch die Luft sausen. Sie glühte kurz auf, als sie durch den Leib des geflügelten Fisches fuhr, und es zischte, als dessen Blut das Eisen berührte, aus dem die Waffe geschmiedet war. Mit einem einzigen Schlag trennte Nhorich der Kreatur den Kopf ab.

Das ätzende Blut spritzte hoch empor, aber eine plötzliche Windböe wehte den giftigen Lebenssaft des Geschöpfes hinaus aufs Meer, sodass diesmal weder Nhorich noch Gorian davon getroffen wurden.

Nhorich sah sich um. Seine Augen waren noch immer von vollkommener Finsternis erfüllt. Gorian würde diesen Anblick in seinem Leben nicht vergessen.

Sein Vater schien etwas zu suchen. Das Boot schwankte, aber er stand noch immer da, das Schwert in beiden Händen, und hielt offenbar nach weiteren geflügelten Fischen Ausschau, die ihn und seinen Sohn attackieren wollten. Doch sofern sich noch weitere dieser Kreaturen im Meer um sie herum verbargen, war ihnen die Gier nach Beute vergangen.

Nhorichs Körperhaltung entspannte sich. „Es ist vorbei“, sagte er. „Sie sind fort ...“

––––––––




„Erinnerst du dich daran, wie uns die geflügelten Fische angegriffen haben?“, fragte Gorian seinen Vater ein paar Jahre später.

„Natürlich.“

„Hast du im Voraus gewusst, dass die Bestie plötzlich aus dem Wasser kommen würde?“

Sein Vater lächelte. „Ja, einen kurzen Moment, bevor es geschah, habe ich es gewusst.“

„Das lernt man als Schwertmeister des Ordens, nicht wahr?“

„So ist es. Aber man kann es nur lernen, wenn die grundsätzliche Begabung dafür vorhanden ist. Doch jetzt musst du mir auch eine Frage beantworten, Gorian.“

„Welche?“

„Erinnerst du dich an den zweiten geflügelten Fisch damals?“

„Natürlich. Er kam von hinten auf dich zu.“

„Und du hast mich gewarnt, bevor er aus dem Wasser stieg.“

„Ja“, murmelte der Junge, und sein Blick wurde so abwesend und in sich gekehrt, wie er es ansonsten oft bei seinem Vater beobachten konnte. „Ich habe ihn gesehen. Noch bevor er da war.“

Nhorich nickte und strich ihm über den Kopf. „Du warst erst zwei. Das ist sehr früh.“

„Wie meinst du das?“

„Vergiss diesen Augenblick niemals. Erinnere dich von Zeit zu Zeit an genau diesen Moment, und versuche ihn dir so genau wie möglich vorzustellen.“

„Warum?“

„Du darfst keine Einzelheit vergessen.“

„Das werde ich nicht“, versprach Gorian. „Und ich denke fast jeden Tag an dieses Erlebnis.“

Sein Vater atmete tief durch. „Eines Tages werde ich dir erklären, was das alles zu bedeuten hat.“

„Warum nicht jetzt?“

„Es ist zu früh. Glaub mir, es wäre nicht gut für dich, mehr zu wissen. Noch nicht.“

––––––––




„Erzähl mir von Mutter“, bat Gorian. Er war inzwischen zehn Jahre alt und stellte diese Forderung keineswegs zum ersten Mal.

„Was soll ich dir über sie erzählen – außer dem, was du schon weißt?“, erwiderte Nhorich. Sein Bart war mittlerweile grau melliert, aber er war immer noch ein Mann voller Kraft und Vitalität.

Gorian hatte seine meergrünen Augen geerbt und den wachen, sehr intensiven Blick, von dem Außenstehende oft den Eindruck hatten, er versuche damit, sie zu durchdringen.

Es war ein Ritual zwischen ihnen: Gorian fragte nach seiner Mutter, und Nhorich erzählte ihm all das, was er über sie wusste oder wovon er meinte, dass Gorian es wissen sollte, was vielleicht nicht ganz dasselbe war.

„Stimmt es, dass ihr Tod mit meiner Geburt zu tun hatte?“, fragte Gorian.

„Wer behauptet das?“

„Stimmt es?“

„Nein, sie starb genau ein Jahr und einen Tag nach deiner Geburt. Und noch einmal nein: Beide Ereignisse hängen nur insofern zusammen wie alles, was im Polyversum geschieht oder geschehen könnte oder geschehen wird, miteinander in einfacher Wechselwirkung steht.“

Polyversum, dachte Gorian. Ein Begriff, den zumeist Angehörige des Ordens der Alten Kraft verwendeten, während die Priesterschaft des Verborgenen Gottes von Schöpfung sprach, wenn sie die Gesamtheit aller denkbaren Orte und Möglichkeiten meinte. Dass Nhorich den Begriff Polyversum relativ häufig in seinen Reden benutzte, verriet ihn als jemanden, der dem Orden der Alten Kraft lange angehört hatte. Die Denkweise, die dort gelehrt wurde, hatte sich tief in seine Persönlichkeit gegraben. Tiefer vielleicht, als Nhorich selbst es wahrhaben wollte, denn er war – im Rang eines Schwertmeisters – in Unfrieden aus dem Orden geschieden und mied seither jeden Kontakt zu dessen Vertretern.

„Pasoch behauptet, dass der Tod meiner Mutter mit meiner Geburt zusammenhing“, erklärte Gorian, denn diesmal wollte er eine ergiebigere Antwort auf seine Frage.

Nhorich blickte von dem Werkstück auf, das er einer letzten Prüfung unterzogen hatte, und lächelte verhalten. Es handelte sich um einen Dolch, geschmiedet von Nhorich selbst. Die Arbeit daran hatte Wochen in Anspruch genommen und war erst mit der Gravur der magischen Kraftzeichen beendet gewesen. Eine kurze Klinge, geschmiedet nach den Maßgaben der Schwertmeister des Ordens der Alten Kraft. Hinsichtlich der Schmiedekunst war Nhorich dem Orden noch immer treu, auch wenn er ansonsten alle Verbindungen zu ihm abgebrochen hatte. Er war zu der Erkenntnis gelangt, dass dieser Orden inzwischen bis ins tiefste Mark verderbt war, herabgesunken zu einem bloßen Machtinstrument der Herzöge von Laramont, die schon seit vier Generationen in Folge die Herrscher des Heiligen Kaiserreichs stellten.

Das Ziel des Hauses Laramont lag auf der Hand: die Abschaffung des Wahlkaisertums und dessen Umwandlung in eine Erbmonarchie. Und sowohl der Orden der Alten Kraft als auch die Priesterschaft des Verborgenen Gottes waren – trotz ihrer erheblichen Gegensätze untereinander – zu Erfüllungsgehilfen dieses Adelshauses geworden. Beide hatten ihre alten Ideale verloren und sich damit Nhorichs tiefste Verachtung zugezogen.

„Pasoch ist ein Narr“, sagte Nhorich, während er über die Klinge des Dolchs strich. Zumindest damit schien Nhorich zufrieden zu sein. Er packte den Griff und schleuderte die Waffe aus dem Handgelenk durch die Schmiedewerkstatt. Der Dolch beschrieb eine bogenförmige Flugbahn, fuhr dann etwas empor und landete in einer Schnitzerei über dem Türfirst, die eine tierhafte Dämonenfratze zeigte, direkt in das mit Hauern versehene, halb geöffnete und zu einem hämischen Grinsen verzogene Maul. Zitternd blieb er im Rachen des geschnitzten Fabelwesens stecken.

Ein Dolch - in seiner Flugbahn abgelenkt durch den Einsatz der Alten Kraft, ging es Gorian durch den Kopf. Das gehörte zu den Künsten, die ein Schwertmeister des Ordens beherrschen musste, um diesen Titel für sich beanspruchen zu können. Und wann immer Gorian seinen Vater diese Künste anwenden sah, war dem abtrünnigen Schwertmeister die Anstrengung dabei niemals anzumerken, die eine derartige Beherrschung der Alten Kraft zweifellos erforderte. Seine Augen hatten sich nicht einmal mit purer Dunkelheit gefüllt, was ein Zeichen großer Konzentration auf diese Kraft war.

Nhorich lächelte zufrieden. „Ein gutes Stück“, sagte er. „Vor allem die richtigen Symbole sind ein Punkt, der häufig unterschätzt wird, mein Sohn. Auf die kommt es an und darauf, in welcher Reihenfolge sie eingraviert werden.“ Er schwieg eine Weile, und sein Blick schien in eine unbestimmte Ferne zu schweifen. Gorian kannte diesen Blick nur zu gut. Sein Vater war dann mit den Gedanken in der Vergangenheit. Gorian bedauerte es in diesen Momenten oft sehr, dass er ihm dorthin nicht folgen und nicht dieselben Dinge vor dem inneren Auge sehen konnte.

Nhorich drehte sich zu Gorian um. „Was fällt Pasoch überhaupt ein, dir gegenüber derartige Dinge zu behaupten?“

Pasoch war der örtliche Priester der Kirche des Verborgenen Gottes in dem nahen, an der Thisilischen Bucht gelegenen Küstenort Twixlum. Nhorichs Hof, wo der ehemalige Schwertmeister mit seinem Sohn und einigen Bediensteten zurückgezogen lebte, befand sich einige Meilen östlich von Twixlum. Von den Hofgebäuden aus konnte man das Meer sehen, und es gab eine eigene Anlegestelle für kleinere bis mittlere Barkassen. Denn der Landweg, der an der Küste entlang von der Hafenstadt Thisia aus über Twixlum bis zu den Anlegestellen der Fähren im Mündungsbereich des Flusses Seg führte, von wo aus man zum Herzogtum Estrigge übersetzen konnte, war nicht das ganze Jahr über passierbar.

„Es war, als ich zuletzt mit der Barkasse in Twixlum war“, antwortete Gorian.

„Du solltest nicht mehr zu den Schultagen der Priester gehen“, sagte Nhorich, und sein Tonfall war düster dabei.

„Warum nicht? Sind sie auch so verderbt wie der Orden der Alten Kraft?“

„Mindestens“, behauptete Nhorich – und diese Ansicht äußerte er Gorian gegenüber nicht zum ersten Mal. Aber Näheres hatte er auch auf Gorians bohrendes Nachfragen hin nie geäußert, sondern traf immer nur die allgemeine Feststellung, dass Priester und Ordensangehörige längst ihre alten Ideale verraten hätten und nur noch einem Kaiserhaus den Machterhalt ermöglichten, statt sich den wahren Bedrohungen entgegenzustellen, die das Heilige Reich gefährdeten. Vielleicht glaubte Nhorich, dass sein Sohn noch nicht in der Lage wäre, alle Hintergründe zu verstehen. Oder er wollte ihn schützen, indem er ihm Dinge verschwieg, über die Bescheid zu wissen ihn in Gefahr bringen könnte. Wiederholt hatte Nhorich etwas in der Art angedeutet, aber es war bei diesen Andeutungen geblieben.

Zu den Priestern in die Schule nach Twixlum gehen zu dürfen hatte Gorian seinem Vater abringen müssen. Der ehemalige Schwertmeister war alles andere als begeistert davon gewesen. Er wollte nicht, dass die Priester des Verborgenen Gottes seinen Sohn in ihrem Sinne beeinflussten. Aber es entsprach auch der Lehre des Ordens, sich alle möglichen Auffassungen anzuhören, ohne ein allgemein verbindliches Urteil zu fällen, ehe dieses nicht unabweisbar war. Wie hätte es Nhorich, der die alten Ideale des Ordens nach wie vor als Richtschnur seines eigenen Lebens ansah, seinem Sohn da verwehren können, sich mit den Lehren der Priesterschaft bekannt zu machen, auch wenn sie in vielem völlig konträr waren zu den Auffassungen, die Nhorich für sich persönlich als richtig ansah?

Die Schule fand immer an sieben aufeinander folgenden Tagen statt, denn sonst hätte es sich für viele nicht gelohnt, dafür eigens aus der weiteren Umgebung anzureisen. Die Kinder übernachteten jedes Mal im Tempel, der selbst in einem so kleinen Ort wie Twixlum immer noch das mit Abstand größte Gebäude war.

Gorian hatte es immer genossen, dabei Gleichaltrige aus der Umgebung kennenzulernen, denen er ansonsten nie begegnet wäre. Es waren die Söhne und Töchter von Fürsten, Rittern und Bauern – in diesem Punkt machte die Priesterschaft des Verborgenen Gottes keinen Unterschied. Der Unterricht war kostenlos und von einer Qualität, dass selbst Kaufleute oder Ritter aus dem Gefolge des Herzogs von Thisilien, die in der Gegend ihre Güter unterhielten, gern ihre Kinder dorthin schickten, damit man ihnen Lesen und Schreiben beibrachte und wenn möglich auch die Grundzüge der mathematischen Kunst.

„Was hat Pasoch genau gesagt?“, fragte Nhorich noch einmal genauer nach, denn irgendwie beunruhigte es ihn, dass der örtliche Priester seinem Sohn vielleicht Dinge offenbart hatte, von denen Gorian nichts erfahren sollte. Noch nicht. Zumindest nicht von einem Priester des Verborgenen Gottes.

„Er sagte, dass an dem Tag, an dem ich geboren wurde, ein glühender Stein aus dem Sternenhimmel fiel.“

„Das entspricht den Tatsachen. Und das ist auch kein Geheimnis. Die ganze Gegend erinnert sich deshalb noch heute an jenen Tag – zumindest all jene, die alt genug sind, um sich daran entsinnen zu können.“

„Pasoch sagte, dieser glühende Stein sei ein Bruchstück des Schattenbringers, der die Sonne verdüstert und dafür sorgt, dass seit Generationen jeder Winter härter, kälter und länger wird als der vorherige.“

„So, sagt der Priester das?“, murmelte Nhorich.

„Ist es denn wahr?“, wollte Gorian wissen.

Nhorich nickte. „Ja. Woher auch immer Pasoch seine Weisheit hat, da er doch nur ein einfacher Dorfpriester ist, von dem nicht bekannt ist, dass er sich jemals mit Sternenbeobachtung beschäftigt hätte, so muss ich doch zugeben, dass es stimmt, was er gesagt hat.“

„Dieses Bruchstück des dunklen Flecks, der die Sonne erkalten lässt, sei ein Zeichen des Unglücks. Und ich sei in diesem Zeichen geboren.“

„Das ist Priestergeschwätz“, behauptete Nhorich.

„Er sagt weiter, dass ein solches Zeichen, damit sich sein Einfluss auf die Zukunft verringert, nur durch das Vergießen des eigenen Blutes in seiner Wirkung gemindert oder unwirksam gemacht werden kann.“

„Das ist Aberglaube!“, fuhr Nhorich ungewohnt heftig auf. Der ehemalige Schwertmeister war normalerweise ein sehr ruhiger Mann. Nie hatte Gorian seinen Vater anders erlebt. Doch diesmal spürte Gorian, wie seine Fragen Nhorich erregten. Mehr, als der Junge geahnt hatte. Allerdings war ihm der Grund dafür noch nicht ganz klar, und er dachte auch gar nicht daran, schon damit aufzuhören. Gorian hatte das Gefühl, ganz nahe davor zu stehen, endlich Aufschluss über eine seine Fragen zu erhalten, die bisher von Rätselhaftigkeit umgeben waren. Auch wenn es schmerzhaft für seinen Vater sein mochte, so meinte Gorian doch, dass dieser Schleier ein für alle Mal zerrissen werden musste.

Die Blicke von Vater und Sohn begegneten sich. Sehr lange sahen sie sich nur an. Und Nhorich wiederholte, was er schon einmal gesagt hatte, was dadurch aber eher an Überzeugungskraft verlor denn gewann: „Es ist ein Aberglaube aus der Zeit, bevor man den Verborgenen Gott verehrte, und wie so mancher Aberglaube hat sich auch dieser in den unteren Rängen der Priesterschaft wie ein übles Geschwür ausgebreitet, so schlimm, dass man es nicht herausschneiden könnte, selbst wenn dazu der ernsthafte Wille bestünde.“

„Mag es Aberglaube oder echte Magie sein – hat Mutter für möglich gehalten, dass es so ist? Hat sie geglaubt, dass es stimmt, was Pasoch mir gesagt hat?“

Nhorich schwieg einen Moment. Dann streckte er die Hand aus, hielt sie in Richtung des Dolchs, den er in den Rachen der hölzernen Dämonenfratze geschleudert hatte, und seine Augen wurden von purer, undurchdringlicher Schwärze erfüllt. Der Dolch begann zu zittern.

Du willst mich ablenken, dachte Gorian. So wie man ein Kind von einer Wunde ablenkt, damit es den Schmerz nicht mehr so heftig spürt. Aber ich will nicht länger wie ein Kind behandelt werden. Jedenfalls nicht, was diese Sache betrifft.

Es hieß, dass manche Ordensmeister besonders intensive Gedanken zu lesen vermochten, und nicht zum ersten Mal fragte sich Gorian, ob sein Vater wohl auch seine zu erfassen vermochte, wenn sie besonders stark und drängend waren. Manchmal glaubte er, dass es so war. Manchmal wünscht er es sich sogar, aber bisweilen fürchtete er sich auch davor. Doch in diesem Moment wäre ihm nichts lieber gewesen, als dass sein Vater unmittelbar hätte erfassen können, was ihm durch den Kopf ging und wie wichtig die Frage war, auf die er endlich eine Antwort haben wollte.

„Ist Mutter gestorben, weil sie geglaubt hat, dadurch das Unheil meines Geburtszeichens von mir nehmen zu können?“, fragte Gorian, und seine Stimme klang viel klarer und deutlicher, als er es von sich selbst erwartet hätte. Er hatte sich selten so stark und so in Übereinstimmung mit sich selbst gefühlt wie in diesem Moment. Diese für ihn so wichtige Frage war endlich ausgesprochen, dabei kannte er die Antwort im Inneren seines Herzens längst.

Das Zittern des Dolchs wurde noch heftiger, dann löste er sich aus dem Rachen des Holzdämons, sauste durch die Luft, vollführte dabei eine völlig unberechenbare Zickzacklinie und landete punktgenau in der ausgestreckten, geöffneten Hand des ehemaligen Schwertmeisters. Die Zeichen auf der Klinge glühten kurz auf, dann wurden sie dunkelgrün, so wie die Gravuren von Geschirr oder Essbesteck, das lange Zeit in irgendwelchen Truhen gelagert hatte und nicht benutzt worden war.

Die Schwärze verschwand aus Nhorichs Augen. Er zögerte noch, aber dann schien er einzusehen, dass es sinnlos war, weiter zu schweigen.

„Ja“, gab er zu. „Kenraai – deine Mutter – hat diesen Unsinn geglaubt. Ich habe sie nicht überzeugen können, dass es nur ein verfluchter Aberglaube ist. Sie ist mit der Barkasse nach Twixlum gefahren und hat den Priester, der damals für den Ort zuständig war, um seine Meinung gefragt. Seine Worte waren wie ein Gift, das nur langsam zu wirken beginnt, und eines Tages – ein Jahr und einen Tag nach deiner Geburt - fand ich sie an dem eifömigen Stein an dem Weg nach Thisia. Dort, wo man in der Zeit vor dem Aufkommen des Glaubens an den Verborgenen Gott Menschen geopfert hat, um die alten Götter zu beeinflussen. Sie hatte eine scharfe Klinge bei sich und hatte sich damit die Adern geöffnet.“

Gorian stand konsterniert da. Nichts von dem, was sein Vater ihm gerade gesagt hatte, war noch wirklich überraschend, aber es aus seinem Mund zu vernehmen, war doch etwas anderes, als sich aus vielen einzelnen Mosaiksteinen ein Bild zusammenzusetzen, das an entscheidenden Stellen immer noch ein paar Lücken gehabt hatte.

Gorian wollte etwas sagen, aber ein dicker Kloß steckte ihm im Hals.

Dann brachte er schließlich heraus: „Ich möchte dich um etwas bitten.“

„Was?“

„Ich habe gehört, dass die Meister des Ordens Erinnerungen durch eine Berührung so übertragen können, dass ein anderer daran teilhaben kann, als wären es die eigenen.“

Nhorichs Gesicht verdüsterte sich. Die charakteristische tiefe Furche zeigte sich wieder auf seiner Stirn. Dann schüttelte er den Kopf. „Nein, Gorian. Das nicht. Du kannst mich um alles bitten, aber nicht darum.“

„Ich möchte sie sehen“, sagte Gorian. „Ich möchte, dass du den Moment mit mir teilst, in dem du sie bei dem Ei-Stein gefunden hast.“

Aber Nhorich schüttelte abermals und diesmal noch entschiedener den Kopf. „Das kommt nicht in Frage!“

Gorian wollte noch etwas sagen. Aber sein Mund öffnete sich nur halb, und es kam nichts als ein heftiger Atemstoß über seine Lippen. Plötzlich erkannte er nämlich den wahren Grund dafür, dass ihm Nhorich die Erfüllung dieser Bitte verweigerte. Bisher hatte er geglaubt, es wäre nur Rücksichtnahme und das Bestreben eines Vaters, sein Kind zu schützen. Aber da war noch etwas anderes. Etwas, das noch eine weitaus größere Rolle spielte.

Anscheinend geht selbst ihm die Erinnerung daran zu nahe, erkannte Gorian.

„Du sollst nicht versuchen, Gedanken zu lesen“, mahnte ihn Nhorich. „Nicht, ohne eine entsprechende Ausbildung durchlaufen und abgeschlossen zu haben, die dich vor den unbeabsichtigten Folgen schützt.“

Gorian wurde rot im Gesicht und musste unwillkürlich schlucken.

Nhorich reichte ihm den Dolch. „Der ist für dich“, erklärte er. „Ich werde dir zeigen, wie man damit umgeht. Die Alte Kraft ist sehr stark in dir – und es wird Zeit, bei dir mit dem speziellen Teil der Ausbildung zu beginnen, auch wenn man auf der Ordensburg noch nie jemanden in deinem Alter angenommen hat und ein paar einflussreiche Köpfe dort der Meinung sind, dass selbst sechzehn Sommer noch nicht mal annähernd ein passendes Alter wären, um die Künste der Ordensmeister zu erlernen.“



Schwertmeister der Magie: Drei Fantasy Sagas auf 2500 Seiten

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