Читать книгу Schwertmeister der Magie: Drei Fantasy Sagas auf 2500 Seiten - Alfred Bekker - Страница 17
Kapitel 4: Nicht-Tode
ОглавлениеTagelang lag Nhorich darnieder und war die meiste Zeit über nicht ansprechbar. Er fantasierte im Fieber, und schwarzes Blut drang aus der Wunde, die er an der Hand davongetragen hatte. In den wenigen lichten Momenten aber musste er sich immer wieder davon überzeugen, dass sich Schattenstich in seiner Nähe befand. Gorian schlug daher vor, das Schwert an die Wand zu hängen, sodass sein Vater es von seinem Lager aus jederzeit sehen konnte. Und in der Tat hatte dies eine beruhigende Wirkung auf ihn.
Sternenklinge jedoch behielt Gorian bei sich. Er suchte sich unter den ledernen Schwertscheiden, von denen es auf dem Hof des ehemaligen Schwertmeisters genügend gab, eine besonders Schöne aus und schnallte sie sich auf den Rücken; um das Schwert an der Seite zu tragen, war er noch nicht groß genug.
Ansonsten wich Gorian kaum vom Bett seines Vaters, wachte Tag und Nacht bei ihm und fiel zwischendurch immer wieder in einen kurzen unruhigen Schlaf.
Olgarich, ein Zahlenmagier dritter Ordnung, den Nhorich schon vor vielen Jahren als Verwalter des Hofes eingestellt hatte, schickte ein paar Knechte als Boten aus, um einen Arzt aus Twixlum zu holen. Falls der dortige Arzt nicht zur Verfügung stünde, sollten sie sich weiter die Küste entlang auf den Weg nach Thisia machen. Diese Hafen- und Handelsstadt war groß genug, dass man erwarten konnte, dort einen Medicus von ausreichendem Rang auftreiben zu können. Die Knechte nahmen sich die größte Barkasse, die an der Anlegestelle des Hofs festgemacht war.
Zudem wurde auch Gaerth der Orxanier ausgeschickt. Er sollte sich in die bewaldete Wildnis im Süden begeben, denn angeblich wohnte dort, zwei Tagesreisen entfernt, ein Heilkundiger, auf dessen Kunst Olgarich große Stücke hielt. Beliak war skeptisch hinsichtlich dieses Mannes, denn einer seiner Adh-Freunde, der auf einem benachbarten Hof angestellt war, hatte ihm berichtet, dass dort Vieh gestorben war, nachdem der Heilkundige den Tieren eine seiner Mixturen verabreicht hatte – was aber nie die Runde machte, da der Besitzer des Hofes befürchtete, alle Welt könnte annehmen, sein Vieh wäre an einer ansteckenden Krankheit verendet.
Olgarich aber schwor auf die Dienste dieses Mannes, und als er die Geschichte von Gaerths Adh-Freund hörte, tippte er sich an seine stark nach vorn gewölbte Stirn. Sein Haupt war etwa um ein Drittel größer als das eines gewöhnlichen Menschen, und der vollkommen haarlose Hinterkopf glich einer anschwellenden Froschblase. Er wurde von pulsierenden Adern durchzogen, und als Gorian noch sehr klein gewesen war und zum ersten Mal von den Schicksalslinien gehört hatte, war sein erster Gedanke der, dass sie wohl auch derart untereinander verwoben sein mussten und sich immer wieder kreuzten wie die Adern auf Olgarichs Kopf.
Weder der Orden noch die Priesterschaft erkannten die Zauberei der Zahlenmagier als Magie im eigentlichen Sinn an, und doch bedienten sich beide Gruppen ihrer Dienste. Zumeist aber wurden sie von Handelshäusern, Geldwechslern und Gutsbesitzern angestellt, denn niemand konnte so gut wirtschaften wie sie.
„Mein Vater hat die Dienste von Heilkundigen und Ärzten immer gleichermaßen abgelehnt“, sagte Gorian an Olgarich gewandt.
„Ja, nach dem Tod deiner Mutter hat er den heilenden Künsten ganz allgemein misstraut. Aber wir sollten seinen Willen in diesem Fall ignorieren, findest du nicht auch?“
Gorian nickte. „Gut“, murmelte er. „Jedoch hege ich Zweifel, dass er mit den Mitteln dieser Künste überhaupt zu heilen ist.“
„Wieso das?“
„Weil ich glaube, dass alles mit der Verletzung an seiner Hand zu tun hat. Er hat sich die Erinnerungen des Gargoyle angeeignet, der vor kurzem von Schattenreitern über das Meer gebracht wurde, um mich zu töten.“
Gorian kannte Olgarich, solange er sich entsinnen konnte, und daher vertraute er dem Zahlenmagier fast so sehr wie seinem Vater. Es gab keinen Grund, nicht mit ihm in aller Offenheit zu sprechen, so meinte er, denn wenn Nhorich recht hatte und früher oder später ein weiterer Angriff Morygors erfolgte, musste man sich darauf vorbereiten, und das galt auch für Olgarich und alle anderen, die auf dem Hof lebten.
Der Zahlenmagier sah den Jungen nachdenklich an, und seine zumeist straff gespannte, deutlich geäderte Stirn legte sich auf einmal in tiefe Falten, die sogar das Muster der bläulichen Adern überdeckten. Genauso versuchte Morygor nach Gorians Vorstellung das alte Muster der Schicksalslinien durch ein neues zu ersetzen. Dass er selbst bei diesem Muster eine so entscheidende Rolle spielen sollte, war für Gorian nach wie vor ein verwirrender Gedanke.
„Du meinst, man sollte lieber einen Meister des Ordens rufen oder gar einen Priester?“, fragte ihn Olgarich.
„Das weiß ich nicht“, bekannte Gorian. „Vielleicht auch irgendeinen freischaffenden Magier, der nicht gerade deiner Zunft angehört.“
Der Zahlenmagier lächelte. „Du meinst einen Magier, so wie ihn sich Priesterschaft und Orden vorstellen.“
„Ja. Tut mir leid, das ist keineswegs gegen dich und deine ehrenwerte Kunst der Zahlenmagie gerichtet, aber ...“
„Das habe ich auch nicht so verstanden“, fiel ihm Olgarich mit einem Lächeln ins Wort. Zahlenmagier waren für ihr nüchternes Wesen bekannt und nur schwer zu beleidigen. „Das Problem ist nur, dass dein Vater Magiern der Priesterschaft noch ablehnender gegenübersteht als Heilern und Ärzten, und hinsichtlich des Ordens hat er seit langem jeden Kontakt mit seinen Vertretern abgelehnt.“
„Du meinst, sie würden ihm nicht helfen? Auch nicht in so einem Fall wie diesem?“
„Das weiß ich nicht. Allerdings ...“
„Ja?“
„Es gab da jemanden, der ihn einmal besucht hat. Das war noch vor deiner Geburt. Sein Name war Thondaril, und er fiel mir gleich auf, weil er zwei Meisterringe des Ordens trug.“
„Er war ein zweifacher Meister?“, fragte Gorian überrascht.
Olgarich nickte. „Er muss sowohl ein Meister des Schwertes als auch der Magie gewesen sein.“
Gorian wusste, dass der Orden in fünf Häuser unterteilt war, die Meister in den jeweiligen Talenten ausbildeten: Schwertmeister, Magiemeister, Schattenmeister, Heilmeister und Sehermeister – wobei die Heiler des Ordens großen Wert darauf legten, nicht mit den gemeinen Heilkundigen verglichen zu werden, da sich deren Methoden völlig von den ihren unterschieden. Normalerweise war es selbst bei großem Talent eine hohe Anforderung, allein einen dieser Meistertitel zu erringen. Oft gingen Jahre ins Land, bis die Ausbildung zufriedenstellend abgeschlossen war. So kam es nur sehr selten vor, dass ein Anwärter gleich in mehreren Häusern des Ordens die Ausbildung absolvierte und die Prüfungen bestand. Niemals aber war es jemandem gelungen, dies in allen fünf Häusern zu schaffen.
„Dieser Thondaril ist also sehr begabt“, meinte Gorian.
„Ich werde einen Boten zur nächsten Ordenskomtur schicken“, bot Olgarich an. „Aber wie die Wahrscheinlichkeit steht, dass die Nachricht dann richtig weitergeleitet wird und zum gewünschten Ergebnis führt, wage ich nicht zu kalkulieren.“
„Was auch immer notwendig ist, soll getan werden“, entschied Gorian.
In diesem Augenblick hörte er zum ersten Mal die Stimme. Sie war klar und deutlich in seinem Kopf. „Hilf Ar-Don ... Hilf ihm, und er wird dir helfen. Diene ihm, und er wird dir dienen und dir Antworten auf all deine Fragen ge...“
Instinktiv hielt sich Gorian die Ohren zu.
„Was ist mit dir?“, fragte der Zahlenmagier besorgt.
Gorian sah den Mann mit dem gewaltigen Kopf an, öffnete halb den Mund und wollte etwas sagen. Aber er konnte nicht. Etwas hinderte ihn daran, dass er über das sprach, was er soeben in seinen Gedanken wahrgenommen hatte.
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Der Arzt aus Twixlum war ein Medicus unterer Ordnung, aber in der Bevölkerung der Gegend sehr beliebt. Vor allem verstand er sich auf Geburten, und er wurde nicht müde zu betonen, dass Geburtshilfe wichtiger wäre als die Heilung von Krankheiten, denn die Geburt von Kindern wäre ein Geschenk des Verborgenen Gottes, eine Krankheit hingegen zumeist eine göttliche Strafe.
Etwas Entscheidendes zu Nhorichs Gesundung konnte er zwar nicht beitragen, allerdings verstand er sich auf die Mischung von Salben, und er fertigte aus verschiedenen Zutaten eine an, die er anschließend auf die Wunde an Nhorichs Hand strich und die – so schien es - immerhin den Fluss von schwarzem Blut etwas reduzierte. Aber Gorian hatte seine Zweifel, ob dies wirklich auf die Salbe zurückzuführen war und nicht ohnehin eingetreten wäre.
Schlimme Tage und Nächte vergingen, und Gorian war der schieren Verzweiflung nahe. Wenn er kurzzeitig einschlief, hörte er im Traum Ar-Dons wispernde Stimme, die ihn dazu bringen wollte, den Gargoyle auszugraben.
Wie es scheint, war es doch sehr weise von meinem Vater, mir den Ort nicht zu verraten, an dem er die Überreste der kleinen Bestie vergraben hat, überlegte Gorian, und in diesem Moment bewunderte er Nhorich für seine Weitsicht.
Als Gaerth mit dem Heiler aus dem Wald zurückkehrte, trug der Orxanier diesen auf den Schultern und lief dabei in einem Tempo, das durchzuhalten manchem Pferd schwergefallen wäre. Der Heiler hieß Embaris und war von Gestalt recht massig. Aber für Gaerth stellte das Gewicht des Mannes kein Problem dar. Er wirkte noch nicht einmal leicht erschöpft, als er mit Embaris am Hof anlangte.
Doch auch Embaris vermochte Nhorich nicht zu heilen. „Das Einzige, was ich tun kann, ist es, deinen Vater zu stärken, in der Hoffnung, dass er dann aus eigener Kraft zu überleben vermag.“ Er legte Nhorich die Hand auf die Stirn und zog sie erschrocken zurück. „Was ist nur mit diesem Menschen geschehen?“, stammelte er. „So viele üble Gedanken haben seinen Geist vergiftet.“
„Was sind das für Gedanken?“, fragte Gorian. „Könnt Ihr sie mir beschreiben?“
„Nein.“ Embaris schüttelte entschieden den Kopf. „Ich würde die Klarheit meines eigenen Verstandes riskieren, würde ich das auch nur versuchen – denn ein Gedanke erhält Macht, wenn man ihn in Worte fasst. Wusstest du das nicht, Junge?“
„Nein“, murmelte Gorian.
„Eine gewöhnliche Stärkungsmagie und ein paar belebende Düfte werden deinem Vater helfen“, gab sich Embaris überzeugt. „Und außerdem werde ich ein paar Gebete für ihn sprechen.“
Ermutigend klang das in Gorians Ohren nicht ...
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Es dauerte noch Tage, ehe sich Nhorichs Zustand merklich besserte. Der Medicus aus Twixlum war zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr vor Ort. Er hatte wohl erkannt, einfach nichts ausrichten zu können, und Gorian gegenüber zuvor mehrmals durchblicken lassen, dass man ihn in der Vergangenheit schon des Öfteren verantwortlich gemacht hatte, wenn es ihm nicht gelungen war, einem Patienten zu helfen. Deswegen hatte er es wohl diesmal vorgezogen, sich bei diesem seiner Meinung nach hoffnungslosen Fall aus dem Staub zu machen.
Der Heilkundige aus dem Wald hingegen blieb länger, doch Olgarich sorgte dafür, dass er, als Nhorich eines Morgens erwachte und bei klarem Verstand war, für seine Dienste bezahlt und fortgeschickt wurde. Der ehemalige Schwertmeister brauchte den Heiler, dessen Können den Ausbildungsvorschriften des Ordens sicherlich nicht annähernd genügt hätte, nicht unbedingt zu Gesicht zu bekommen.
„Ich werde wohl einige Zeit brauchen, um meine Kraft zurückzuerlangen“, sagte Nhorich, und dabei wurden seine Augen vollkommen schwarz. Er versuchte das, was ihm derzeit an körperlicher Kraft fehlte, durch die dunkle Kraft auszugleichen. Vollständig konnte das nicht gelingen, das wusste selbst Gorian, auch wenn er diese Kraft natürlich nicht annähernd so gut beherrschte wie sein Vater.
„Ich möchte wissen, was der Gargoyle auf der Frostfeste erlebte“, sagte er nach einiger Zeit, am Bett seines Vaters sitzend. „Du wolltest es mir erzählen.“
„Da bin ich inzwischen zu einer anderen Ansicht gelangt.“
„Warum?“
„Es ist besser, wenn du mit den Gedanken des Bösen nicht in Berührung kommst. Du hast gesehen, was solche Gedanken anrichten können. Ich kann froh sein, noch unter den Lebenden zu weilen.“
„Ich will es trotzdem wissen“, verlangte Gorian.
Nhorich sah ihn an und erklärte dann: „Es reicht, wenn du weißt, dass Ar-Don auf der Frostfeste war. Dass Morygor ihn abrichtete wie einen Falken und seine kalte Steinseele mit dem Wissen eines Schwertmeisters verschmolz, der seit langem vermisst wurde ...“
„Domrich!“, entfuhr es Gorian.
„Ja, das war sein Name. Ar-Don hat ihn zu einem Teil seiner Selbst gemacht, auf gleiche Weise, wie es ein namenloser Schlacke-Gargoyle mit meinem Hund Branwulf tat. Dieses Wesen ist ein äußerst gefährlicher Gegner, Gorian. Gefährlicher, als ich zunächst angenommen habe.“
In diesem Moment wollte Gorian seinem Vater davon erzählen, dass Ar-Dons Geist mit wispernder Stimme zu ihm sprach und versuchte, ihn zu beeinflussen. Er hatte die Worte schon auf der Zunge, aber da war eine Kraft, die verhinderte, dass er sie auch aussprach.
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Wochen später erreichte ein Reiter Nhorichs Hof. Er trug Schwert und Mantel eines Ordensmeisters – und zwei Ringe an seiner Hand, die ihn als Meister zweier Ordenshäuser auswiesen.
Sein Gesicht wirkte wie gemeißelt. Ein gestutzter Bart bedeckte den unteren Teil davon, die Augen waren dunkel und hatten einen durchdringenden, fast stechenden Blick. Das Haar war grau durchwirkt, bedeckte Stirn und Ohren und wurde von einem mit magischen Kraftzeichen besticktes Band zusammengehalten. Das Alter des Mannes zu bestimmen war unmöglich.
Gorian zweifelte nicht einen Augenblick daran, dass dies Thondaril war. Also hatte die Nachricht, die Olgarich über einen Boten an die nächste Ordenskomtur geschickt hatte, ihren Adressaten gefunden.
Thondaril musterte Gorian prüfend, sagte aber kein einziges Wort – nicht mal, als Gorian ihn ansprach und begrüßte.
Nhorich bestand darauf, allein mit dem ehemaligen Ordensbruder zu sprechen. Sie gingen zum Ufer der Thisilischen Bucht, wo der Wind jedes Wort verwehte. Ihre Unterhaltung dauerte sehr lange, und Gorian fragte sich, was sie wohl die ganze Zeit über zu bereden hatten.
Dann kehrten sie zum Haupthaus zurück, und Thondaril schwang sich wieder in den Sattel seines Pferdes und machte sich auf den Weg.
Vom Fenster seines Zimmers aus sah Gorian, wie sich der zweifache Ordensmeister in einiger Entfernung noch einmal umdrehte. Er sah – da war sich Gorian ganz sicher - direkt zu ihm hin; den Blick, mit dem er den Jungen dabei bedachte, ließ sich für diesen jedoch nicht deuten.
Fast könnte man meinen, er sei meinetwegen gekommen, und nicht, um meinem Vater zu helfen, ging es Gorian durch den Sinn.
Was der fremde Meister mit Nhorich gesprochen hatte, darüber erhielt Gorian keinerlei Auskunft. „Es war ein Gespräch unter Meistern“, sagte sein Vater einfach nur. „Und ein Meister kann von einem anderen Meister absolute Verschwiegenheit erwarten.“
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In der folgenden Zeit begann Nhorich mit seinem Sohn den Umgang mit den Schwertern Sternenklinge und Schattenstich zu üben.
Täglich kehrte ein Stück mehr von Nhorichs ursprünglicher Vitalität zurück. Nur die Wunde an seiner Hand wollte nicht heilen. Sie änderte ihre Farbe vom hellen Rot einer frischen Brandwunde zu einem sehr viel dunkleren Ton, der an ein Feuermal erinnerte. Manchmal war sie über Tage oder gar Wochen hinweg geschlossen, dann aber quoll plötzlich wieder Blut daraus hervor, das mal dunkelrot, dann ganz schwarz war.
„Das ist die dunkle Kraft, die ich durch die Erinnerungen des Gargoyle in mich aufgenommen habe“, erklärte er dazu. „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, mein Sohn. Diese Kraft muss raus, denn sie ist so überflüssig wie damals die Schlacke der Schwerter – nur dass die Kraft in diesem schwarzen Blut nicht ausreicht, dass daraus ein ähnliches Wesen wie Ar-Don entsteht.“
Manchmal trug er über Tage hinweg Bandagen um seine Hand, und schließlich ließ er sich einen speziellen Handschuh anfertigen, um das Schwert weiterhin mit beiden Händen führen zu können, wie es der Kunst eines Schwertmeisters entsprach, ohne dass er dabei durch die Wunde behindert wurde.
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Monate vergingen. Der Winter kam und war so hart und lang wie keiner zuvor. Nie hatte es so viele geflügelte Fische in der Bucht von Thisilien gegeben, und die besonders flachen Regionen am Estrigger Ufer waren sogar für ein paar Wochen von einer tückischen dünnen Eisschicht bedeckt.
Die Kunde davon verbreitete sich trotz der harten Witterung wie ein Lauffeuer, denn so etwas war bislang nur aus den Buchten Torheims und Orxaniens bekannt. Zusammen mit dem eisigen Nordwind und der tief stehenden, fahl scheinenden Sonne schien das eine Warnung zu sein. Der Schattenbringer, der zuvor, je nach Wetterlage, manchmal sogar noch vom Licht der Sonne überstrahlt wurde, verdunkelte diese nun so sehr wie noch nie. Ein Zeichen des Himmels, dass die Bedrohung, die man so lange für fern gehalten hatte, ihre Klauen auch nach Süden ausstreckte. Viele, die insgeheim gehofft hatten, dass das Unheil nicht mehr zu ihren Lebzeiten und vielleicht nicht einmal mehr zu denen ihrer Kinder und Kindeskinder das Heilige Reich heimsuchen würde, strömten nun in die Tempel des Verborgenen Gottes und flehten um Gnade und Hilfe.
Aber mit dem Frühling schmolz das Eis, und da dieser Frühling so warm war wie immer, verbreitete sich die Ansicht, dass dieser Winter nur eine Episode gewesen wäre, die nichts für die nähere Zukunft zu bedeuteten hätte. Vielleicht ein vergeblicher Vorstoß des Frostreichs nach Süden, der seinem Herrn die Grenzen seiner Kraft aufgezeigt hatte. Zumindest behauptete das der Priester von Twixlum während der Messen in seinem Tempel, und Gorian lauschte dessen Predigten, wenn er zu den Schultagen in den Ort kam.
Offenbar wollten die allermeisten seinen Worten glauben – und auch Gorian hätte sie gerne für wahr gehalten, wären die Zeichen, die für eine andere Deutung der Geschehnisse sprachen, nicht so drängend gewesen.
Er ging immer seltener zu den Schultagen nach Twixlum, denn er hatte das Gefühl, dort nicht mehr viel zu lernen, was für ihn von Nutzen sein könnte. Stattdessen widmete er sich ganz der Ausbildung durch seinen Vater: das unmittelbare Vorhersehen einer gegnerischen Aktion, die Handhabung des Schwerts, seine Führung und die Entfaltung der Alten Kraft. Das alles zu erlernen brauchte Zeit. Selbst dann, wenn der Schüler sehr begabt war.
Gorian aber war voller Ungeduld. Wenn es tatsächlich so sein sollte, dass er dem Herrn des Frostreichs Einhalt gebieten konnte, dann sollte das so schnell wie möglich geschehen, fand er. Aber sein Vater gemahnte ihn zur Ruhe und Geduld.
„Es lässt sich nicht erzwingen, mein Sohn. Und manchmal ist die verstrichene Zeit derjenige Faktor, der die Schlacht entscheidet. Den richtigen Zeitpunkt erkennen zu können, ist Morygors größte Gabe, und wir werden ihm darin nie ebenbürtig sein. Doch will der Schwächere den Stärkeren besiegen, ist der Aspekt der Zeit dennoch extrem wichtig: Du musst dir die Zeit nehmen, die du brauchst, um derjenige zu werden, der Morygor begegnen kann.“
„Und wenn ich bis dahin ein alter Mann bin?“, fragte Gorian.
„Dann ist es so. Deine Ungeduld, deine Unbedachtsamkeit und dein noch nicht ausgebildeter Sinn für den richtigen Moment sind Morygors stärkste Verbündete. Deshalb wird er glauben, dich töten zu können, bevor sich eure Schicksalslinien kreuzen, auch wenn er beim ersten Versuch gescheitert ist.“
„Ich werde ihm diesen Gefallen nicht tun“, versprach Gorian.
„Und noch etwas ...“
„Ja?“
„Ich nehme an, dass du ab und zu Ar-Dons Stimme vernimmst.“
Gorian war für einen Moment wie erstarrt, unfähig, eine Antwort zu geben, so wie er auch bisher nicht vermocht hatte, mit jemandem über diese Stimme, die er hörte, zu sprechen.
„Du brauchst mir nicht zu antworten, Gorian. Vielleicht kannst du es auch gar nicht – aber falls es so sein sollte, wenn du diese Stimme wirklich vernimmst, musst du alle Kräfte in dir einsetzen, um sie zum Schweigen zu bringen. Glaube keiner ihrer Einflüsterungen. Sie mag versprechen, dir dienen zu wollen, aber in Wirklichkeit will Ar-Don, dass es umgekehrt ist, dass du ihm dienst und den Bann von seinem Grab nimmst.“
„Ich ...“
Weiter kam Gorian nicht. Wieder verschloss ihm eine unüberwindliche Kraft den Mund.
„Werde stark genug, die Stimme zum Schweigen zu bringen, mein Sohn“, mahnte Nhorich erneut. „Das kann dir leider niemand abnehmen. Wenn du die nötige Stärke erlangt hast, werde ich es daran erkennen, dass du darüber reden kannst.“
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Der nächste Sommer war heiß und der darauf folgende Winter nicht so hart wie der vorige, und so schöpften viele Menschen an der Küste Thisiliens neuen Mut für die Zukunft. Nhorich zeigte seinem Sohn, wie man die Alte Kraft sammelte und sie kontrollierte. Manchmal saß Gorian über Stunden am Ufer der Bucht, blickte mit vollkommen schwarzen Augen auf das Meer hinaus und tat nichts anderes, als sich selbst und seine innere Kraft zu sammeln, so wie es ihm sein Vater gezeigt hatte.
Ar-Dons Stimme hörte er nur noch selten, und dann war sie jedes Mal nur noch ein schwaches Wispern. Manchmal lockte sie noch mit ihren Versprechungen, aber Gorian beachtete sie einfach nicht mehr, was ihm auch nicht schwerfiel. Hin und wieder veränderte sich Ar-Dons Gedankenstimme auch; dann stieß sie Drohungen aus, verwünschte Gorian und versuchte seinen Geist mit einer Flut aus Bildern und Gedanken zu überschwemmen: kalte verschneite Landschaften, die Mauern einer Festung, die vollkommen aus Eis zu bestehen schien und in deren Hintergrund eine so tief stehende, fahl und schwach wirkende Sonne stand, dass man glauben konnte, ihr Licht würde jeden Moment verlöschen. In diesen Gedankenbildern bedeckte der Schattenbringer nicht gut ein Drittel der Sonnenscheibe, wie es derzeit der Fall war, sondern deutlich weniger. Das war möglicherweise ein Hinweis darauf, dass Gorian die Vergangenheit sah, Erinnerungen von Ar-Don an die Frostfeste ...
Gerade wollte er nachgeben und mehr davon in seinen Geist einlassen, als ihm mit einem Schlag die Absicht klar wurde, die die Kreatur damit verfolgte. Ar-Don schien erkannt zu haben, wie sehr es Gorian danach dürstete, mehr über Morygor, mehr über die Frostfeste und mehr über die Flucht des Gargoyle dorthin und die Zeit, die er dort verbracht hatte, zu erfahren. Ja, über diese Dinge hätte Gorian zweifellos gern mehr gewusst, als sein Vater ihm bisher zu wissen gestattete.
Nein, nicht mit mir, mein steinerner Mörder!, sagte er sich und vertrieb mit der Alten Kraft die Gedankenbilder des Gargoyle.
Die Stimme kehrte daraufhin zunächst nicht mehr zurück. Manchmal hatte Gorian noch einige der fremden Eindrücke im Kopf, von denen er wusste, dass sie nicht seinen eigenen Erinnerungen oder Gedanken entstammten. Aber das dauerte jeweils nur einen kurzen Moment und wurde auch mit der Zeit seltener. Schließlich hörte auch dies völlig auf. Allerdings dauerte es bis zum darauf folgenden Frühling, ehe Gorian die Kraft fand, seinem Vater davon zu erzählen.
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Es war an einem der ersten sonnigen Tage im folgenden Jahr, an dem Nhorich seinen Sohn zu einem Ritt zu den Grenzmarkierungen des Hofes mitnahm. Gorians Großvater Erian hatte den Hof und das Land einst für seine Verdienste vom Orden erhalten. Es war das erste Mal, dass Gorian seinen Vater auf einen dieser Ausritte begleitete, die Nhorich in mehr oder minder regelmäßigen Abständen durchführte, ganz gewiss aber einmal zu Beginn des Frühlings und einmal zum Ende des Herbstes. In den vergangenen Jahren war er stets allein geritten, wozu er nie eine Erklärung abgegeben hatte.
Ein paar Meilen Richtung Twixlum stießen sie auf einen der Markierungssteine. Er hatte etwa die Größe eines menschlichen Schädels und auch eine ähnliche Form. Nhorich musste ihn erst freilegen; er wusste, wo er unter Sträuchern und Büschen verborgen war.
Dort, wo bei einem Schädel die Augenhöhlen gewesen wären, waren Zeichen auf dem Stein gemalt; Zeichen der Alten Kraft, wie sie auch auf den Klingen von Sternenklinge und Schattenstich zu finden waren sowie auf dem Dolch, den Nhorich für Gorian geschmiedet und dem der Junge noch immer keinen Namen gegeben hatte, obwohl sein Vater inn schon mehrfach dazu aufgefordert hatte, dies zu tun.
„In diesen Steinen ist eine Zauberkraft, die den Hof schon seit den Zeiten deines Großvaters Erian schützt“, erklärte Nhorich. Er hatte eine besondere Kreide mitgenommen, deren Rezeptur ein Geheimnis des Ordens der Alten Kraft war und mit der er die Augenzeichen des Schädelsteins nachzuziehen begann.
„Gegen die Schattenreiter und den Gargoyle hat dieser Zauber aber nicht geholfen“, entgegnete Gorian.
„Nein, das ist wahr – aber leicht zu erklären.“
„So?“
„Dieser Zauber hat schon deinen Großvater vor der Rache des Frostherrschers bewahrt, sodass er als alter Mann friedlich die Augen schließen konnte, obwohl er sich in all den Kämpfen, an denen er teilnahm, ganz sicher den Zorn Morygors und der Frostgötter zugezogen hatte. Aber es gibt einen Weg für Morygors Mordgeschöpfe, den Schutzschirm, der durch die Steine erzeugt wird, zu durchdringen.“
„Und welchen?“
„Wenn es eine starke Verbindung zwischen dem Angreifer und diesem Ort gibt.“
Gorian runzelte die Stirn. „Was für eine Art von Verbindung könnte das sein?“
„Ein Gefühl, ein geistiges oder ein verwandtschaftliches Band – es ist gleichgültig, welcher Art diese Verbindung ist, sie muss nur stark genug sein. Es kann unter Umständen auch genügen, einen Gegenstand in seinem Besitz zu haben, der hierher gehört oder der für jemanden, der hier lebt, eine besondere Bedeutung hat.“
„Die Verbindung der Schattenreiter liegt auf der Hand“, meinte Gorian.
„Ja, ich teilte mit ihnen das Wissen und die Erfahrungen als Schwertmeister des Ordens. Und manch einer von ihnen mag deinen Großvater sogar persönlich gekannt und mit ihm zusammen Seite an Seite gekämpft haben.“
„Und der Gargoyle ...“
„Wurde von mir beim Schmieden der Schwerter erschaffen. Seine Bindung zu diesem Ort ist sogar weitaus stärker als die der Schattenreiter, weswegen auch die Aufgabe, dich umzubringen, Ar-Don zufiel. Dessen Kräfte waren hier zweifellos stärker. Und sind es vielleicht noch?“ Fragend sah er seinen Sohn an.
Gorian begegnete dem Blick seines Vaters, dann schüttelte er den Kopf. „Nein, Ar-Don schweigt.“
„Das ist gut.“
„Er kann mir nicht mehr gefährlich werden.“
„Sei dir dessen nicht so sicher, mein Sohn.“
„Hast du ihn auf unserem Land vergraben?“, fragte Gorian.
Nhorichs Züge wirkten auf einmal sehr nachdenklich, und eine Spur von Misstrauen war darin zu erkennen. Hatte der Gargoyle seinen Sohn dazu gebracht, diese Frage zu stellen? Damit ihn dieser aus seinem Grab und von dem Bann, den Nhorich über ihn gelegt hatte, befreite?
„Es ist manchmal besser, gewisse Dinge nicht zu wissen“, antwortete Nhorich schließlich.
Gorian deutete auf den schädelförmigen Stein. „Du hast mir bisher auch nie etwas von diesen Steinen und ihrem Schutzzauber erzählt ...“
„Je mehr von einem Zauber wissen, desto angreifbarer ist er. Es war zu deiner Sicherheit und zur Sicherheit aller, die hier leben. Allerdings ...“ Nhorich zögerte, ehe er weitersprach. „Irgendwann wirst du diesen Zauber jährlich erneuern müssen, wenn dieses Land zumindest für die nächsten Jahre ein einigermaßen geschützter Ort bleiben soll. Solange, wie die Umstände und die stetige Expansion des Frostreichs es zulassen.“
Im nächsten Augenblick wurden sie auf eine Prozession aufmerksam, die in ihrer Nähe am Strand entlangzog. Angeführt wurde sie von einem Prediger in Lumpen, der in der ganzen Gegend von sich reden machte. Man nannte ihn nur den Waldprediger, denn er hatte jahrzehntelang in einer Hütte in den Wäldern am Oberlauf des Flusses Seg gelebt, ehe er an die Thisilische Bucht gekommen und begonnen hatte, seine Lehre zu verkünden, nach der der Schattenbringer nur eine Prüfung Gottes für die Gläubigen war und kein magisches Werkzeug des Herrn des Frostreichs. Nach Überzeugung des Waldpredigers hatten die Gläubigen diese Prüfung bestanden, und deshalb hätte der Schattenbringer inzwischen auch wieder einen etwas größeren Teil der Sonnenscheibe freigegeben. Das verhältnismäßig warme Wetter und ein, verglichen mit seinen Vorgängern, gemäßigter Winter schienen ihm recht zu geben.
Nhorich und Gorian schauten sich die Prozession an, die in diesem Jahr schon zum zweiten Mal die gesamte Küste an der Bucht von Thisilien zwischen Twixlum und der Seg-Mündung entlangführte. Die Dankesgebete für die angebliche Gnade des Verborgenen Gottes schallten zu ihnen herüber. Dank dafür, dass die große Gefahr vorüber wäre, unter deren Schrecken ganz Ost-Erdenrund über Generationen hinweg gelitten hatte.
Bisher tolerierte die Priesterschaft den Waldprediger. Vielleicht deshalb, weil der Anklang, den dieser in der Bevölkerung fand, über die Maßen groß war.
„Lass dich von seinen Reden nicht beirren, Gorian“, mahnte Nhorich. „Ich selbst würde nichts lieber glauben als seinen Worten. Aber ich fürchte, das genaue Gegenteil von dem, was er sagt, entspricht der Wahrheit.“