Читать книгу Schwertmeister der Magie: Drei Fantasy Sagas auf 2500 Seiten - Alfred Bekker - Страница 23

Kapitel 7: Helfer

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Der Morgen dämmerte, als sie die Stelle erreichten, an welcher der Bach die alte Straße kreuzte. Sie führte über eine baufällige Brücke, die vielleicht noch Fußgänger trug, aber keinen Reiter mehr, geschweige denn ein Gespann. Die neue Straße nach Segantia hatte einen anderen Verlauf, und so waren auf diesem Abschnitt manchmal ganze Teilstücke kaum noch zu erkennen, denn der Wald hatte sich das zurückerobert, was ihm vor langer Zeit abgetrotzt worden war; damals war Thisilien noch ein Teil des Reichs von Gran-Atanien gewesen, das inzwischen längst nicht mehr existierte.

Auf der Brücke blieb Beliak plötzlich stehen. Er beugte sich hinab und starrte auf eine bestimmte Stelle am Boden. Irgendetwas musste er im Licht der Morgensonne zwischen all den moosüberwachsenen Steinen entdeckt haben.

Gorian gähnte und war froh, dass Beliak im Augenblick viel zu beschäftigt war, um dies spöttisch zu kommentieren, denn er hatte ja schließlich vorgeschlagen, dass Gorian sich zunächst ein wenig ausruhte. Aber im Moment fürchtete der sich davor, die Augen zu schließen, denn er ahnte, dass ihn dann die furchtbaren Erlebnisse der letzten Stunden in seinen Träumen heimsuchen würden. Solange er wach war und er zusammen mit Beliak den Häschern des Frostreichs zu entkommen suchte, war wenig Zeit, um nachzudenken. Und das war im Moment vielleicht auch ganz gut so.

Nicht nur wegen der Erinnerungen an die grausamen Geschehnisse auf dem Hof seine Vaters, sondern auch deswegen, weil er nahezu ständig die Einflüsterungen der vergrabenen Überreste Ar-Dons vernahm. Manchmal glich es einem leisen Murmeln, das gerade noch zu erahnen war. Aber als Gorian auf der Brücke innehielt, wurde dieses Gemurmel deutlicher, und einzelne Worte waren verständlich. „Ar-Don ... dienen ... immer dienen ... Helfer, den du brauchst ... Gefahr, in der du schwebst ... Bann, unter dem ich leide ...“

„Still!“, murmelte Gorian.

War er nicht eindringlich davor gewarnt worden, auf diese Stimme zu hören? Hatte sein Vater nicht eigens, um ihn vor dem verderblichen Einfluss dieses Wesens zu schützen, seine Bruchstücke an einem besonderen Ort vergraben und magisch gebannt? Wenn schon jemand wie Nhorich, Meister Erians Sohn, nicht in der Lage war, eine solche Kreatur endgültig zu vernichten, dann konnte man seine Gefährlichkeit gar nicht hoch genug einschätzen.

Schreie echoten in Gorians Kopf wider. Schreie, die er schon einmal gehört hatte und die untrennbar mit einem Namen verbunden waren ...

„Meister Domrich ...“

Dann überschwemmte ihn ein gleichermaßen chaotischer wie beängstigender Strom aus Gedankenbildern, Worten, Namen und Eindrücken, und Gorian spürte, wie ihn eine innere Kälte erfasste, die ihm durch Mark und Bein ging. Selbst die verborgensten Winkel seiner Seele schien sie für einen Augenblick erfrieren zu lassen.

„Hilf mir, und ich helfe dir ...“, wisperte die Stimme. „Vergiss Ar-Don nicht! Befreie ihn, und er wird dir dankbar sein wie sonst niemand in allen Welten des Polyversums. Mein Hass wird dein Verbündeter sein, mein grenzenloser Hass ...“

Und dann drangen wieder diese furchtbaren Schreie in Gorians Gedanken. Schreie, die ihm erschienen, als entstammten sie seiner eigenen Erinnerung.

„Domrich ... Der Meister des Schwertes und der Zauberei ... so lange schmachtete er in Morygors Kerker ...“, wisperte die Stimme. „Und so unsagbar grausam waren die Qualen, die er zu erleiden hatte ...“

Gorian sah vor seinem inneren Auge, wie sich ein Gargoyle auf den geschundenen, in der Ecke eines eisigen Verlieses kauernden Schwertmeister stürzte, der nur noch ein Schatten seiner Selbst war. Ein Gequälter, den die Foltern fast schon zu einem apathischen Untoten hatten werden lassen und den wohl nur die Ausbildung des Geistes, wie man sie auf der Ordensburg erhielt, davor bewahrt hatte, dem völligen Wahnsinn zu verfallen.

Die Bilder waren mehr als nur flackernd undeutliche Tagtraumgespinste, deren Schrecken nur einen Moment anhielt und dann verflog. Die Gedanken des Gargoyle erreichten ihn diesmal mit sehr viel größerer Kraft, und so sah Gorian jedes blutige Detail jener Vergangenheit, die sich wohl in dieser grausamen Deutlichkeit in die Erinnerungen Ar-Dons gegraben hatte wie Linien eines Reliefs in kalten Stein.

Der Gargoyle betrat das Verlies, und der Wunsch zu töten war selbst in der Erinnerung so übermächtig, dass sich Gorian dabei ertappte, für einen kurzen Moment sogar Verständnis für den kleinen Steindrachen zu empfinden. Verständnis dafür, dass er dem Befehl seines Herrn und Meisters Morygor um jeden Preis Folge leisten wollte. Der Gargoyle änderte seine Farbe. Er war zunächst feuerrot, glich sich aber seiner kalten, eisigen Umgebung an, sodass sein Äußeres Ähnlichkeit mit einem im Flug gefrorenen großen Wassertropfen bekam.

Meister Domrich hob den Kopf. Für einen Moment wurden seine Augen pechschwarz. Er sammelte offenbar den letzten Rest an magischer Kraft, den er noch aufbringen konnte, doch die Schwärze in seinen Augen flackerte unruhig, wie Gorian es bei seinem Vater niemals gesehen hatte. Trotzdem war ihm sofort klar, dass dies ein Zeichen der Schwäche war.

Dann gruben sich die nagelähnlichen Steinzähne des Gargoyle in den Körper des Schwertmeisters. Blut spritzte, und schließlich sackte Domrich tot in sich zusammen.

Doch Ar-Don ließ nicht von ihm ab. Seine Flügel verwandelten sich zu langen Armen, an deren Enden sich stachelähnliche Spitzen befanden. Mit ihnen stach er in den Körper des Schwertmeisters, der sich daraufhin verwandelte. Menschliches Fleisch wurde zu jenem magischen Gestein, aus dem auch der Gargoyle bestand. Beide verschmolzen miteinander, formten eine gemeinsame Gestalt, die Elemente eines Menschen und eines Gargoyle in sich vereinten.

Das zuvor gerade mal katzengroße Wesen legte daraufhin deutlich an Masse zu, und ein Gargoyle von der Größe eines Menschen entstand. Er breitete zwei unterschiedlich große Flügel aus, die sich veränderten und sich innerhalb weniger Augenblicke einander anglichen. Das Gesicht wirkte echsenhaft, zeichnete aber auch die ausgemergelten Züge Domrichs nach.

Zunächst stand das Wesen auf den beiden erschreckend menschlichen Hinterbeinen, die sich jedoch in die stämmigen Beine einer Echse verwandelten, während die vorderen Gliedmaßen zu krallenbewehrten Pranken wurden.

„Ar-Don ist Domrich, und Domrich ist Ar-Don,“ wisperte die Stimme in Gorians Kopf, die sich veränderte, sodass sie eine entfernte Ähnlichkeit mit jenen Schreien hatte, die Gorian so durch Mark und Bein gefahren waren. „Ich werde dir helfen, denn Domrich hasst Morygor wie sonst niemanden in allen Welten des Polyversums“, drangen die Gedanken des Gargoyle geradewegs in Gorians Geist und mischten sich auf eine Weise mit seinen eigenen Gedanken, dass es für ihn immer schwerer wurde, beides auseinanderzuhalten. „Du brauchst einen Verbündeten, und ich werde dich schützen ... Aber dafür musst du mich befreien!“, flüsterte der Gargoyle ihm mit der Stimme von Meister Domrich ein.

„Gorian?“, drang in diesem Moment Beliaks Ruf in seine Gedanken. „Gorian, träumst du mit offenen Augen, oder was ist los mit dir? Vielleicht hättest du doch meinen Rat befolgen und dich ausruhen sollen. Schlaf ist für Menschen weitaus wichtiger als für Angehörige der robusteren Rassen.“

Die Bilder und Stimmen verschwanden augenblicklich. Gorian sah den Adh an. Die Eindrücke, mit denen Gorians Geist soeben förmlich überflutet worden war, waren sehr intensiv gewesen und hatten ihn glauben lassen, dass eine längere Zeit vergangen war, doch das war nicht der Fall. Ein Ruck ging durch seinen Leib. Er konzentrierte sich auf die Alte Kraft, so wie sein Vater es ihm gelehrt hatte, und versuchte die Kontrolle über seinen Geist zurückzuerlangen. Alles, was an Einflüsterungen des Gargoyle – oder doch Meister Domrichs? - darin noch herumspuken mochte, musste getilgt werden.

„Was gibt es, Beliak?“, fragte er, und seine eigene Stimme hörte sich in seinen Ohren an wie die eines Fremden. Ein Zeichen dafür, wie sehr dich diese Einflüsterungen schon beeinflusst haben, meldete sich eine warnende Stimme in seinem Hinterkopf.

Schon ertappte er sich dabei, dass ihm die Gedanken, die sich bei ihm eingenistet hatten, zumindest zum Teil durchaus plausibel erschienen und gar nicht nur als der Versuch, ihn zu einem Werkzeug eines fremden Willens zu machen. War es denn nicht wirklich so, dass er nichts so dringend brauchte wie Verbündete und Helfer? Schließlich hatte er sich mit dem Sturz Morygors ein sehr ehrgeiziges, vielleicht sogar völlig vermessendes Ziel gesetzt. Allein auf sich gestellt, konnte er das ganz gewiss nicht erreichen.

Warum nicht den Herrn des Frostreichs mit einem seiner eigenen Dienerkreaturen bekämpfen?, überlegte Gorian.

„Eiskrähendreck!“, sagte Beliak. Er deutete auf verschiedene Stellen am Boden. Gorian wären sie nicht weiter aufgefallen, der Adh aber sog mit seiner großen Knollennase die Luft ein und schnüffelte; die Laute, die er dabei erzeugte, erinnerten an ein Wildtier, das Witterung aufnahm. „Es waren ein paar von den Biestern hier. Wir werden sehr wachsam sein müssen.“

„Vielleicht ...“ Gorian sprach nicht weiter.

Beliak drehte sich zu ihm um und runzelte die Stirn. „Was liegt dir auf der Zunge?“

„Morygor vermag die Knotenpunkte der Schicksalslinien in der Zukunft zu erkennen. Ob ein einfacher Frostgott wie Frogyrr das auch kann, weiß ich allerdings nicht.“

„Ich wage es zu bezweifeln“, entgegnete Beliak. „Das, wovon du gerade gesprochen hast, ist wohl eine ganz spezielle Begabung, die durch eine ganz besondere Art von Magie unterstützt wird. Verbotene Caladran-Zauberei, soweit ich weiß. Aber Frogyrr ist nichts weiter als ein tumber Riesenbär, der vor langer Zeit mit seinesgleichen durch das Weltentor gejagt wurde und sein schauerliches Dasein in einer anderen Welt hätte beschließen müssen, hätte Morygor nicht ein paar Knechte fürs Grobe gebraucht und die Frostgötterbrut zurückgeholt.“

„Ich will auf etwas anderes hinaus“, erklärte Gorian.

„So?“

„Der Ort, den ich als Versteck vorgeschlagen habe – könnte es nicht sein, dass dort längst die Schergen des Frostreichs auf mich warten, weil ihr Herr vorausgesehen hat, dass ich dort auftauchen werde?“

Beliak zuckte mit den Schultern, was aufgrund seiner Breite immer etwas unbeholfen und plump wirkte. „Fang nicht an, selbst die Linien des Schicksals vorausdeuten zu wollen. Du wirst zwangsläufig scheitern, denn diese Gabe ist dir nicht gegeben. Und selbst jemand wie Morygor hat damit nur bedingt Erfolg.“

„Trotzdem ...“

„Wenn dieser Tempel ein gutes Versteck ist, dann solltest du dich dorthin wenden.“

„Und danach?“

„Wolltest du dich nicht schon immer dem Orden anschließen?“

Gorian hatte sich des Öfteren mit Beliak darüber unterhalten, denn im Gegensatz zu seinem Vater hatte der ein neutrales Verhältnis zum Orden der Alten Kraft und allem, was mit ihm in Zusammenhang stand. Und mit irgendwem hatte Gorian sich über seinen Wunsch austauschen müssen.

„Das wollte ich. Aber ich bin mir nicht mehr so sicher, ob das wirklich der richtige Weg ist. Mein Weg, wenn du verstehst, was ich meine.“

„Weil dein Vater es nicht gutgeheißen hätte, und du glaubst, ihm etwas schuldig zu sein?“

„Er verlor sein Leben, als er sich denen entgegenstellte, die mich töten wollten. Er starb meinetwegen, verstehst du?“

Beliak nickte. „Das mag sein. Aber du solltest trotzdem in deiner Entscheidung frei sein und nur danach gehen, was du für richtig hältst. Oder bekommst du nur kalte Füße, weil du dir ein Ziel gesetzt hast, von dem du eigentlich von vornherein weißt, dass du es kaum erreichen kannst? Ich bin da etwas bescheidener. Ich weiß, dass ich Morygor nicht stürzen kann, auch wenn ich mir nichts sehnlicher wünsche, als dass dieser Albdruck, der auf ganz Ost-Erdenrund lastet, endlich verschwinden würde. Aber haben sich das nicht auch schon andere vor uns gewünscht?“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Im Moment bin ich vollkommen damit zufrieden, wenn ich am Leben bleibe und es mir gelingt, dass du nicht vor die Hunde gehst. Alle, die ich sonst noch einen Freund nennen würde, sind offenbar beim Angriff der Frostkrieger ums Leben gekommen.“

Gorian spürte bei den letzten Worten des Adhs, dass die gute Laune und der oftmals ziemlich spöttische Unterton des knollennasigen Gnomen nur eine Maske waren, hinter der sich tiefe Erschütterung verbarg. Die jüngsten Geschehnisse hatten in Beliaks Seele genauso tiefe Spuren hinterlassen wie bei ihm selbst – nur vermochte der Adh dies mit mehr Geschick zu überspielen.

––––––––




Sie erreichten das Dorf, von dem Gorian gesprochen hatte. Der Bach, dem sie bis zur alten Straße nach Segartia gefolgt waren, hatte einen Bogen gemacht, und nun trafen sie erneut auf ihn.

Die Dörfler zweigten von ihm Wasser für einen Fischteich ab. Doch gegen jedes Naturgesetz war der zugefroren. Eis bedeckte teilweise auch die Dächer der Häuser, an deren Überständen sich lange Zapfen gebildet hatten. Das Eis schmolz in der Sonne und tropfte hinab.

Auf dem Dorfplatz lagen schrecklich zugerichtete Tote. Ihnen fehlten zumeist die Augen.

„Eiskrähen!“, murmelte Beliak düster. „Sie müssen hier gewesen sein – und zwar ein ganzer Schwarm. Sie haben es insbesondere auf die Augen ihrer Opfer abgesehen.“

Gorian war von dem grausigen Anblick wie gefangen. Er war früher des Öfteren zusammen mit seinem Vater in dieses Dorf geritten, denn hier hatte es gute Handwerker gegeben, die unter anderem viele der Möbel für Nhorichs Hof gefertigt hatten. Außerdem hatte ein Großteil der Süßwasserfische, die im dörflichen Teich gezogen wurden, den Weg auf Nhorichs Hof gefunden. Manche der Toten, die überall verstreut lagen und sich offenbar verzweifelt gewehrt hatten, hatte Gorian daher flüchtig gekannt. Männer, Frauen, Kinder – sie alle waren von Morygors Kreaturen grausam ermordet worden. Selbst das Vieh und die Pferde waren bestialisch dahingemetzelt und von den Eiskrähen auf die ihnen eigene Weise ausgeweidet worden. Und die teilweise mannsgroßen Süßwasserfische im Teich waren starr und tot vom Eis umschlossen.

„Warum nur?“, murmelte er. „Warum diese Mordlust? Warum dieses sinnlose Abschlachten?“

„Weil sie es können“, sagte Beliak. „Einen anderen Grund brauchen Morygors Diener nicht.“

„Aber diese Toten wurden noch nicht einmal zu Frostkriegern gemacht!“

„Nein – dazu ist das Frostreich hier nicht mächtig genug. Ohne Frogyrrs Magie könnten weder die Eiskrähen noch die untoten Orxanier überhaupt hier existieren, und die größte Hoffnung, die wir uns im Moment machen können, ist die, dass diese Kraft allmählich schwindet und der achtbeinige Eisbär am Ende doch noch unverrichteter Dinge in den Norden zurückkehren muss.“ Beliak deutete wie beiläufig zur Sonne. „Aber der Schattenbringer wird dafür sorgen, dass er sich bald sogar in Eldosien wohlfühlen wird.“

Eldosien war das südlichste aller heiligreichischen Herzogtümer, in dem es trotz des Auftauchens des Schattenbringers nur in den Hochgebirgen regelmäßig Schneefall gab. In der Küstenregion am Laramontischen Meer aber herrschte ganzjährig ein mildes Klima, das mehrere Ernten im Jahr erlaubte. Ein Bauer in Edosien sein – so sagten die von der Natur weniger begünstigten Thisilier, wenn sie zum Ausdruck bringen wollten, dass jemand unter äußerst glücklichen Umständen lebte.

Beliak nahm einem der schrecklich zugerichteten Toten die Axt ab, mit der dieser sich bis zum letzten Moment verzweifelt gewehrt haben musste. Der Adh wog die Waffe in der Hand, und obwohl es sich um eine schwere Holzfälleraxt handelte, meinte er: „Etwas zu leicht für meinen Geschmack – aber immer noch besser, als diesen Kreaturen mit nichts als einem kurzen Messer gegenüberzustehen, wenn es hart auf hart kommt.“

Gorian hörte Beliaks Worte nur wie aus weiter Ferne, denn in seinem Inneren sprach wieder die Stimme des Gargoyle zu ihm. „Ich kenne deinen Feind wie kein anderer, denn ich habe ihm gedient. Also wäre meine Hilfe für dich von unschätzbarem Wert!“

Gorian versuchte diesmal gar nicht erst, die Stimme zum Schweigen zu bringen. Und er war sich zeitweilig auch nicht sicher, wer da gerade zu ihm sprach – der Gargoyle Ar-Don oder der Geist von Domrich, dem legendären Meister aus den Reihen des Ordens der Alten Kraft. Aber vielleicht waren beide Wesen ohnehin längst zu einer untrennbaren Einheit verschmolzen.

Was sollte er tun?

„Endlich stellst du die richtige Frage!“, vernahm er wieder die Gedankenstimme. „Ich dachte schon, es wäre hoffnungslos und die Ohren deiner Seele wären gänzlich verschlossen. Siehst du das Grauen, das dich umgibt? Morygor muss bestraft werden. Er muss in seine Schranken verwiesen und vernichtet werden, sonst waren die Opfer Meister Domrichs und deines Vaters umsonst! Ah, warum zögerst du nur? Warum erkennst du nur so schleppend, wer ein Helfer sein könnte und wer in der Lage wäre, dich zu schützen, bis du stark genug bist, aus eigener Kraft zu tun, was immer du für richtig hältst? Du armseliger, zögerlicher Narr. Lass mich dich führen. Du kennst die Stelle, an der dein Vater schon einmal Dinge verborgen hatte ...“

Der Tempel der alten Götter, durchfuhr es Gorian.

„Nein, nicht ganz!“, korrigierte ihn die Geisterstimme, und für einen Moment beunruhigte es Gorian zutiefst, dass Ar-Don offenbar in der Lage war, seine Gedanken zu lesen. Lag das vielleicht an ihm selbst? Hatte er diesem Wesen und seinen Einflüsterungen trotz aller Vorsicht zu viel Raum in seinem Inneren gegeben, sodass es sich dort hatte ausbreiten können? Vielleicht beeinflusste es ihn sogar schon mehr, als er es wahrhaben wollte. „Es ist in der Nähe des Tempels – aber allein würdest du es nicht finden, dafür hat dein Vater gesorgt. Aber ich kann dich hinführen! Und wenn du den Bann löst ...“

Vor Gorians innerem Auge erschien Ar-Don in jener Gestalt, zu der er geworden war, nachdem er Meister Domrich getötet hatte. „Warst du nicht ein viel kleineres Wesen, als du versucht hast, mich umzubringen?“, fragte er den Gargoyle in Gedanken.

„Meine Gestalt ist veränderlich und ebenso die Anteile jener Elemente, die meinen Charakter bilden!“, lautete Ar-Dons Antwort. „Ar-Don ist viele und doch er selbst. Morygor wollte, dass Ar-Don Meister Domrichs Kraft in sich aufnimmt und seine Seele. Aber es sollte nicht zu viel davon erhalten bleiben ... Ah, dieser Schmerz der Erinnerung ...“

Tagtraumartig sah Gorian, wie ein Schatten auf das Mischwesen aus Gargoyle und Meister Domrich fiel. Die Gesichtszüge veränderten sich, und dann wurden sie von Furcht dominiert. Ein Blitz zuckte, ließ das steinerne Wesen in mehrere Einzelteile zerspringen, die sich wimmernd wieder zusammenfanden und durch weitere grellweiße Lichtstrahlen erneut geteilt wurden.

„Sei stark, aber nicht zu stark!“, sagte eine Stimme, die nur Morygor gehören konnte.

Das Wesen, das sich schließlich zusammenfügte, hatte nicht einmal mehr die Größe einer Katze. Es wimmerte, bildete vor lauter Furcht ständig neue Flügel aus, von denen keiner dem anderen glich, und rollte sich dann zusammen, sodass man für einen Moment glauben konnte, nichts weiter als einen gewöhnlichen, durch Wind und Wetter geformten Gesteinsbrocken vor sich zu haben.

Die Bilder vor Gorians innerem Auge verschwammen. Sie verwischten zu einem Chaos unterschiedlicher Farbschattierungen, wobei kaltes Blau und Grau vorherrschten.

„Hilf mir, Gorian, und ich werde dir helfen! Sieh all den Hass, der in mir ist! Den Hass des geschundenen Meisters Domrich, der sich erst entfalten konnte, nachdem dein Vater mich zerschlug, denn dadurch befreite er mich von Morygors Bann ...“

„Wer garantiert mir, dass du Morygor nicht erneut dienen würdest? Wer sagt mir, dass du nicht als Erstes deinen Mordauftrag zu Ende bringst, den du vor sechs Jahren nicht ausführen konntest?“, dachte Gorian.

Zunächst schien ihm Ar-Dons Geist die Antwort auf diese Fragen schuldig zu bleiben. Dann erreichte ein Gedanke von ungewöhnlich hoher Intensität und Überzeugungskraft Gorian. Ein Gedanke, der ihn zumindest für einen Moment jeglichen Zweifel vergessen ließ.

„Meister Domrich schwört dir bei seiner Ehre als Ordensmeister Beistand!“

Beliak wurde plötzlich von Unruhe ergriffen. Er kniete nieder, legte eines seiner großen Ohren auf den Boden und meinte dann plötzlich: „Leichte Bodenerschütterungen ... Das könnten Schritte von Eiskriegern sein!“

Entweder hatte Beliaks Aufmerksamkeit in den letzten Stunden nachgelassen, oder die Eiskrieger hatten all das vermieden, woran ein Adh sie auch über größere Entfernungen hin auszumachen vermochte – jedenfalls waren am Waldrand auf einmal Geräusche zu hören.

Gorian und Beliak liefen zum anderen Ende des Dorfes, wo sich die alte Straße nach Segantia in Richtung Südosten fortsetzte, doch Beliak stutzte plötzlich, und einen kurzen Augenblick später erkannte Gorian auch, weshalb.

Zwischen den Sträuchern kamen mehrere Frostkrieger hervor, allesamt untote Orxanier. Brüllend und ihre Waffen schwingend stürzten sie sofort auf Gorian und Beliak zu.

Der Erste griff Gorian mit wuchtigen Schwertschlägen an. Er führte sein gespaltenes Schwert beidhändig, und gleich die erste Attacke verfehlte den zurückweichenden Gorian nur um Haaresbreite. Eine dichte Folge von Hieben drängte Gorian weiter zurück, während Beliak bereits mit zwei, drei anderen Gegnern in einem Kampf verwickelt war.

Sie wurden umzingelt, und die rauen Rufe der Frostkrieger schallten durch das von den Eiskrähen so furchtbar heimgesuchte Dorf. Gorian wich einem weiteren Hieb aus, der allerdings noch sein Wams in Brusthöhe ritzte. Er taumelte und kam zu Fall, weil sich etwas schlangengleich um seinen Fuß schlang. Es war eine lange Lederpeitsche, wie man sie in Eisrigge und dem Norden Orxaniens zur Bändigung der großen Schlittenwölfe benutzt hatte.

Gorian lag am Boden, von hinten stürzte ein orxanischer Frostkrieger herbei und ließ eine langstielige Doppelklingenaxt herniedersausen, gegen die jedes Scharfrichterbeil im Heiligen Reich wie ein Spielzeug gewirkt hätte. Gorian drehte sich zur Seite, und das Axtblatt grub sich mit ungeheurer Wucht in das Erdreich, das inzwischen wieder auftaute.

Gorian riss den Dolch aus dem Gürtel, dem er den Namen Rächer gegeben hatte. Anscheinend schien es keine Rolle mehr zu spielen, auf welche Weise er umgebracht wurde. Frogyrr hatte offenbar die Devise ausgegeben, Meister Nhorichs Sohn nun endlich um jeden Preis zu töten, nachdem der dafür vorgesehene und genau vorausberechnete Moment ungenutzt verstrichen war. Es ging für Frogyrr nur noch darum, größeren Schaden zu verhindern. Anders war das Verhalten der Frostkrieger nicht zu erklären – denn dass sie ohne Erlaubnis ihrer Mordlust freien Lauf ließen, war nicht anzunehmen.

Gorian schleuderte den Rächer, wie er es gelernt hatte. Seine Augen wurden vollkommen schwarz, er sammelte alles an magischer Kraft, was in ihm war. Noch bevor der Krieger mit dem gespaltenen Schwert erneut auf ihn einschlagen konnte, wurde er von dem Dolch mit solcher Wucht in den Hals getroffen, dass er schwankend einen Schritt zurücktaumelte. Im selben Moment rollte Gorian um die eigene Achse und streckte beide Hände aus.

Rächer kehrte in Gorians Linke zurück – und mit der anderen Hand zog er das gespaltene Schwert an sich, entriss es mithilfe der Alten Kraft dem am Hals verwundeten Frostkrieger, der für einen Augenblick völlig perplex war.

Der Untote brüllte laut auf. Das Sternenmetall, aus dem Rächers Klinge geschmiedet war, war für ihn ebenso unerträglich wie für Frogyrr, als ihm Sternenklinge das Auge genommen hatte. Doch dann riss er zwei kleinere Wurfäxte aus dem breiten Gürtel hervor, die allerdings nur im Vergleich zur Körpergröße des Orxaniers klein wirkten.

Mit einem schnellen Schnitt kappte Gorian die Peitschenschlinge, die um seinem Fuß geschlungen war, und ließ sie mittels der Alten Kraft so zurückschnellen, dass sie sich um den Hals des Angreifers legte, dann sprang er auf die Beine und wich einem Pfeil aus, der statt ihm den Frostkrieger traf, dem er das Schwert abgenommen hatte.

Gorian stieß einen Kraftschrei aus und ließ die im Verhältnis zu seinen menschlichen Körpermaßen monströs wirkende gespaltene Schwertklinge durch die Luft sausen. Er hielt das Schwert dabei nur mit der rechten Hand, und Muskelkraft allein hätte ihn diese Waffe kaum heben, geschweige denn auf diese Weise führen lassen. Den Rächer hielt er in der Linken.

Beide Klingen umflorte ein bläuliches Licht, wenn er sie blitzschnell durch die Luft wirbelte. Eine Wurfaxt wehrte er mit dem Schwert ab und ebenso mehrere Speere und Pfeile; Letztere wurden mit Eisrigger Langbögen abgeschossen, und den orxanischen Frostkriegern war anzumerken, dass ihnen der Umgang damit fremd war, doch ihr oberster Kriegsherr hatte ihnen diese Bewaffnung vorgeschrieben.

Gorian spürte, wie die Alte Kraft durch seinen Körper floss. Sie erlaubte ihm, das schwere Orxanier-Schwert mit einer Leichtigkeit zu führen, wie es ihm nicht einmal bei den Übungen mit seinem Vater möglich gewesen wäre. Die Frostkrieger bildeten einen Kreis um ihn, hielten aber Abstand, denn einige von ihnen waren bereits vom Kampf schwer gezeichnet. Sie umlauerten ihn wie ein Rudel Wölfe, die darauf bauten, dass das Beutetier früher oder später der Erschöpfung anheim fiel.

Ein Bogen wurde gespannt, ein Pfeil zischte dicht an Gorians Kopf vorbei, der genau im richtigen Moment eine leichte Seitwärtsbewegung gemacht hatte, denn Gorian hatte den Angriff unmittelbar vorausgeahnt und dann blitzschnell reagiert, als er die entsprechende Bewegung in den Augenwinkeln wahrgenommen hatte. Ein ausgebildeter Meister, so wusste er, hätte nicht mal darauf zu achten brauchen. Da gab es noch so einiges, was seine noch verhältnismäßig bescheidenen Fähigkeiten von denen seines Vaters unterschied.

Oder von denen Meister Domrichs!, echote ein Gedanke in seinem Kopf.

„Lass mich dir helfen!“, wisperte jene Stimme, die er im nächsten Moment mit einem durchdringenden Kraftschrei zu vertreiben versuchte.

Gorian schnellte nach vorn, holte mit dem Orxanier-Schwert aus und ließ es wie eine Sense durch die Luft schneiden. Mit dem Dolch wehrte er gleichzeitig einen Speer ab; die Klinge aus Sternenmetall traf so auf das Eisen der Speerspitze, dass bläuliche Funken sprühten und die Wurfwaffe zur Seite gelenkt wurde, sodass sie sich einem Frostkrieger in den Schädel bohrte. Dieser stürzte rücklings zu Boden und brüllte wütend.

Beliak war eingekreist und wurde von mehreren Frostkriegern so sehr bedrängt, dass es nur noch eine Frage von Augenblicken war, bis der erste Streich eines Schwertes oder einer Axt ihn treffen musste. Schon senste die Klinge einer Axt in Halshöhe auf den gnomenhaften Adh zu.

Doch auf einmal war er in der Erde verschwunden, tauchte aber wenige Schritte entfernt im Rücken seines Gegners wieder auf, um diesen mit einer raschen Folge von Axthieben niederzustrecken. Hiebe, die den Frostkrieger so furchtbar trafen, dass selbst er nicht mehr kampffähig war.

Ein anderer seiner Gegner hatte bereits die Orxanier-Klinge gehoben und ließ sie einem Fallbeil gleich herniedersausen. Doch die Klinge traf auf den Boden und sank in den matschigen Untergrund ein, denn der Adh war wieder verschwunden. Offenbar befanden sich an dieser Stelle sehr viele Zugänge zu jener verborgenen Welt, welche die Adhe das Untererdreich nannten.

Die Frostkrieger brüllten wütend auf. Mehrere von ihnen stachen mit ihren Schwertern tief in den aufgeweichten Boden. Mit einem knarrenden Geräusch gefror alles innerhalb von Augenblicken. Vor diesem magischen Frost boten selbst die näheren Bereiche des Untererdreichs keine Zuflucht.

Um nicht zu erstarren, wuchs der Adh schleunigst wieder aus dem Boden hervor. Das gelang ihm jedoch gerade zur Hälfte, dann steckte er bis zum Bauchnabel in der gefrierenden Erde fest und war den Angreifern nahezu hilflos ausgeliefert. Den Oberkörper jedoch konnte er noch bewegen, ließ die Axt kreisen und hielt die Frostkrieger damit auf Abstand.

Hämisches Gelächter war zu hören. Schon in ihrem vorherigen Leben als orxanische Tiermenschen hatten die meisten von ihnen eine tiefe Abneigung gegen Adhe gehegt, und ihre untoten Schatten fanden Freude daran, einen von ihnen zu quälen.

Gorian kämpfte sich unterdessen in Beliaks Richtung vor. Mit einer Wut, wie er sie nie zuvor gekannt hatte, schlug er um sich. Alles, was an magischer Kraft in ihm war, hatte er mobilisiert, und es war ihm gleichgültig, dass er sie völlig aufbrauchen und dann zu Tode erschöpft zusammenbrechen würde.

Irgendwo in seinem Hinterkopf vernahm er eine Mahnung, die sein Vater irgendwann einmal geäußert hatte. Eine Mahnung, die Alte Kraft nur in Maßen einzusetzen und immer etwas zurückzubehalten. Aber das erschien ihm wie eine Erinnerung aus einem anderen Leben und hatte in diesen Momenten keine Gültigkeit mehr.

Eisen klirrte auf Eisen. Gorian nahm kaum Rücksicht auf sich selbst, und manchmal verfehlten ihn die Hiebe seiner Gegner nur ganz knapp. Doch nun reagierte er nicht mehr nur auf ihre Angriffe, um diese mit dem Rächer oder dem gespaltenen Orxanier-Schwert zu parieren. Er griff selbst an, trieb die Frostkrieger zurück und schlug so heftig gegen die Schwertklinge eines Gegners, dass beide Schwerter zerbrachen.

Gorian kämpfte mit der abgebrochenen Klinge weiter, hieb dem nächsten Frostkrieger den Kopf ab, während er dem Schlag eines anderen Angreifers nur knapp entkam.

Die Vor-Sicht, das Vorahnen der nächsten gegnerischen Handlung nach Art der Schwertmeister, setzte Gorian kaum noch ein, sondern verließ sich auf seine Schnelligkeit und sein Geschick. Der Gedanke, nach seinem Vater und allen, die ihm teuer gewesen waren, auch noch Beliak, seinen letzten Gefährten, durch die Schergen des Frostreichs zu verlieren, drohte ihm schier den Verstand zu rauben.

––––––––




Durchdringendes Krächzen drang vom Himmel. Ein Schwarm zurückkehrender Eiskrähen kreiste über dem Dorf.

Die Frostkrieger ergötzten sich offenbar an dem grausamen Spiel, das sie mit dem festgeeisten Beliak trieben. Einer von ihnen deutete empor und knurrte ein paar Worte in orxanischer Sprache, die wohl so viel bedeuteten wie: „Lassen wir ihnen diese Mahlzeit!“

Innerhalb von Augenblicken hatten sich mehr als Tausend dieser albinoiden Vögel über dem Dorf versammelt.

Gorian wurde durch ihr Krächzen kurz abgelenkt und war einen Augenblick unaufmerksam. Zu spät wehrte er den Axthieb eines Gegners ab. Der Stiel erwischte ihn noch hart an der Schulter und warf ihn zu Boden.

Im selben Moment stürzte der gierige Vogelschwarm herab und teilte sich dabei auf: Eine Hälfte der fliegenden Höllenbrut stürzte sich auf Beliak, die andere auf Gorian.

„Ich hätte dir ein so guter Helfer sein können!“, dröhnte die Gedankenstimme des Gargoyle in Gorians Kopf. „Bedauerlich, wirklich bedauerlich, dass du ein so elender Narr bist, Gorian ...“



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