Читать книгу Schwertmeister der Magie: Drei Fantasy Sagas auf 2500 Seiten - Alfred Bekker - Страница 15

Kapitel 3: Klingen

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Nhorich wies Gorian an, sich nicht zu bewegen und zu bleiben, wo er war. Dann rief er laut nach den Bediensteten und befahl ihnen, alle Laternen und Kerzenleuchter, die auf die Schnelle aufzutreiben waren, zu entzünden und herbeizubringen.

Allerdings gestattete Nhorich niemanden von ihnen, das Zimmer zu betreten. Stattdessen postierte er sich an der Tür, nahm ihnen die Kerzenleuchter und Öllaternen ab und verteilte sie eigenhändig im Raum.

Seit die Bruchstücke des Gargoyle nicht mehr leuchteten, war es ziemlich dunkel in Gorians Zimmer geworden. Doch nun wurde nach und nach jeder Winkel ausgeleuchtet.

Außerdem ließ sich Nhorich aus der Küche einen irdenen Becher holen, in den er sorgfältig alle Bruchstücke sammelte, die er finden konnte. Manche waren ziemlich weit fortgesprengt worden, und eines fand sich sogar auf Gorians Bett.

„Ar-Don“, sagte Gorian, und sein Vater drehte sich mit einem überraschten Blick zu ihm um.

„Woher weißt du diesen Namen?“

„Es ist der Name dieses ... Wesens, nicht wahr?“

„Ja.“

„Es strahlte sehr bedrängende Gedanken aus. Du musst sie auch gespürt haben, sonst würdest du den Namen nicht kennen. Ar-Don tötet für Morygor ... Es war wie eine fremde Stimme im eigenen Kopf und sehr unangenehm.“

„Ich werde dich wohl etwas früher in einige Dinge einweihen müssen, vor denen ich dich bisher noch schützen wollte“, murmelte Nhorich nachdenklich.

Gorian stutzte, dann runzelte er die Stirn, und es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. „Du kanntest diesen Namen schon vorher!“

„Ich werde dir alles erklären, aber vorher muss schnell gehandelt werden, denn dieser Gargoyle ist keineswegs vollkommen vernichtet, mein Sohn. Ich habe ihn gebannt. Und damit das so bleibt, muss ich jetzt alle Einzelteile einsammeln, sie an einer geschützten Stelle vergraben und einen zweiten Bann aussprechen.“

„Ich werde dir helfen.“

„Du hilfst mir am meisten, wenn du mich einfach machen lässt, was zu tun ist.“

„Was bedeutet das: Ar-Don tötet für Morygor?“

„Es ist jetzt nicht die Zeit, all das zu erörtern“, bestimmte Nhorich.

In Gorian keimte Ärger auf. „Wann soll denn der richtige Zeitpunkt sein? Dieser Angriff galt mir; um das zu erkennen, bedurfte es nicht mal irgendeines magischen Talents.“

„Ja, das ist wahr“, gab Nhorich zu, während er weiter nach kleinsten Steinsplittern des Gargoyle suchte.

„Aber was habe ich mit Morygor zu tun? Wieso schickt der Herr der Frostfeste ein Wesen aus, das offenbar den Auftrag hat, mich zu töten?“

„In einem hast du recht: Dieser Gargoyle und die Schattenreiter kamen wirklich, um dich umzubringen, und daran, dass Morygor hinter diesem Anschlag steckt, kann nicht der Hauch eines Zweifels bestehen. Aus seiner Sicht wird er gute Gründe dafür haben – aber ich werde jetzt erst einmal zu verhindern versuchen, dass noch weiteres Unheil geschieht!“

––––––––




Bis zum Morgengrauen suchte Nhorich nach jedem Steinsplitter des Gargoyle. Das aufkommende Tageslicht half ihm dabei.

So sehr Gorian auch mehr zu erfahren versuchte – er erhielt zunächst keinerlei Antworten, nur die Anweisung, die Überreste der beiden getöteten Schattenkrieger nicht anzurühren, die vor dem Haupthaus lagen. Dieser Befehl galt auch für alle anderen.

Nhorich verschloss den irdenen Becher, in dem er die Bruchstücke des Gargoyle gesammelt hatte, mit einem Stück Leder, das er über die Öffnung band. Gorian sah ihm dabei zu, und zwischenzeitlich empfing er wieder sehr bedrängende, sehr intensive Gedanken, die von dem Gargoyle ausgingen. Allerdings waren sie so fremdartig, dass Gorian daraus keinerlei Sinn entnehmen konnte. Da war einfach nur grenzenloser Hass und eine Flut wirrer Bilder, die keinerlei Zusammenhang ergaben, vermischt mit furchtbaren Schreien und das zur Grimasse verzerrte Gesicht eines Mannes, an dessen rechter Hand ein Ring mit dem Zeichen des Ordens der Alten Kraft steckte. Dieses Detail war das Einzige, was Gorian deutlich wahrzunehmen vermochte.

„Es ist gut, den Namen seines Gegners zu kennen“, sagte Nhorich. „Also merk dir den Namen Ar-Don, denn diese Kreatur wird niemals völlig vernichtet sein.“

„Kann ich dich nicht begleiten, wenn du sie vergräbst?“

„Nein. Zu deinem eigenen Schutz. Dieses Wesen wird versuchen, seinen Auftrag doch noch auszuführen. Dazu ist es abgerichtet. Man muss sehr stark sein, um dem Geist dieser Bestie zu widerstehen.“

„Und du meinst, das bin ich nicht?“

„Es ist eine Aufgabe, an der schon mancher Meister gescheitert ist.“

„So wie der, dessen verzerrtes Gesicht ich in den Gedanken des Gargoyle sah?“

Nhorich blickte auf. „Du hast Meister Domrich gesehen?“, fragte er überrascht.

„Er trug einen Ring mit dem Zeichen des Ordens. Sein Name ist Domrich? Wer ist das?“

„Nicht jetzt, mein Sohn. Nicht jetzt.“

––––––––




Nhorich brach alleine auf. Er nahm dazu das beste Pferd aus dem Stall. Der Schneefall hatte längst aufgehört und überall taute es. Die Felder und Wiesen der Umgebung verwandelten sich allmählich in morastige Flächen, die bald schon einem sumpfigen Zwischenreich glichen, das weder dem Wasser noch dem Land richtig zugehörig schien.

Nhorich trieb sein Pferd an, und Gorian sah ihm nach. Er glaubte, ganz leise ein Wispern zu hören. Eine Stimme, die ihm vertraut war und vor der er doch schauderte. Eine Stimme, die er zuerst für das Rascheln der Blätter hielt und von der er dann erkannte, dass sie in seinen eigenen Gedanken war. Sie murmelte unverständliche Worte. Nur eines hörte Gorian heraus. Einen Namen.

Ar-Don ...

Gaerth und Beliak befanden sich in der Nähe. Der Adh und der Orxanier lamentierten darüber, dass sie erst wach geworden waren, als der eigentliche Angriff schon vorbei gewesen war; Gaerth hatte die Schattenkrieger gerade noch Richtung Meer entschwinden sehen.

Gorian hörte ihnen kaum zu. Stattdessen besah er sich, was von den beiden vernichteten Schattenreitern geblieben war. Sie waren zu dunklem Staub zerfallen, der Ähnlichkeit mit sehr feuchter Asche hatte und auch so roch. Als hätte ein Feuer die beiden dunklen Krieger verschlungen. Der ascheartige Staub begann bereits, sich im Schmelzwasser des Schnees aufzulösen.

Sein Vater hatte zwar angeordnet, dass er sich nicht um die Überreste der Angreifer kümmern sollte, aber die Neugier trieb Gorian dazu, ihn sich genauer zu betrachten.

In dem Staub war etwas, und Gorian hob es auf: Es war ein Ring. An einer Seite war er deutlich breiter, und dort war ein Zeichen eingraviert. Es zeigte drei Kreise, die ineinander griffen.

Das Zeichen des Ordens!, erkannte Gorian gleich. Es war der Ring eines Meisters. Die drei Kreise standen jeweils für das Polyversum aller Welten, für die Alte Kraft und für die Einheit des heiligen Reichs, welches zu schützen zu den Aufgaben der Schwertmeister gehörte.

Gorians Vater besaß ebenfalls einen solchen Ring, auch wenn er ihn vor langer Zeit abgelegt hatte. Aber Gorian hatte ihn ein paar Jahre zuvor auf dem Speicher des Haupthauses gefunden – zusammen mit einem mit dem Ordenszeichen bestickten Umhang, den die Schwertmeister bei feierlichen Anlässen anzulegen pflegten.

Gaerth der Orxanier hatte Gorian beobachtet, wie dieser den Ring aufgenommen hatte, um ihn zu betrachten. Er trat näher, darauf bedacht, nicht in die Asche der vernichteten Schattenkrieger zu treten, was mit seinen riesigen, etwas plump wirkenden Füßen gar nicht so einfach war. „Es muss hier irgendwo auch noch ein zweiter Ring zu finden sein.“

„Wie kommst du darauf?“

„Die Schattenkrieger sind ehemalige Schwertmeister des Ordens, die während all der Kriege, die sie gegen Morygors Frosthorden führten, in Gefangenschaft gerieten. Manchmal auch solche, die im Kampf fielen, deren Seelen aber so schwach waren, dass sie dem Angebot eines zweiten, untoten Lebens nicht widerstehen konnten, sodass sie nun dem Herrn der Frostfeste dienen.“

„Morygor“, murmelte Gorian düster. „Woher weißt du das über die Schattenkrieger?“

„Der Orden hat immer wieder Schwertmeister nach Orxanien entsandt, um meinem Land gegen das Vordringen der Eisgötter zu helfen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob das überhaupt mit Billigung des Kaisers geschah. Tatsache ist, dass sie da waren und tapfer versuchten, die Bedrohung einzudämmen, solange sie sich noch nicht zu sehr ausgebreitet hatte.“

„Sie scheinen keinen großen Erfolg gehabt zu haben“, sagte Gorian und ließ den Ring zurück in den schlammigen Staub fallen, der von dem Schattenreiter geblieben war.

„Das ist leider wahr. Und seit mehr als zwanzig Jahren gibt es auch keinen Schwertmeister mehr, der an der Seite orxanischer Krieger gegen den eisigen Feind in die Schlacht ziehen würde, denn der Kampf um mein Land ist im Grunde schon seit langem verloren. Nicht einmal hinhaltender Widerstand ist noch möglich.“

„Und uns hier wird es wohl irgendwann genauso ergehen.“

„Das ist so sicher wie die Gesänge im Tempel des Verborgenen Gottes“, meinte Gaerth.

––––––––




Erst spät am Abend kehrte Nhorich zurück. Inzwischen hatte es zu regnen begonnen, und ein kräftiger Sturmwind wehte von der See her, der die ohnehin windschiefen Bäume in seine Richtung bog, und hier und dort knackten Äste und brachen ab.

Nhorich war sehr schweigsam, und Gorian bemerkte eine Wunde an seiner rechten Hand, die wie eine Brandverletzung aussah. Nhorich beantwortete zunächst keine von Gorians Fragen. Stattdessen wies er den Orxanier Gaerth und Beliak den Adh an, in der Nähe zwei Gruben zu schaufeln, wie man sie nach den Bräuchen der Kirche des Verborgenen Gottes für eine Totenbestattung auszuheben pflegte. Er selbst wandte sich den Überresten der beiden Schattenkrieger zu. Der ascheartige Staub war aufgrund des schmelzenden Schnees bereits in den Boden gesickert.

Gorian beobachtete seinen Vater, wie dieser ein Ritual vorbereitete, das offenbar zum Geheimwissen des Ordens gehörte. Er streute ein weißes Pulver über die Stellen, an denen die Schattenkrieger vernichtet worden waren. Dazu sprach er ein paar Worte in der alten Sprache Nemoriens, in der viele magische Formeln und auch die Schriften über Ursprung und Gebrauch der Alten Kraft verfasst waren. Auf der Ordensburg gehörte die nemorische Sprache und Schrift zu den wichtigsten Dingen, die ein Neuling zu lernen hatte, aber angeblich war beides so kompliziert, dass selbst viele Meister nur Grundkenntnisse vorweisen konnten. Zumindest galt dies für die Schwertmeister, denn bei den Magiemeistern des Ordens spielte Nemorisch als Sprache der Magie eine extrem wichtige Rolle.

Der dunkle Staub, der von den Schattenkriegern geblieben war, glühte kurz grell auf. Danach füllte Nhorich die Überreste der beiden Schattenreiter jeweils in einen irdenen Krug, steckte auch die beiden Ringe der Schwertmeister in die Krüge und vergrub diese in den von Gaerth und Beliak ausgehobenen Erdlöchern.

„Stimmt es, dass sie einst Schwertmeister des Ordens waren?“, fragte ihn Gorian später.

Nhorich nickte. „Das waren sie – auch wenn es schon fast ein Jahrhundert her ist, dass sie gegen die Horden Morygors kämpften. Damals gab es ein Bündnis zwischen dem Kaiser, den Orxaniern, den Königen von Torheim und den freien Kapitänen der Torlinger Inseln. Aber auch deren vereinte Kräfte konnten die Ausbreitung des Übels nicht aufhalten. Es kostete den Orden fast alle seine Schwertmeister und wäre beinahe sein Ende gewesen.“ Nhorich lachte heiser auf. „Der nachfolgende Kaiser erließ das Gesetz, dass von dieser Niederlage nicht mehr gesprochen werden darf, und dieses Verbot ist bis heute offiziell in Kraft.“

„So schlimm war es?“

Nhorich nickte. „Die Berichte der Überlebenden werden in der Ordensburg aufbewahrt, denn innerhalb ihrer Mauern haben die Gesetze des Kaisers nur bedingte Gültigkeit.“ Er atmete tief durch, was für Gorians Ohren fast wie ein Stoßseufzer klang, und fügte hinzu: „Diese Schwertmeister hier hätten ein würdiges Begräbnis verdient, wie es ihnen seit hundert Jahren verwehrt wurde – seit sie gezwungen wurden, Morygor als Schattenkrieger zu dienen, der durch die verbotene Magie, der er sich bedient, schon seit langem selbst ein untotes Monstrum ist. Wie sonst könnte er sich an einem Ort wie der Frostfeste wohlfühlen.“ Er sah Gorian an, und der Junge erwiderte den Blick seines Vaters. „Alle, die in den Einflussbereich Morygors geraten, verändern sich; sie werden zu Wesen, die nicht lebendig und nicht tot sind – oder zu Schatten. Ohne freien Willen, ohne Liebe, ohne Gewissen – Marionetten des Bösen, die der Herr der Frostfeste an seinen unsichtbaren Fäden führt.“

„So wie dieser Gargoyle – Ar-Don?“, fragte Gorian.

„So ähnlich – aber Ar-Dons Geschichte hat ein paar Besonderheiten“

„Was für Besonderheiten?“

„Später.“

„Nein, ich will es jetzt erfahren! Ich weiß, dass es irgendetwas mit mir zu tun hat. Ich weiß, dass es einen Grund dafür geben muss, dass Morygor ausgerechnet mich töten will und dazu eine Bestie wie diesen Gargoyle aussandte! Und wahrscheinlich könnte es jederzeit wieder geschehen.“

„Nein“, widersprach Nhorich, „in den nächsten Jahren wird sehr wahrscheinlich nichts in dieser Richtung geschehen, nachdem dieser Versuch, dich zu töten, gescheitert ist. Dieser Moment, da dein Tod Morygor nützen würde, ist ungenutzt verstrichen.“

„Wer war Domrich?“

„Nicht hier, mein Sohn, und nicht jetzt.“

„Wann dann?“

„Ich werde morgen mit dir ausreiten. Und dann werde ich dir alles erzählen. Alles, was du wissen musst.“

––––––––




Am nächsten Tag sattelten sie die Pferde. Das Wetter war wieder milder geworden. Zwar stand das Wasser teils noch knöcheltief auf den Wiesen, aber nirgends lag mehr Schnee, und selbst der Dunst über dem Meer hatte sich verzogen. Zeitweilig schien sogar die Sonne, und fast konnte man den Eindruck gewinnen, dass das Frostreich einen plötzlichen Vorstoß sehr weit in den Süden unternommen und sich seine Kälte danach wieder aus diesem Landstrich zurückgezogen hatte.

Gorian und sein Vater waren lange unterwegs. Die Pferde dampften förmlich. Am frühen Nachmittag erreichten sie ein Waldstück irgendwo in dem unwegsamen Gebiet im Landesinneren zwischen Twixlum und der Mündung des Seg und nördlich der Straße zur Brücke von Segantia, über die der südlichere Weg nach Estrigge führte.

Die ganze Zeit über wartete Gorian darauf, dass sein Vater ihn in die Geheimnisse einweihen würde, die hinter all den seltsamen Geschehnissen steckten. Aber Nhorich schwieg.

Schließlich gelangten sie in einen Teil des Waldes, der sehr dicht und dunkel war. Die Bäume, die an dieser Stelle wuchsen, waren von seltsam verwachsener Art. Viele sahen aus, als wären sie von Blitzen gespalten worden, und das mehrfach in ihrer Wachstumsgeschichte. Farnähnliche Gewächse, wie Gorian sie noch nie zuvor gesehen hatte, ragten bis zu den Baumkronen empor, und höchst fremdartige Tierschreie erfüllten den Wald. Obwohl Gorian ausgedehnte Streifzüge in der Umgebung unternommen hatte, war er dabei nie in diese Gegend gelangt.

Sein Pferd scheute mehrfach, so als fürchtete es sich davor, weiter in dieses Gebiet vorzudringen, und nachdem es sich auf die Hinterhand gestellt und Gorian beinahe abgeworfen hatte, sah sich Nhorich gezwungen, das Tier mit einer magischen Formel unter Kontrolle zu bringen.

„Die Schwertmeister beruhigen damit ihre Schlachtrösser, bevor sie in den Kampf ziehen“, erklärte er seinem Sohn. „Du wirst diese Formel auch lernen, wenn du möchtest.“

„Ich will alles lernen, was es zu lernen gibt“, erwiderte Gorian forsch.

„Du wirst noch erkennen, dass manches Wissen zum falschen Zeitpunkt eher schadet als nützt.“

„Aber ist nicht Unwissenheit der größte Feind?“

Ein Lächeln huschte über Nhorichs Gesicht. „Du hast in den Axiomen der Ordensmeister gelesen“, stellte er fest.

„Das Buch war bei den Sachen auf dem Speicher.“

Etwas später erreichten sie eine Lichtung. An deren Rand wucherte das Gras hoch empor, aber in ihrer Mitte schien die Vegetation eine Fläche in Form eines Quadrats zu meiden. Dunkle, lehmige Erde war dort zu sehen. Die Vögel, die von den umliegenden Bäumen aus auf die Lichtung flatterten und dort landeten, um am Boden nach Würmern zu picken, hielten sich von diesem Quadrat ebenso fern wie die Pflanzenwelt und versuchten ihr Glück nur in den Bereichen, die von Gras bewachsen waren.

„Als hätte dort ein Gebäude gestanden“, entfuhr es Gorian, ohne dass er lange darüber nachgedacht hätte.

„Du meinst die freie Fläche in der Mitte?“, vergewisserte sich Nhorich.

„Wie könnte man sie übersehen?“

„Das spricht für dein Talent, denn du siehst mehr, als es bei den meisten anderen der Fall wäre.“ Nhorich machte sein Pferd an einem Strauch fest und trat zu Gorian, der ebenfalls abgestiegen war. „Nun sieh, was dort wirklich ist“, sagte er, legte seinem Sohn die Hand über die Augen und murmelte einige Worte in alt-nemorischer Sprache.

Als er die Hand wieder fortnahm, sah Gorian in der Mitte der Lichtung ein altes, verwittertes Gebäude aus Stein.

„Ein Tempel der Alten Götter!“, entfuhr es Gorian. Die Architektur des Gebäudes ließ keinen Zweifel daran: Das Portal wurde gestützt von zwei steinernen Säulen, in denen tierhafte Gesichter gemeißelt waren, Bildnisse jener alten Götter, deren Namen nicht mehr ausgesprochen werden durften, seit der Glaube an den Verbogenen Gott zum alleinig gültigen Bekenntnis erklärt worden war. Trotzdem gab es immer noch viele, die ihnen große Macht zuschrieben.

Zaubermacht.

„Ich habe diesen Ort vor vielen Jahren entdeckt“, erklärte Nhorich. „Das war, bevor ich sechzehn und auf der Ordensburg als Schüler angenommen wurde wie mein Vater und mein Großvater. Damals erzählte ich niemandem von dieser Entdeckung. Und später, als ich mich längst mit dem Orden überworfen hatte, fand ich einiges über die Magie der Alten Götter heraus und stellte fest, dass dieser Ort ein hervorragendes Versteck ist. Ein Ort, an den man Dinge aufbewahren kann, die verborgen bleiben sollen – und zwar auch vor magisch begabten Sendboten wie den Schattenreitern oder dem Gargoyle, der dich zu töten versuchte.“

„Hast du hier die beiden Schwerter versteckt, die du aus dem Himmelsmetall geschmiedet hast?“ Als er dies fragte, berührte Gorian unbewusst den Griff des Dolchs, den sein Vater ihm geschenkt hatte und den er ständig am Gürtel trug.

Nhorich antwortete darauf nicht direkt. Aber das verhaltene Lächeln, das einen Herzschlag lang um seine Lippen spielte, war für Gorian ein Zeichen, dass es sich genau so verhielt. „Komm mit“, sagte Nhorich. „Es ist Zeit für dich.“

„Zeit wofür?“

„Um dich zu rüsten und vorzubereiten.“

„Worauf?“

„Auf die Begegnung mit der Finsternis, die du mit Finsternis bekämpfen wirst - eines Tages.“

Gorian folgte seinem Vater zum Portal des verwitterten Gebäudes, dessen Stufen bereits brüchig waren. Doch bevor sie über die Schwelle traten, murmelte Nhorich eine alt-nemorische Formel, und ein bläulicher Blitz erfüllte daraufhin für einen kurzen Moment den Eingang. Offenbar befand sich vor ihnen ein magisches Kraftfeld, das nun nicht mehr den Zugang verwehrte.

Sie traten ins Innere des Tempels. Ein feuchter Modergeruch schlug Gorian entgegen. Es war der Geruch des Alters.

Die Kultstätte war verhältnismäßig klein, und sie bestand auch nur aus einem einzigen Raum, der an das Innere der Tempel des Verborgenen Gottes erinnerte. Tatsächlich hatte man in der Zeit des Umbruchs, als sich der neue Glaube ausgebreitet hatte, viele Kultstätten der Alten Götter einfach in Tempel des Verborgenen Gottes umgewandelt, bis die Priesterschaft diese Praxis schließlich verbot.

Sonnenlicht fiel durch Löcher im Tempeldach, und in seinem Schein war in der Mitte des Raums ein quaderförmiger Altar zu sehen. Nhorich schritt darauf zu, und Gorian blieb ihm auf den Fersen. Als der ehemalige Schwertmeister den Altar erreicht hatte und davor halt machte, sprach er erneut eine Formel, und dabei hielt er die Hände über den etwa hüfthohen Steinquader, den für einen kurzen Augenblick ein bläuliches Leuchten umflorte, das aber rasch wieder verschwand.

Nhorich senkte seine Hand auf den brüchigen und verwitterten Stein, dessen eingemeißelte Symbole von der Zeit inzwischen nahezu völlig geglättet waren. Seine Hand drang ohne Widerstand in den Stein, und Nhorich tauchte auch mit dem anderen Unterarm darin ein, um sodann zwei Schwerter aus dem Altar hervorzuholen.

Ihr Metall wirkte recht dunkel, und ebenso wie Gorians Dolch waren die Schwerter mit magischen Kraftzeichen versehen, die in die Klinge eingraviert waren.

Eines davon reichte er Gorian. „Dies ist Sternenklinge“, sagte er. „Ich werde dir beibringen, wie man mit dieser Waffe kämpft.“

Gorian wog das Schwert in der Hand. Es war erstaunlich leicht. Die magischen Kraftzeichen, die in die Klinge graviert waren, leuchteten kurz auf.

„Kann man mit dieser Waffe den Schergen Morygors entgegen treten?“, fragte Gorian.

„Eher als mit jeder anderen“, erklärte ihm Nhorich. „Du hast eine besondere Bestimmung, mein Sohn. Es heißt, dass der Schlag eines Schmetterlings einen Sturm verursachen kann und ein Tropfen genügt, um ein Meer zum Überlaufen zu bringen und eine Flut auszulösen.“

„Die Axiome des Ordens“, murmelte Gorian.

„Du hast sie gelesen, mein Sohn – und auch wenn ich mich mit dem Orden überworfen habe, so zweifele ich nicht an der Weisheit des Ersten Meisters, der den Orden der Alten Kraft gründete und viele dieser Lehrsätze einst niederschrieb.“ Er deutete mit der freien Hand auf Gorian. „Ich glaube, dass du der Tropfen sein kannst, der das Meer zum Überlaufen bringt. Morygor hat deinetwegen den Mörder-Gargoyle ausgeschickt. Dafür kann es nur einen einzigen Grund geben: Er hat erkannt, dass deine Schicksalslinie die seine kreuzen wird, und dies in einer Weise, die ihm gefährlich werden kann.“

„Aber wie kann das sein?“, fragte Gorian verständnislos. „Ich bin noch nicht einmal ein ausgebildeter Meister des Ordens. Ich bin ja noch nicht mal alt genug, um überhaupt als Ordensschüler aufgenommen zu werden. Wie könnte ich dem Herrn der Frostfeste da gefährlich werden?“

„Du musst zur richtigen Zeit am richtigen Ort das Richtige tun – so kannst du eine große, überragende Wirkung erzielen. Dieser Lehrsatz, ebenfalls von den Gründern des Ordens niedergelegt, ist keine hohle Phrase - es geschieht jeden Tag! Schlage an der richtigen Stelle auf einen Stein, und er zerbricht. Lade einem Riesen, der eine schwere Last trägt, die ihn bis zur Grenze seiner Kräfte fordert, noch ein zusätzliches Sandkorn auf, so wird er unter dem Gewicht zusammenbrechen. Irgendwann wird deine Schicksalslinie mit der von Morygor zusammentreffen, und wenn das im entscheidenden Moment geschieht, genügt schon ein geringes Maß an Kraft, um eine große Wirkung zu erzielen.“

„Du meinst, ich könnte Morygor vernichten? Und die Gefahr abwenden, die uns alle bedroht?“

„Das weiß ich nicht, mein Sohn“, gab Nhorich zu. „Ich vermag nicht so klar und deutlich wie Morygor zu erkennen, wie die Schicksalslinien in die Zukunft verlaufen - und schon gar nicht all ihre mannigfachen Verzweigungen und Verknüpfungen. Dass Morygor aber die magischen Mittel dazu hat und davon auch reichlich Gebrauch macht, ist seit langem bekannt. Es ist einer der Gründe, warum er so erfolgreich ist. Sehr geduldig wartet er auf die Momente, in denen er seine Macht am wirkungsvollsten einsetzen kann. Nur so ist zu erklären, dass er mit seinem Zauber selbst den Lauf der Gestirne verändern und den Schattenbringer vor die Sonne schieben kann. Und auch der Zeitpunkt, da er dir den Gargoyle sandte, war keineswegs zufällig gewählt, sondern genau vorausberechnet.“

„Ist es nicht möglich, ebenso weit in die Zukunft zu sehen wie Morygor?“, fragte Gorian. „Kann man nicht das gleiche Wissen erlangen, über das er offenbar verfügt?“ Die Worte seines Vaters hatten ihn sehr nachdenklich gemacht.

„Wenn man sehr viel Magie einsetzt, kann man dieses Wissen vielleicht erlangen. Vielleicht aber muss man dafür auch erst ein untotes Monstrum wie Morygor werden.“

„Hätte jemand das gleiche Wissen wie Morygor, wäre er doch in der Lage, ihm die Stirn zu bieten, oder?“

„Ja, aber womöglich würde sich derjenige unter dem Einfluss dieses Wissens verändern. Er könnte der Macht verfallen, die ihm die Erkenntnis über das zukünftige Netz der Schicksalslinien schenkt. Die Versuchung, dieses Wissen allein zum eigenen Vorteil zu benutzen, wäre zu groß.“

„Und Morygor ist dieser Versuchung verfallen?“

„Ja, das ist er.“

„Aber auch ein Schwertmeister des Ordens ahnt doch die Angriffe seiner Gegner voraus“, gab Gorian zu bedenken.

„Aber nur einen Lidschlag, bevor der jeweilige Angriff erfolgt. Er weiß – wenn er wirklich gut ist - einen Moment im Voraus, wie der nächste Schlag seines Gegners aussehen wird, ob er von oben, von unten, von der Seite erfolgt. Er weiß, welche Finte sein Gegner anwenden wird und welcher seiner Vorstöße wirklich gefährlich für ihn sein kann.“

„Ist es nicht die gleiche Fähigkeit, die Morygor anwendet, nur dass die der Schwertmeister abgeschwächt ist?“

„Das stimmt.“

„Und was ist mit den Sehern des Ordens? Schaue sie nicht auch in die Zukunft?“

„Sie schätzen Wahrscheinlichkeiten ab und ihr Blick ist längst nicht so detailliert und weitreichend wie der Morygors... Was nicht heißt, dass der Orden dies nicht insgeheim anstreben würde!“ Nhorich hob das Schwert in seiner Hand – den Schattenstich. Die Klinge schimmerte dunkel. „Diese Waffe hier enthält die gleiche Kraft, der sich auch Morygor bedient. Es ist die Kraft der Finsternis, mein Sohn. Und nur die Finsternis kann die Finsternis besiegen. Die alten Meister des Ordens haben das immer gewusst und die Künste des Krieges und der Magie, die innerhalb des Ordens gepflegt werden, in diese Richtung weiterentwickelt.“

Eine eigenartige Kraft schien plötzlich von Sternenklinge auszugehen. Gorian hielt den Schwertgriff zuerst mit der Rechten, dann nahm er ihn in die Linke und wusste noch nicht, was er von dieser Empfindung halten sollte. Die Kraft der Klinge durchflutete ihn in einem kurzen Moment und löste zunächst ein tiefes, verstörendes Unbehagen aus, das sich mit einer wirren Flut von Gedanken vermischte, die ihm im Kopf umherschwirrten, unbeantwortete Fragen, ängstliche Ahnungen. War es wirklich möglich, dass er das Sandkorn war, das den Riesen zu Fall brachte? Dass es eine Kreuzung der Schicksalslinien gab, an der die Linie Morygors auf die seine traf und an welcher der schier übermächtige Herrscher des Frostreichs besiegt werden konnte?

Nhorich schien die Gedanken seines Sohns zumindest zu erahnen, denn er sagte: „Es kann noch ein halbes Leben oder länger dauern, bis jener ausschlaggebende Zeitpunkt, an dem sich eure Schicksalslinien treffen, gekommen ist, Gorian. Erwarte ihn nicht gleich morgen oder in einem Jahr. Nicht einmal in zehn Jahren muss dieser Moment eintreffen, denn Morygors Fähigkeit der Schicksalssicht reicht sehr, sehr weit in die Zukunft. Aber du musst damit rechnen, dass Morygor erneut versuchen wird, dich zu vernichten, bevor dieser entscheidende Zeitpunkt erreicht ist. Er tut nichts ohne Grund, und wenn er den Aufwand, dir einen Gargoyle zu senden, einmal auf sich genommen hat, dann wird er es auch ein zweites Mal tun. Allerdings wird er auf einen weiteren günstigen Moment warten müssen. Der erste ist verstrichen, ohne das Morygor Erfolg hatte, aber es werden weitere kommen.“

„Und wir wissen nicht, wann so ein günstiger Moment ist?“, fragte Gorian.

„Nicht nur das Wann, auch das Wo spielt eine Rolle. Zeit und Ort, beides ist wichtig. Aber du hast recht, wir sind wie Blinde, die den Angriff eines Gegners erwarten. Und darum werden wir immer in Bereitschaft sein müssen.“

„Ist es dann nicht besser, von hier fortzugehen und sich irgendwo zu verstecken?“

Gorians Vater schüttelte den Kopf. „Nein, denn im Augenblick bist du hier am sichersten. Hier kann ich alles für deinen Schutz vorbereiten. Und glaub ja nicht, dass es sehr viel nützt, wenn du viele Meilen zwischen dir und dem Frostherrn legst. Er kann dich überall finden und erreichen. Wichtig ist, vorbereitet und kampfbereit zu sein. Und die Zeichen zu erkennen.“

Gorian war die Verletzung an Nhorichs Hand schon aufgefallen, nachdem dieser den zerschmetterten Gargoyle fortgebracht und an einem geheimen Ort vergaben hatte. Sein Blick fiel erneut darauf, als Nhorich das Schwert Schattenstich in die andere nahm.

„Erzähl mir von Ar-Don“, forderte er. „Du hast diesen Namen offenbar schon seit langem gekannt.“

Nhorich schüttelte den Kopf. „Erst als diese kleine Bestie aufgetaucht ist, habe ich ihren Namen erfahren ...“

„Aber ...“

„... und zwar auf gleiche Weise, von der ich annehme, dass auch du diesen Namen erfahren hast: durch die aufdringlichen Gedanken dieser Kreatur. Ich war nur leicht überrascht, dass du so etwas wahrzunehmen vermagst, obwohl du noch keinerlei Ordensausbildung hinter dir hast. Die Alte Kraft ist sehr stark in dir.“

„Aber ich hatte den Eindruck, dass du diese Kreatur ... kanntest“, sagte Gorian.

„O ja, ich kenne sie“, gab Nhorich zu. „Seit sehr langer Zeit. Aber diese Kreatur trug damals noch keinen Namen, und ihre äußere Erscheinung war eine andere. Dennoch habe ich sie sofort erkannt.“

Er hob die verletzte Hand. Fast die gesamte Innenfläche war knallrot. Die einer Brandwunde ähnliche Verletzung schien sich entzündet zu haben.

„Bevor ich Ar-Don vergrub, habe ich ein Bruchstück seines Kopfes berührt, weil ich meinen Geist mit seinen Erinnerungen verbinden wollte, um zu erfahren, was ihm seit unserer letzten Begegnung widerfahren ist und weshalb man ihn hierher schickte. Denken konnte ich es mir zwar, aber ich wollte sicher sein.“ Nhorich schloss für einen Moment die Augen – beinahe so, als müsste er einen Schmerz unterdrücken. „Das ist etwas, wozu selbst ein Meister sehr viel Kraft braucht“, erklärte er. „Und vielleicht wird mich das, was ich getan habe, umbringen, wenn sich herausstellt, dass ich doch zu schwach bin, es auszuhalten. Aber ich brauchte Gewissheit.“

Gorian starrte auf die Wunde und fragte: „Die Gewissheit worüber?“

„Die Gewissheit darüber, dass du derjenige bist, der Morygors Schicksalslinie kreuzen wird und ihn besiegen kann. Die Gewissheit darüber, dass Morygor, der ansonsten keine Furcht kennt und dessen Herz so eisig geworden ist wie das Land, das er von den Frostgöttern verwüsten lässt, sich vor diesem Moment ängstigt und alles versucht, damit er nicht eintrifft.“

Er hob Schattenstich mit der gesunden Hand und betrachtete die Klinge, während er fortfuhr: „Ich will dir erzählen, wer Ar-Don war. Es begann alles in jener Nacht, als du geboren wurdest und der Stein mit dem Sternenerz vom Himmel fiel. Ich schmiedete daraus diese beide Schwerter und gab ihnen Namen, wie du wohl weißt. Das Sternenmetall aber entstammt einem Bruchstück des Schattenbringers, der unsere Sonne mehr und mehr verdunkelt. Es ist sehr viel an dunkler Kraft in ihm – mehr als irgendein Meister, und sei er noch so stark, beherrschen könnte. Also musste ich den Großteil dieser Kraft austreiben, indem ich die Schwerter immer wieder aufschmolz und neu schmiedete. Nie zuvor und nie wieder danach habe ich so lange für eine Schmiedearbeit gebraucht. Nie zuvor hat mich etwas so viel Kraft gekostet, denn die dunkle Macht wirkte dermaßen stark in dem Sternenmetall, dass ich immer nur einen Teil davon auszutreiben vermochte. Selbst mit den stärksten Ritualen und Zauberformeln des Ordens war einfach nicht mehr zu schaffen. Doch ich wurde ungeduldig und nahm mir zu viel auf einmal vor. Ich glaube, daran hat es dann wohl letztlich gelegen ...“ Gorian sah, wie der Blick seines Vaters in sich gekehrt wurde und Nhorich in Gedanken tief in die Vergangenheit abtauchte.

„Was meinst du damit?“, fragte Gorian, aber Nhorich antwortete seinem Sohn zunächst nicht, schien nicht einmal dessen Worte gehört zu haben. Sein Gesicht veränderte sich und zeigte auf einmal einen Ausdruck innerer Qual und Verzweiflung.

„Warum lässt du mich nicht einfach an deinen Erinnerungen teilhaben?“, fragte Gorian in die Stille hinein, die so drückend wirkte wie der Moment vor einem Gewitter. „Das wäre doch möglich.“

Ein Ruck ging durch Nhorichs Gestalt. „Nein, das geht nicht. Du sollst alles wissen, was es zu wissen gibt und was du erfahren musst, um für den Moment gerüstet zu sein, der alles entscheidet, aber du sollst nicht vorher schon geschwächt werden, indem du deine Unbefangenheit zu einem Zeitpunkt verlierst, da dies dir nur schaden kann. Deswegen werden wir auf keinen Fall eine geistige Verbindung eingehen, die dich an meinen Erinnerungen teilhaben lässt. Schon deshalb nicht, weil es auch die Erinnerungen Ar-Dons wären, die du dann verinnerlichen würdest, und der ist ein Wesen der Finsternis und des Bösen und du noch zu schwach, um ihm zu widerstehen. Also werde ich dir nur in groben Zügen erzählen, was geschehen ist, und das soll genügen.“

Sodann fuhr er mit seinem Bericht fort: „Ich wurde also immer ungeduldiger, obwohl ich die Erschöpfung gar nicht spürte, denn dafür war ich zu erfüllt von meiner Aufgabe. Der Schattenbringer verdunkelte schon damals die Sonne, wenn auch noch nicht in dem Maße wie heute, und ich glaubte, wenigstens einige wenige Waffen schmieden zu können, mit denen der Kampf gegen Morygor nicht schon von vornherein verloren wäre. Ich schmolz die Klingen gerade zum letzten Mal auf, um sie erneut zu schmieden. Es war immer noch viel von der finsteren Macht in dem Metall, mehr vielleicht, als die meisten Schwertmeister des Ordens innerlich ertragen hätten. Aber war ich denn nur irgendein Schwertmeister? Und war mein Sohn, für den die zweite Klinge bestimmt war, nicht gerade im Zeichen des Sternenmetalls zur Welt gekommen? Warum also nicht etwas wagen, um dadurch stärkere Waffen zu schmieden. Waffen, die mehr von der finsteren Kraft enthielten, als ich es ursprünglich geplant hatte und es den Lehren der geheimen Schmiedekunst entspricht, wie sie von den Meisterzirkeln des Ordens bis heute bewahrt werden.

Ich schlug die Schlacke von den Klingen – doch diese Schlacketeile enthielten schon so viel von dieser üblen Kraft, dass sie zu unheimlichem Leben erwachten. Ich war derart in meiner Arbeit vertieft, dass ich die Anfänge gar nicht mitbekam.

Die Schlackestücke ballten sich zusammen, verschmolzen miteinander, und ehe ich mich versah, bildeten sich aus ihnen kleine Gargoyles. Wesen, die ständig ihre Gestalt änderten, die aufglühten, als wären sie noch einmal in den Ofen geworfen worden, um das letzte bisschen Erz aus ihnen herauszuschmelzen, und die dann wie kleine steinerne Flugdrachen durch die Luft schwirrten.

Wäre ich kein Schwertmeister gewesen und nicht in der Kampfkunst so gut ausgebildet wie nur wenige von ihnen, ich hätte bereits den ersten Angriff dieser Biester nicht überlebt. Ich aber packte beide frisch geschmiedeten Schwerter in dem Bemühen, ihre Kräfte zu kontrollieren, obgleich sie noch nicht mit magischen Kraftzeichen versehen waren. Sie waren so leicht, dass ich sie mit unglaublicher Schnelligkeit führen konnte - einer Schnelligkeit, die der dieser kleinen Bestien ebenbürtig war.

Einen Gargoyle nach den anderen erwischte und zerschlug ich. Der Boden der Schmiede war übersät mit ihrem Staub, glühenden Bruchstücken und was sonst noch an Überresten von ihnen blieb. Du siehst dort heute manche Brandflecke, mein Sohn, und einige davon stammen von ihnen.

Die übrigen Gargoyles umschwirrten mich wie ein Schwarm mörderischer Insekten, und manchmal verschmolzen mehrere von ihnen zu einem größeren Exemplar. Ich hatte damals einen Hund. Er hieß Branwulf, ein Nemorischer Wolflingshund. Er hätte dir bis zur Schulter gereicht, mein Sohn. Branwulf hatte ein gutes, friedfertiges Wesen, doch er hätte mich jederzeit verteidigt. Er muss gespürt haben, dass ich angegriffen wurde, denn er sprang durch das offene Fenster der Schmiede, ohne dass ich es verhindern konnte.

Einer der Gargoyles tötete ihn und verwandelte seinen Kadaver, machte ihn zu einem Teil seiner eigenen steinartigen Masse, und auf einmal war jener Gargoyle nicht mehr nur faustgroß wie die anderen, sondern so groß wie Branwulf, und zudem bildete er einige Einzelheiten seiner Gestalt nach. Ein bizarres Mischwesen aus Nemorischem Wolflingshund und Gargoyle war entstanden, das mich ebenfalls blindwütig angriff. Ich war gezwungen, es zu töten, wie die anderen auch. Zumindest dachte ich, dass ich sie tötete, aber das stellte sich schnell als Irrtum heraus.

Ich zerschlug sie, und wenn ihre Bruchstücke noch Anzeichen von Lebendigkeit zeigten, zertrümmerte ich sie weiter, bis nichts als kleine Brocken davon blieben. Aber eines dieser Biester war besonders hartnäckig. Es gelang mir zwar, seinen Kopf abzuschlagen, aber es bildete einen neuen, und als die Bestie erkannte, dass nur noch sie allein von der Schlackebrut übrig und zu kämpfen in der Lage war, floh sie durch den Abzug der Schmiede. Ich sah sie noch durchs Fenster am Himmel dahinfliegen, ein kleiner Steindrache, der nach Norden strebte.“

„In Richtung des Frostreichs“, murmelte Gorian.

Nhorich nickte. „Dieser Gedanke kam mir damals auch. Da die Kreatur von der finsteren Kraft des Schattenbringers erfüllt war, erschien es mir zudem naheliegend, dass sie zumindest versuchen würde, sich zu dem Herrn und Gebieter dieser Kraft zu begeben.

Ich vergrub die Überreste der anderen Monstren, als ich erkannte, dass noch immer düsteres Leben in ihnen steckte und sie auf herkömmliche Weise gar nicht zu vernichten waren, und wendete dabei die magischen Rituale an, die ich beim Orden erlernt hatte.“

Plötzlich spürte Gorian, wie das Schwert in seiner Hand emporzuckte. Ein bläulicher Schimmer umflorte Sternenklinge, und ganz kurz leuchteten die magischen Kraftzeichen hell auf, nur um schon im nächsten Moment dunkles Licht abzustrahlen, das an Rauch erinnerte, sodass diese Zeichen für einen Augenaufschlag schwarz glühend in der Luft standen, ehe sie sich auflösten. Gleichzeitig zuckte ein Blitz aus der Schwertspitze empor bis zur Decke des Tempels, teilte sich dort auf, schlängelte über das Deckengestein und verlor sich schließlich.

„Was war das?“, fragte Gorian.

„Wir sollten gehen“, sagte Nhorich. „Hier sind starke magische Kräfte am Werk; sie hängen mit dem Zauber zusammen, der die Schwerter verbergen soll – und natürlich mit den Alten Göttern, die hier einst verehrt wurden.“

„Ist das gefährlich?

„Nur insofern, dass vielleicht Morygor oder einer seiner Schergen diese Entladungen spüren könnte und dann darauf reagiert.“

––––––––




Sie verließen den Tempel der Alten Götter, doch als sie das Säulenportal durchschritten, umspielte beide Schwerter – Sternenklinge und Schattenstich – noch einmal ein Flor von bläulichem Licht, der sich dann von den Klingen löste, wie ein Irrlicht über den Boden huschte und anschließend die Säulen emporschnellte. Es dauerte nur einen kurzen Moment, dann war das magische Licht erloschen.

„Ich weiß nicht, ob ich mich daran gewöhnen kann“, meinte Gorian.

„Ich werde dir zeigen, wie du deine Waffe in jeder Hinsicht beherrschst“, versprach Nhorich.

Als sich Gorian, kurz bevor sie die Lichtung verließen, noch einmal umdrehte, war von dem Tempel der Alten Götter nichts mehr zu sehen.

„Es gehört inzwischen zu den festen Eigenschaften dieses Ortes, sich zu verbergen“, erklärte es Nhorich. „Wahrscheinlich würde der Tempel selbst dann noch verschwinden, würde ich all den Zauber auflösen, den ich zum Verstecken der Klingen webte.“

„Sag mir, was du von Ar-Dons Geist erfahren hast“, verlangte Gorian. „Von seinen Erinnerungen an das, was nach seiner Flucht aus deiner Schmiede geschah.“

„Das ist schnell erzählt“, behauptete Nhorich. „Er floh tatsächlich zu Morygor. Nach einem langen Flug gelangte er schließlich zur Frostfeste, und dort erhielt er seinen Namen und wurde zu einem Diener Morygors abgerichtet.“ Nhorichs Gesicht war plötzlich sehr blass geworden, und er sah mit sorgenvollem Stirnrunzeln auf die Wunde an seiner Hand. Gorian fiel beides auf, und er fragte sich, ob die Verletzung vielleicht schlimmer war, als sein Vater bisher zugegeben hatte.

Den ganzen Ritt zurück sprach Nhorich kein einziges Wort. Er wirkte schwach und kraftlos. Als sie dann den Hof erreichten, überließ er sein Pferd Beliak, der gerade vor dem Haupthaus stand, und zog sich zurück, um sich auszuruhen.

Gorian aber wog Sternenklinge in der Hand, und er war sich in diesem Augenblick unsicherer denn je, ob die Schicksalslinie, der er folgte, die richtige war.



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