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Kapitel 8: Geister

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Ein Schrei gellte.

Ein Schrei, der so heftig war, dass er ohne Weiteres ein Kraftschrei eines Schwertmeisters des Ordens hätte sein können. Doch es war der Adh, der ihn ausstieß, als sich mehrere hundert Eiskrähen auf ihn stürzten, um ihn mit ihren Schnäbel zu zerhacken und bei lebendigem Leibe zumindest jenen Teil seines Körpers zu zerfleischen, der aus dem festgefrorenen Erdreich ragte. Mit einem letzten, verzweifelten Rundumschlag seiner Axt traf er mindestens zwei der kleinen Angreifer mit der Schneide und drei oder vier weitere mit dem Stiel, die daraufhin benommen zu Boden taumelten.

Aber gegen den Angriff so vieler Vögel konnte sich ein Kämpfer mit einer Axt nicht verteidigen. Nicht mal, wenn er über die Kräfte eines Adh verfügte und die klobige, schwere Waffe schneller schwingen konnte, als es jedem Menschen möglich gewesen wäre.

Gorian, der ebenfalls von den geflügelten Bestien bedrängt wurde, ließ das abgebrochene Orxanier-Schwert und den Rächer ebenfalls durch die Luft schnellen, um die kleinen Angreifer abzuwehren, während er zugleich versuchte, mit der Alten Kraft die Flugbahnen der Vögel abzulenken. Doch das war nicht so einfach. Seine Ausbildung war noch nicht weit genug fortgeschritten, um das wirklich zu beherrschen. Und so trafen ihn die ersten Schnabelhiebe. Es waren einfach zu viele Angreifer.

In diesem Augenblick stieg aus dem nahen Bach ein dichter Nebel auf und breitete sich sehr schnell im Dorf aus. Er war sehr feucht und sehr kalt. Innerhalb kürzester Zeit hatte er alles eingehüllt. Die Eiskrähen erstarrten augenblicklich, ihre innere Kälte ließ den Nebel sofort gefrieren, und gefangen in einem dünnen Eismantel fielen sie wie Steine zu Boden.

Ähnliches geschah mit den Frostkriegern, die Feuchtigkeit des Nebels ließ sie innerhalb von Herzschlägen in eisigen Panzern erstarren. Manche der Untoten versuchten sich noch zu bewegen, was nur dazu führte, dass die Betreffenden wie Skulpturen zu Boden kippten.

Innerhalb sehr kurzer Zeit war kein Gegner mehr da, der Gorian gefährlich werden konnte.

„Na los, worauf wartest du? Hilf mir!“, rief Beliak, der noch immer in der Erde feststeckte. „Die Wassergeister werden uns diese untote Frostbrut nicht allzu lange vom Leib halten können! Und auch ansonsten wäre es ganz nett, wenn du mir aus der Klemme helfen würdest!“

Ein Ruck ging durch Gorian. Hatte der Adh die Wassergeister gerufen? Nun, es war im Moment gleichgültig, weshalb sich diese bis dahin für Gorians völlig unsichtbaren Wesenheiten dazu entschlossen hatten, ihnen beizustehen, während es ihnen offenbar weitaus weniger ausgemacht hatte, mit anzusehen, wie jeder Mann, jede Frau, jedes Kind und sogar die Hunde und Pferde im Dorf abgeschlachtet worden waren.

Es ging zunächst einmal darum, die Möglichkeit zum Überleben zu nutzen, die ein glückliches Schicksal plötzlich eröffnet hatte.

Gorian ließ das zerborstene Schwert fallen und steckte den Dolch Rächer hinter den Gürtel, dann lief er zu Beliak und rempelte dabei einen der erstarrten Frostkrieger an, dessen grimmige Züge hinter einer Eisschicht gefroren waren und der krachend zu Boden fiel.

„Der Frost wurde mit Frost bekämpft“, stieß Gorian hervor.

„Nein, das ist Unsinn!“, entgegnete Beliak. „Es war die eigene, den Frostgeschöpfen innewohnende Kälte, die sie hat erstarren lassen und die von den Wassergeistern nur genutzt wurde.“

Gorian blickte auf den immer noch bis zur Hüfte im gefrorenen Boden steckenden Adh hinab. „Und dir können sie nicht helfen?“

„Ein einfacher Wärmezauber statt dummes Gequatsche wäre jetzt nicht schlecht!“

„Wärmezauber? Hör mal, ich bin kein Magiemeister, und alles, was mir mein Vater beigebracht hat, ist ...“

„...diese so genannte Alte Kraft! Ich weiß! Lenk so viel davon wie möglich in den Boden, dann komme ich hier bestimmt raus! Schnell, bevor sich unsere Feinde wieder rühren können und erneut versuchen, uns umzubringen!“

„Wie ...?“ Gorian sprach nicht weiter. Stattdessen erschien ihm auf einmal alles ganz selbstverständlich. Er nahm den Rächer und berührte damit den Boden, der so steinhart gefroren war wie nach einem monatelangen Frosteinbruch. Es war Magie in dieser gefrorenen Erde enthalten, wahrscheinlich sogar ziemlich reichlich. Und diese Kräfte musste er austreiben. Insofern war Beliaks Gedanke gar nicht so abwegig.

Gorian sammelte die Alte Kraft. Viel war es nicht mehr, was er davon noch in sich spürte. Der Kampf mit den Geschöpfen des Frostreichs hatte ihn in jeder Hinsicht erschöpft. Auch und vor allem galt das für seine magischen Kräfte, ohne die er zweifellos nicht mehr am Leben gewesen wäre.

Gorians Augen, die gerade erst ihre normale meergrüne Farbe zurückerhalten hatten, wurden wieder pechschwarz wie die Nacht. Ein Blitz zuckte aus dem Boden, die Klinge aus Sternenmetall entlang und dann Gorians Arm empor. Er fühlte, wie die Welle einer unheimlichen kalten Kraft ihn erfasste und bis ins Mark frösteln ließ. Der auf magische Weise erzeugte Bodenfrost löste sich so schnell auf, dass man zusehen konnte.

Beliak schwang sich aus dem aufgeweichten Erdreich, griff nach Gorians rechten Arm und riss ihn hoch, sodass der Rächer nicht mehr den Boden berührte. „Nicht übertreiben“, mahnte er. „Schließlich willst du den magischen Frost ja nicht völlig in dich selbst lenken.“

Gorian zitterte. Seine Lippen waren blau geworden, und er fühlte sich, als hätte er lange Zeit in einem Zuber mit Eiswasser zugebracht. Für einen Moment glaubte er schon, selbst zum Eisblock geworden zu sein.

„Alles in Ordnung?“, fragte Beliak, doch Gorian war im Moment unfähig, auch nur ein einziges Wort hervorzubringen. Er nickte nur.

Sie verließen das Dorf. Gorian blickte noch einmal kurz zurück. Einer der Frostkrieger rollte sich auf dem Boden herum, war aber nach wie vor starr wie eine Statue. Dennoch, die Wirkung des Zaubers, der ihn außer Gefecht gesetzt hatte, schwand bereits.

Bevor sie das Dorf endgültig verließen, um im Unterholz zu verschwinden, blieb Beliak noch einmal stehen. Gorian war ihm mit Mühe gefolgt. Die Kälte, die sich in ihm breitgemacht hatte, verflüchtigte sich nur allmählich, und er musste das Zittern noch immer willentlich unterdrücken, sodass ihm die Bewegungen schwerfielen.

Beliak hob die Hände, fast wie bei einem Gebet oder einer rituellen Geste. Dazu sprach er ein paar Worte in der Sprache der Adhe.

„Man muss denen, die einem geholfen haben, Dankbarkeit erweisen“, erklärte er Gorian anschließend.

„Du meinst die Wassergeister?“

„Ja.“

„Wieso haben sie uns geholfen, den Dorfbewohnern aber nicht?“

„Ist das nicht eher eine philosophische Frage? Wir sollten zusehen, dass wir überleben, und uns nicht mit so unbedeutenden Kleinigkeiten aufhalten. Allerdings ... Man sagt, dass die Wassergeister die Wege des Schicksals leichter zu erkennen vermögen als die meisten anderen Wesen. Liegt an der Ähnlichkeit der Schicksalslinien mit sich verzweigenden Flüssen, so heißt es in den Adhe-Überlieferungen.“

„Und was hat das mit mir zu tun?“, fragte Gorian.

„Die Wassergeister haben es mir nicht verraten, aber vielleicht sehen auch sie in dir jemanden, der in der Zukunft eine wichtige Rolle spielt, und sie haben uns deswegen geholfen, wer weiß.“

––––––––




Gorian war sicher, den Tempel der Alten Götter von diesem Dorf aus problemlos finden zu können.

„Vorwärts!“, rief Beliak, als Gorian ihm zu langsam lief. „Oder muss ein kleiner Mann wie ich einen zukünftigen Schwertmeister etwa auf den Schultern tragen?“ Der Adh lege ein ziemliches Tempo vor, das man ihm mit seinen kurzen Beinen gar nicht zutraute. Feixend fügte er hinzu: „Mal vorausgesetzt, du verfolgst immer noch deinen Plan, mit sechzehn Sommern dem Orden der Alten Kraft beizutreten.“

Seltsamerweise war sich Gorian in diesem Punkt gar nicht mehr so sicher, wie er es noch vor Stunden gewesen war. Der Angriff der Schergen des Frostreichs hatte alles verändert – und vor allem auch der grausame Tod seines Vaters. Zuvor war Gorian wild entschlossen gewesen, sich vom Orden weiter ausbilden zu lassen, notfalls auch gegen Nhorichs Willen. Nun aber hatte er das Gefühl, ihm etwas schuldig zu sein, und er fragte sich, ob die Gründe, die seinen Vater dazu bewogen hatten, den Orden als verderbt anzusehen, nicht doch stichhaltiger waren, als er zunächst gedacht hatte. Andererseits – welche Macht außer dem Orden kam als Gegengewicht zu Morygor und seinem kalten Reich in Frage?

Nun, die Entscheidung darüber stand noch nicht an. Im Augenblick ging es um Näherliegendes.

Der Adh blieb stehen, weil sich der Weg durch den Wald gabelte. Sie befanden sich auf einem Trampelpfad, denn der alten Straße nach Segantia folgten sie schon lange nicht mehr, und den Weg zum Tempel kannte nur Gorian. Beliak sah ihn fragend an. „Und nun?“

Gorian atmete tief durch.

„Es ist noch nicht zu spät, Gorian. Lass dir helfen“, wisperte Ar-Dons Stimme wieder in Gorians Gedanken. Der Gargoyle schien seine Versuche, ihn zu beeinflussen, einfach nicht aufgeben zu wollen. „Du brauchst mich, um zu überleben. Deine Verfolger werden bald aus ihrer Erstarrung erwachen und sich dann wieder an deine Fersen heften ...“

Dass Ar-Don offenbar durch seine Augen sehen und alles wahrnehmen konnte, was ihm widerfuhr, beunruhigte Gorian zunehmend. Achte darauf, wessen Gedanken du Einlass in deine Seele gewährst! So lautete eines der Axiome des Ordens der Alten Kraft, das sich auf spezielle Übungen bezog, die eine geistige Beeinflussung durch Magie verhindern sollten.

Als Gorian diese Zeilen zum ersten Mal gelesen hatte, waren sie ihm rätselhaft erschienen, kryptische Weisheiten aus einer vergangenen Zeit, deren Bedeutung niemandem mehr wirklich klar zu sein schien. Nun aber glaubte Gorian zu begreifen, was damit gemeint war.

Er selbst war es, der es zugelassen hatte, dass der Geist des Gargoyle zu ihm sprach. Vielleicht, weil er zu schwach gewesen war, um diesen Einfluss von Anfang an abzuwehren. Vielleicht aber auch, weil er dieser Stimme insgeheim recht geben musste. Zumindest zu einem Teil.

Es war, als würde der Gargoyle auch all seine Gedanken lesen, denn wie um Gorians letzte Überlegungen zu bestätigen, sagte er: „Ohne mich wirst du es nicht schaffen, Gorian. Das weißt du im Grunde selbst, und deswegen schenkst du mir dein inneres Ohr, deswegen lauschst du aufmerksam jedem einzelnen meiner Gedanken, und deswegen sind wir uns inzwischen so nahe, dass ich alles sehe, alles empfinde, alles erleide, was dir geschieht und zustößt. Ich führe dich. Und ich rette dich. Aber du musst es zulassen!“

Gorian streckte den Arm aus. „In diese Richtung!“, bestimmte er.

„Meine Güte, wenn du jedes Mal so lange brauchst, um dich bei einer Weggabelung an die richtige Richtung zu erinnern, werden uns die aufgetauten Eiskrähen zerhackt haben, lange bevor wir diesen verfluchten Tempel erreichen“, maulte Beliak.

––––––––




Sie liefen durch den Wald, und Gorian achtete nun darauf, die Führung zu behalten. Er spürte seine Beine und Füße kaum noch, und zeitweilig hatte er das Gefühl, nur noch zu den allernötigsten Gedanken fähig zu sein, denn eine bleierne Schwere machte sich schleichend in ihm breit. Er wurde immer müder, aber sie konnten sich allenfalls kurze Pausen erlauben, zu dicht waren ihnen die Verfolger auf den Fersen. Und davon abgesehen mussten sie damit rechnen, auf weitere Patrouillen der Frostkrieger zu stoßen.

Während einer der kurzen Pausen, die sie einlegten und in denen Beliak von den Wassergeistern eines anderen Bachs Neuigkeiten zu erfahren versuchte, was sie ihm allerdings verweigerten, versuchte sich Gorian mit Magie zu kräftigen. Sein Vater hatte ihm ein paar entsprechende Übungen beigebracht und ihm Zauberformeln gelehrt, welche die Müdigkeit zumindest für eine Weile zurückdrängten. Aber auch hinsichtlich dieser Disziplin war Gorian noch weit von einer bescheidenen Meisterschaft entfernt.

Seit der Orden der Alten Kraft gegen Morygors Schergen kämpfte, sannen die Schwertmeister verstärkt nach Möglichkeiten, die Macht des Schlafes über den Menschen zu brechen. Schließlich bestand einer der entscheidenden Vorteile, welche die untoten Frostkrieger auf dem Schlachtfeld hatten, darin, dass sie nie ermüdeten. Und so hatten die Ordensmeister in diese Richtung Experimente mit verschiedenen Formen der Magie angestellt. Einige hatten Substanzen zu sich genommen, die das Bedürfnis nach Schlaf zurückdrängen sollten, während andere dieses Ziel mit geistigen Konzentrationsübungen erreichen wollten. Auch waren beide Methoden miteinander kombiniert worden, allerdings ohne einen wirklich durchschlagenden Erfolg zu erzielen.

Zumindest keinen Erfolg, der ohne teils fatale Nebenwirkungen gewesen wäre. Gorian erinnerte sich daran, was ihm sein Vater darüber erzählt hatte, dass etwa diejenigen, die diese Substanzen zu sich genommen hatten, sich allmählich verändert hatten. Die Betreffenden waren geradezu bösartig geworden und gleichgültig gegenüber den hohen Idealen des Ordens. Als man die Gefahr erkannt hatte, waren die Versuche zwar eingeschränkt worden, man hatte sie aber nie völlig aufgegeben.

Für Nhorich war dies ein Grund von vielen gewesen, sich vom Orden abzuwenden. Den Schlaf völlig zu bannen war offensichtlich nur zu einem sehr hohen Preis möglich, auch dann, wenn dafür lediglich geistige Übungen angewendet wurden.

Dennoch hatte Nhorich seinem Sohn gezeigt, wie man die Alte Kraft dafür einsetzen konnte, ihn aber eindringlich ermahnt, dies nur in allergrößter Not und für eine begrenzte Zeit zu tun. „Diejenigen, die den Schlaf zu lange zurückgedrängt hatten, wurden, wie sich zeigte, leichter zu Opfern magischer Einflüsterungen und Manipulationen“, echoten Nhorichs Worte in Gorians Erinnerungen wider. „Manche wurden gar zu Verrätern – und einige von ihnen sind es noch und wandeln weiterhin unerkannt unter den angesehenen Meistern der fünf Häuser.“

War das der Grund, dass sich Ar-Dons Stimme wieder mit dieser Vehemenz bei ihm meldete? Schwächten der Schlafentzug und die Ermüdung Gorian auch geistig so sehr, dass der Gargoyle den Moment für einen erneuten Manipulationsversuch für vielversprechend hielt?

Na warte!, durchfuhr es Gorian zornig, denn der Gedanke, durch ein fremdes Wesen auf irgendeine Weise beeinflusst zu werden, entfachte Wut in ihm. So schwach, wie du glaubst, bin ich nicht! Schließlich bin ich am Tag des herabstürzenden Sternenmetalls geboren worden, und selbst Morygor hat vor dem Verlauf meiner Schicksalslinie so viel Angst, dass er einen der Frostgötter ausgesendet hat, mich zu töten!

„Oh, du Narr! Du armer, verbohrter Narr! Wenn du glaubst, dich dem Frostreich ohne meine Hilfe widersetzen zu können, irrst du dich gewaltig! Selbstüberschätzung - ah, das war auch unser Fehler!“

„Unser?“, gab Gorian in Gedanken zurück. Eigentlich widerstrebte es ihm, auf dieser Ebene mit Ar-Dons Geist zu kommunizieren, denn immerhin war der Gargoyle gegen seinen Willen in sein Inneres eingedrungen, und er empfand die Gedanken dieses Wesens als etwas, das dort nicht hingehörte.

„Ar-Don... Meister Domrich... Ich bin viele“, lautete die Antwort. „Viele, die dir helfen wollen. Viele, die dir den rechten Weg weisen können...“

Und auf einmal erschien mit überwältigender Kraft ein Bild des Tempels der alten Götter vor Gorians innerem Auge – allerdings sah er ihn aus einer Perspektive, wie er ihn bei seinem ersten und einzigen Besuch auf jener Lichtung nicht zu Gesicht bekommen hatte. Es musste sich um die Rückseite des Tempels handeln, und Gorian gewahrte eine Öffnung im verfallenden Mauerwerk, etwa so groß wie ein menschlicher Kopf, bei der allerdings nicht zu erkennen war, ob dort irgendwann einmal Steine herausgeschlagen worden waren oder ob sie von den Erbauern des Tempels so angelegt worden war.

Als Gorian den Tempel zusammen mit seinem Vater vor ungefähr sechs Jahren zum ersten Mal betreten hatte, um die Schwerter Sternenklinge und Schattenstich aus ihrem Versteck zu holen, hatte Gorian die Öffnung nicht bemerkt. Offenbar war dies der Blickwinkel, den Ar-Don von seinem Grab aus auf den Tempel hatte.

Vater muss seine Bruchstücke tatsächlich ganz in der Nähe des Bauwerks vergraben haben, erkannte Gorian. Und zwar in einem Abstand, der nicht mehr als fünfzig Schritte beträgt.

Und offenbar konnte Ar-Don den normalerweise unsichtbaren Tempel sehen – sofern das der richtige Ausdruck war, denn sehr wahrscheinlich nahm Ar-Don seine Umgebung – zumal in seinem momentanen Zustand – in erster Linie mit magischen Sinnen und nicht mit Augen und Ohren wahr.

Gorian blieb stehen. Hatte dieses Wesen ihn etwa bereits erfolgreich beeinflusst? War ihm der Tempel der alten Götter nur deswegen als aussichtsreichste Möglichkeit erschienen, sich zumindest für den Augenblick vor den Schergen des Frostreichs zu verbergen, weil Ar-Don ihm das eingeflüstert hatte?

„Hey, was ist los?“, drang Beliaks Stimme in seine Gedanken. „Den Weg vergessen?“

„Nein ...“

„Was dann?“

Ein Krächzen ertönte aus einer der Baumkronen. Eine Eiskrähe hatte sich dort unbemerkt niedergelassen und blickte die beiden Flüchtenden mit ihren albinohaften roten Augen unverwandt an.

„Verflucht und zugenäht, bei allen Dämonen des glühenden Tiefen-Untererdreichs!“, entfuhr es Beliak, der seine Axt mit beiden Händen fester umfasste, obwohl ihm klar war, dass er mit dieser Waffe nichts gegen diesen Kundschafter des Frostreichs ausrichten konnte. Es war gleichgültig, ob es sich bei diesem Krähenvogel um eines jener Bestien handelte, die sie im Dorf angegriffen hatten und daraufhin von den Wassergeistern in eisige Starre versetzt worden waren, oder um ein anderes Tier, das im Auftrag des bärengestaltigen Frogyrr auf Erkundungsflug war – nun mussten sie damit rechnen, in Kürze wieder angegriffen zu werden.

Der Vogel breitete die Flügel aus, sein Krächzen klang triumphierend, beinahe wie höhnisches Gelächter. Dann stob er davon.

Gorian überlegte nicht lange. Er riss den Rächer aus dem Gürtel und schleuderte ihn so, wie sein Vater es ihm beigebracht hatte. Der Kraftschrei, den er dazu ausstieß, war kurz, aber durchdringend, und seine Augen wurden für einen Moment vollkommen schwarz.

Der Dolch traf den Vogel, der ein letztes Mal kreischte und dann zu Boden fiel, während die Waffe in Gorians Hand zurückkehrte. Krähenblut troff von der Klinge.

Eiskrähen waren im Gegensatz zu den Frostkriegern nicht untot, sondern ursprüngliche Bewohner der nördlichen Länder, denen Morygor und die Eisgötter ihren Willen aufzwangen, offenbar weil sie geistig leicht zu beeinflussen waren.

„Alle Achtung, du wirst immer zielsicherer“, lobte Beliak. „Dein Vater wäre zweifellos stolz auf dich – aber ich fürchte, dieser Wurf wird uns nur einen kurzen Aufschub gewähren. Vermutlich hat dieses Tier sogar alles, was es sah, bereits seinem Herrn auf geistigem Weg mitgeteilt.“ Beliak seufzte laut, dann ging er auf die Knie, beugte sich nieder und presste das rechte seiner riesigen Ohren gegen den Boden. „Immerhin, das Trampeln einer Horde orxanischer Untoter ist noch nicht zu vernehmen“, sagte er schließlich erleichtert. „Also los! Auf zu diesem Tempel!“

„Nein!“, sagte Gorian entschieden.

„Wie bitte?“ Beliak erhob sich und sah ihn geradezu entgeistert an. Sein ohnehin sehr ausdrucksstarkes Adh-Gesicht spiegelte Fassungslosigkeit wider. „Das ist ein Scherz, oder?“

„Das nicht. Aber ich kann dir das jetzt nicht erklären.“

„Das wirst du aber müssen. Und noch besser wäre, wenn du auch noch einen anderen Vorschlag hättest, wo wir uns verbergen können. Wenn du denkst, wir könnten einfach noch mal in der Tiefe verschwinden, irrst du dich. Ein weiterer Aufenthalt im Untererdreich würde dir nämlich nicht besonders gut bekommen, so kurz, nachdem du schon einmal für bedenklich lange Zeit dort unten warst.“

„Es ist besser, als zum Tempel zu gehen“, gab sich Gorian überzeugt.

„Wieso?“

„Du erinnerst dich an die Nacht, als die Schattenreiter den Hof angriffen?“

Beliak nickte. „Natürlich.“

„Den Gargoyle, den sie mitbrachten und der mich damals zu töten versuchte, hat mein Vater in der Nähe des Tempels vergraben und mit einem Bann belegt. Jetzt vernehme ich die Stimme seines Geistes in meinem Kopf. Er versucht mich zu beeinflussen, verspricht, mir zu helfen, wenn ich ihn ausgrabe und den Bann von ihm nehme.“

„Könntest du das denn?“

„Ar-Don ist jedenfalls dieser Meinung.“

„Ar-Don? Ist das sein Name?“

„Ich sollte ihn gar nicht aussprechen. Ein Name ist Macht, steht in den Axiomen des Ordens der Alten Kraft.“

„Ich habe es nie verstanden, dass ein gesunder Junge wie du seine Nase so oft in staubige Bücher steckt“, sagte Beliak kopfschüttelnd.

„Begreifst du nicht? Dieses Wesen will unbedingt, dass ich zu diesem Tempel gehe!“, sagte Gorian. „Er bietet mir seine Unterstützung, aber vielleicht ist er immer noch Morygors Diener und will mich nur in eine Falle der Frostkrieger locken.“

„So viel Raffinesse traust ihm zu?“

„Ja.“

„Das ist aus verschiedenen Gründen unlogisch, Gorian. Und der wichtigste ist, dass dein Vater in diesem Tempel doch die beiden Schwerter aus Sternenmetall verbarg. Jedenfalls hast du mir das erzählt.“

Gorian nickte. „Das trifft auch zu!“

„Denkst du wirklich, er hätte einen Ort gewählt, den die Frostkrieger so ohne Weiteres betreten könnten? Er muss doch davon ausgegangen sein, dass Morygors Schergen dort die Schwerter nicht finden, dass sie dort trotz all der magischen Macht, über die Morygor zweifellos verfügt, vor ihm und seinen Kreaturen verborgen waren. Nein, es macht keinen Sinn, dass du dorthin gelockt werden sollst, denn die Frostkrieger werden dich dort nicht finden können. Eher könnte man annehmen, dass dein Vater beeinflusst wurde, die Schwerter von dort fortzubringen, damit sie in Morygors Besitz geraten, was ja auch geschehen ist.“

Gorian schüttelte den Kopf. „Was ich auch tue, es könnte ein schrecklicher Fehler sein!“

„Darum versuche gar nicht erst, das Schicksal vorauszukalkulieren. Das ist nicht einmal Morygor gelungen, sonst wärst du jetzt tot.“

Hatte er diesen Rat nicht schon einmal gehört? Vielleicht entsprach er tatsächlich der Wahrheit.

Beliak legte ihm eine seiner mächtigen Pranken auf die Schulter. „Ob du diesen Gargoyle wieder aus seinem Grab holst, weil er dir zu helfen verspricht, oder nicht, ist ganz allein deine Entscheidung. Ich weiß nicht allzu viel über Gargoyles, aber ich halte es für gut möglich, dass er froh ist, Morygor nicht mehr dienen zu müssen. Er wäre jedenfalls nicht das erste Wesen, dass der Herr der Frostfeste auf die eine oder andere Weise unter seinen Willen presste. Doch das sind alles Dinge, die wir an einem Ort besprechen sollten, wo wir nicht jederzeit von einem Trupp Frostkrieger überrascht werden können.“

„Ich weiß nicht ...“

„Jetzt komm mir nicht damit, dass ich vielleicht auch auf magische Weise beeinflusst werde und nun nichts anderes im Sinn habe, als dich ins Verderben zu führen“, sagte Beliak streng.

Gorian lächelte matt. „Die Ordnung des Polyversums ist offenbar gegen mich.“

„Für Trübsinn ist jetzt keine Zeit. Tut mir leid, aber solche Gedanken können eine Nebenwirkung sein, wenn sich ein Nicht-Adh zu lange im Untererdreich aufhält. Ich hoffe nur, dass sich das bei dir wieder verflüchtigt, sonst wird es schwer für dich werden, deine großen Ziele weiterzuverfolgen.“



Schwertmeister der Magie: Drei Fantasy Sagas auf 2500 Seiten

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