Читать книгу Schwertmeister der Magie: Drei Fantasy Sagas auf 2500 Seiten - Alfred Bekker - Страница 29

Kapitel 10: Retter

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Beliak bot Gorian an, sich für eine Weile hinzulegen und auszuruhen. „Zumindest bis die Sonne aufgeht. Ich werde schon aufpassen, und mit meinen Augen und Ohren ist ja alles in Ordnung. Falls ich irgendwas Ungewöhnliches bemerke, werde ich dich sofort wecken.“

Gorian hatte zunächst Zweifel, ob er sich auf Beliak verlassen konnte, doch er war tatsächlich ziemlich müde, und das Bedürfnis nach Schlaf ließ sich nicht auf ewig zurückdrängen, selbst nicht bei einem in vielen Jahren geschulten Ordensmeister. Irgendwann würde es übermächtig werden. Also war es vielleicht besser, ihm an diesem relativ sicheren Ort nachzugeben.

Das Einzige, wovor er sich ein wenig fürchtete, waren die Träume. Träume, in die sich vielleicht Ar-Don schlich. Aber dem würde er sich ohnehin irgendwann stellen müssen. Er hatte sich fest vorgenommen, dieser Stimme nicht nachzugeben. Unter keinen Umständen. Wie er überhaupt je auf den Gedanken hatte kommen können, dass dieses zwielichtige Wesen als Verbündeter in Frage käme, war ihm völlig schleierhaft. Vielleicht war das schon Ar-Dons andauernder Beeinflussung zuzuschreiben.

Denk nicht nur an Ar-Don, sondern auch an Meister Domrich und das Vermächtnis der Schwertmeister. Ein Vermächtnis, für das auch dein Vater eingetreten ist, obwohl er es im Orden nicht mehr verwirklicht sah...

Gorian verdrängte den Gedanken, von dem er nicht ganz genau wusste, ob es sein eigener oder der des Gargoyles war. In einer Ecke des Tempels ließ er sich nieder und schlief ein, dabei halb gegen die Wand gelehnt.

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Am nächsten Morgen wurde er von den Strahlen der Sonne geweckt. Sie fielen durch eine der Öffnungen im Tempeldach, durch die das Mondlicht auf so besondere Weise den Altar beschien und das Bannzeichen sichtbar gemacht hatte.

Überraschenderweise hatte Gorian völlig traumlos geschlafen und fest wie ein Sein. Die Morgenkühle ließ ihn frösteln. Ein Ruck ging durch seinen Körper. Seine Rechte zuckte instinktiv zum Griff des Rächers, und sein Blick schweifte hastig durch den Raum.

Ein Feuer prasselte auf halbem Weg zwischen dem Ausgang zum Säulenportal und dem Altar. Etwas Rauch stieg auf und kräuselte sich durch die Löcher im Tempeldach. Beliak hockte vor dem Feuer und sah zu Gorian hinüber.

„Wird Zeit, dass du aufstehst.“ Der Adh hielt zwei abgebrochene Äste übers Feuer. An deren Enden befand sich jeweils ein Fladen aus einer teigähnlichen gelbweißen Masse, die sich zusehends braun verfärbte. „Ich habe mir erlaubt, schon mal Frühstück zu besorgen.“

Gorian erhob sich. Seine Schultern schmerzten von seinem harten steinigen Lager. „Es scheint dir wieder gut zu gehen“, meinte er.

„Der Sog ist noch immer da. Die ganze Lichtung und sogar das angrenzende Waldgebiet sind offenbar mit einem Zauber versehen, der alles in die Tiefe zieht, aber nichts daraus hervorkommen lässt.“

„Das war wohl auch die Absicht meines Vaters und zielte auf den Gargoyle ab“, war Gorian überzeugt.

„Nein, nicht nur das“, widersprach Beliak. „Es hat mit der Kultstätte hier zu tun. Dein Vater hat den Ort nur sehr geschickt gewählt, um den Gargoyle für immer und im wahrsten Sinn des Wortes in der Versenkung verschwinden zu lassen. Aber die Erbauer dieser Anlage hatten offenbar schon etwas Ähnliches im Sinn.“

„Du meinst, hier schlummern noch ganz andere Dinge unter der Oberfläche?“

Beliak, zu dem sich Gorian gesellte, zuckte mit den überbreiten Schultern. „Keine Ahnung, aber ich denke eher an etwas anderes. Wusstest du, dass die Alten Götter einst von Menschen gerufen wurden, damit sie verhindern, dass die Adhe aus dem Boden wachsen?“

Gorian war ernsthaft erstaunt. „Davon habe ich nie gehört, weder von meinem Vater noch in der Schule von Twixlum, obwohl der Priester dort nun wirklich eine Vorliebe für alte Geschichten hatte.“

„Nun, so sagen es zumindest unsere Legenden. Allerdings verlangten die Alten Götter einen Preis dafür: Menschenopfer!“

„Die wurden abgeschafft, als sich der Glaube an den Verborgenen Gott verbreitete“, sagte Gorian sinnierend.

Beliak nickte. „Als die Adhe die Gebiete des heutigen Heiligreichs mehr und mehr mieden, wandten sich die Menschen auch von den Alten Göttern ab. Doch dies ist wohl einer der Orte, an denen ihre Magie noch wirkt.“

Gorian deutete auf die Fladen, die Beliak über die Flammen hielt. „Was ist das?“

„Baumbrot. Es quillt aus den Rinden des Baumbrotbaums, der nur noch ganz im Süden des Adhe-Landes wächst – und anderswo, wie es scheint, an recht einsamen Orten. Ich habe den Baum beim Feuerholzsuchen entdeckt. Das Baumbrot wird dir schmecken. Es gibt nichts, was nahrhafter ist; das habe ich selbst schon Oger sagen hören, und du weißt, was die vertilgen können!“

Die Länder der Oger grenzten an das der Adhe, mit denen sie seit langer Zeit verbündet waren. Vereint hatten sie früher gegen die Orxanier gekämpft, aber seit etwa hundertfünfzig Jahren waren vor allem die Frostkrieger die Feinde dieser trollähnlichen Geschöpfe, denn Morygors Schergen stießen mitunter tief in ihre Gebiete vor.

Als Verbündete des heiligreichischen Kaisers kamen die Oger allerdings aus prinzipiellen Gründen nicht in Frage, denn sie galten nach Lehre der Priesterschaft vom Verborgenen Gott als verdammt und sich mit ihnen zu verbünden, hätte bedeutet, ebenfalls der Verdammnis anheimzufallen.

Beliak stand auf und reichte Gorian einen der Äste mit dem dampfenden, braungebrannten Baumbrot. „Hier, probier. Du wirst danach kein anderes Brot mehr essen wollen, das schwöre ich dir bei allen Dämonen des Tiefen-Untererdreichs.“ Und während er selbst gierig in sein Baumbrot biss, trat er zugleich mit seinem riesigen rechten Fuß das Feuer aus.

Auch Gorian nahm einen Bissen von dem Fladen. Es war schmackhafter, als er angenommen hatte, und so schlang er innerhalb kurzer Zeit das ganze Baumbrot herunter und knabberte auch noch die Reste von dem angekohlten Ast.

„Na, sag ich doch!“, freute sich Beliak. „Und da heißt es immer, die Küche der Adhe wäre für Menschen ungenießbar. Das ist ein übles Vorurteil, das wohl noch aus dem Zeitalter der Alten Götter stammt.“

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Kaum hatten sie ihre Mahlzeit beendet, da waren von draußen die kreischenden Laute eines Schwarms Eiskrähen zu hören. Gorian erstarrte, aber Beliak schien es nicht weiter zu beunruhigen. „Davon sind mir bereits einige begegnet, als ich Holz holen war“, verriet er. „Am liebsten wäre ich sofort in der Erde verschwunden, aber wie ich dir ja schon sagte, ist das hier nicht möglich – jedenfalls nicht, wenn man auch wieder an die Oberfläche zurückkehren will. Die Biester haben mich gesehen, aber sobald ich den engeren Bereich um die Lichtung betrat, beachteten sie mich nicht mehr. Sie schwirrten auf mich zu, als wollten sie mich sofort angreifen, und zogen dann plötzlich wieder ab.“ Der Adh zuckte mit den breiten Schultern. „Dieser Ort scheint tatsächlich gut verborgen zu sein.“

Gorian ging zum Portal, durchschritt es und blickte sich um. Mit der Linken umfasste er dabei den Dolch namens Rächer, den er am Gürtel trug, stets bereit, die Waffe herauszureißen und auf einen Angreifer zu schleudern, falls dies notwendig sein sollte.

Ein gutes Dutzend Eiskrähen kreisten in großer Höhe über der Lichtung, auf der der Tempel der Alten Götter stand. Dann senkten die Vögel plötzlich alle auf einmal ihre Flugbahn, so als würden sie von einem einzigen Willen gelenkt, sausten sehr dicht über das Tempeldach hinweg und stoben dann in alle Richtungen davon.

Es war nicht erkennbar, ob sie irgendetwas bemerkt hatten, und Gorian hatte auch keine Ahnung, inwiefern diese Vögel eventuell in der Lage waren, magische Kräfte zu spüren.

Ihn hatten sie jedenfalls ganz offensichtlich nicht bemerkt, obwohl Morygor ganz gewiss in jede Kreatur, die er ausgesandt hatte, ihn zu finden und zu töten, ein nachdrückliches Gedankenbild seiner Gesichtszüge und seiner Gestalt gepflanzt hatte, sodass ihn die Eiskrähen auf jeden Fall hätten erkennen müssen.

Beliak trat ebenfalls ins Freie, rülpste ungeniert und sagte entschuldigend: „Dieser seltsame magische Sog wirkt sich offenbar auch auf die Verträglichkeit des Baumbrots aus.“

„Mir hat es geschmeckt.“

„Worüber grübelst du nach, Gorian?“

„Ich frage mich, wie lange ich mich hier verbergen kann.“

„Sei zufrieden damit, dass du bisher überlebt hast. Und sei nicht zu ungeduldig, was das Erreichen deiner größeren Ziele betrifft. Die Zeit ist vielleicht mehr auf deiner Seite, als du jetzt denken magst.“

„So?“ Er deutete zum Himmel, wo der Schattenbringer als dunkler Fleck die Sonnenscheibe verdüsterte, die milchig und kraftlos wirkte. „Nein, die Zeit arbeitet für Morygor. Denn wenn der Schattenbringer erst mal dafür sorgt, dass kein Sonnenstrahl mehr die Welt erwärmt, werden alle, die sich dem Herrn der Frostfeste vielleicht noch entgegenstellen könnten, elendig erfrieren.“

Beliak ging auf diese unheilvollen Zukunftsvisionen nicht ein. „Eine Weile werden wir jedenfalls hier bleiben“, entschied er. „Die Frostkrieger werden ihre Kraft aufbrauchen, dann ziehen sie unverrichteter Dinge ab. Genau so wird es kommen.“

Gorian lächelte matt. „Ich kann deinen Optimismus nicht teilen“, bekannte er.

„Das ist schade“, meinte Beliak, den Blick hinauf zur Sonne mit ihrem dunklen Fleck gerichtet. „Wer gegen jemanden kämpft, der den Lauf der Gestirne beeinflussen kann, braucht nämlich Optimismus.“

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Die nächsten Stunden brachte Beliak damit zu, Vorräte zu sammeln und sie in den Tempel zu tragen. In erster Linie handelte es sich dabei um Beeren und ein paar kopfgroße Fladen an ungebackenem, frisch aus der Rinde gequollenem Baumbrot. Aber er schleppte auch Feuerholz herbei und Wasser, das er in Kürbissen transportierte, die in der Nähe wuchsen und die er mit seiner Axt halbiert und ausgehöhlt hatte.

Er machte auf Gorian den Eindruck, als würde er sich mit dem Überleben in der Wildnis bestens auskennen. Und während er die Vorräte, das Wasser und das Feuerholz herbeischaffte, pfiff er vergnügt immerzu dieselben dissonanten Tonfolgen vor sich hin. Bei der Melodie handelte es sich um eines der berüchtigten Lieder der Adhe, wie er Gorian erklärte. Gorian kannte diese Lieder natürlich. Seit die ersten Adhe auf Nhorichs Hof eine Anstellung gefunden hatten, waren dort ihre schrägen Weisen zu hören gewesen, und Gorian hatte sich immer gefragt, wie es sein konnte, dass sich Wesen mit so großen und offenkundig auch guten Ohren wie die Adhe durch das völlige Fehlen jeglichen Sinns für Harmonie und Rhythmus auszeichneten.

Gorian nutzte die Zeit, sich etwas in der Umgebung umzusehen. Tatsächlich wirkten viele Bäume, die in unmittelbarer Nähe der Lichtung wuchsen, sehr eigenartig. Sie sahen stark verwachsen aus, und so manches dieser Gewächse gehörte keiner Baumart an, die Gorian bekannt war. Offenbar gediehen einige Arten im Bereich des unsichtbaren Tempels, die von dessen magischer Aura auf irgendeine Weise in ihrem Wachstum begünstigt wurden.

Schließlich konnte er der Versuchung nicht länger widerstehen, auch jene Stelle aufzusuchen, wo sein Vater offenbar die Überreste des Gargoyle vergraben hatte. Fast war es, als würden seine Schritte wie automatisch zu jenem Baum gelenkt, den man durch die Öffnung in der Tempelwand sehen konnte. Er ging in die Knie, blickte zurück zum Tempel und sah das Bauwerk aus nahezu der gleichen Perspektive wie in seinem Traum.

„Du wirst die Macht des Mondes brauchen, um mich zu befreien!“, meldete sich Ar-Dons Stimme wieder in seinen Gedanken. „Ansonsten wäre es sehr schwer und würde vielleicht deine Kräfte übersteigen.“ Als Gorian darauf nichts erwiderte und auch nichts unternahm, sondern einfach nur unschlüssig dastand, wurde der Gargoyle drängender, fast wütend: „Du brauchst meine Hilfe ebenso wie ich die deine! Du Narr, sieh endlich ein, dass es kein Gefallen ist, den ich von dir fordere, sondern dass ich dir ein Geschäft vorschlage, bei dem wir beide einen guten Schnitt machen!“

„Schweig!“, murmelte Gorian, denn er wusste inzwischen, dass es keinen Sinn hatte, diese Gedankenstimme einfach nur zu ignorieren. Das schien sie letztlich nur noch anzustacheln. Und die Beharrlichkeit dieses Wesens war kaum zu übertreffen.

Aber war das verwunderlich? Schließlich befand sich in jener Kreatur, zu der Ar-Don geworden war, auch der Geist Meister Domrichs, und der hatte in Morygors Kerker ein geradezu übermenschliches Durchhaltevermögen bewiesen. Zumindest diese Eigenschaft des Schwertmeisters war wohl auf den Gargoyle übergegangen, woran offensichtlich auch der Umstand nichts geändert hatte, dass Morygor Ar-Don anschließend auf das ihm gefällige Maß zurechtgestutzt hatte.

„Nur gemeinsam können wir überleben, Gorian!“, fuhr die Gedankenstimme einfach fort. „Du denkst wohl, du wärst der Einzige, der sich von Morygors Grausamkeit fürchten muss. Mag sein, dass er in erster Linie hinter dir her ist, aber glaubst du, mir gegenüber würde er mehr Gnade walten lassen als dir, fiele ich ihm in die Hände? Der Herr der Frostfeste bestraft alle, die seine Befehle nicht zu seiner vollsten Zufriedenheit ausführen. Ich habe gefehlt, und die Rache des Frostherrn wäre mir gewiss.“

„Selbst für Morygor dürfte es sehr schwierig sein, dich endgültig zu töten“, äußerte Gorian laut.

„Morygor tut seinen Dienern, die in seinen Augen versagt haben, und Verrätern an seiner Sache weitaus Schlimmeres an – wobei beide Vergehen für ihn dasselbe ist.“

Gorian fühlte plötzlich einen ungeheuer starken Drang in sich, dem er sich nicht zu widersetzen vermochte. Ein Drang, der sich zusammensetzte aus eigener Neugier und etwas, das nicht aus ihm selbst kam. Er trat vor, ganz nahe an den knorrigen Baum heran, bog ein paar Sträucher zur Seite, die zwischen seinen Wurzeln wuchsen, und entdeckte einen Stein, der wie ein verkleinertes Ebenbild des Quaders im Tempel wirkte. Selbst das Zeichen, das auf dem Altar beim Einfall des Mondlichts zu sehen war, fehlte nicht: Das Siebenerkreuz war in den Stein graviert!

Jetzt liegt es also in meiner Hand, dachte Gorian.

„Endlich begreifst du es, du Narr! Aber es kommt auch auf den richtigen Moment an. Ohne das Mondlicht geht es nicht, also warte!“

„Nein“, dachte Gorian, und dies sehr intensiv und auf eine Weise, von der er annahm, dass der Gargoyle es auf jeden Fall erfasste. „Du behauptest, mein Diener sein zu wollen, aber in Wahrheit schwebt dir doch genau das Gegenteil vor. Ich werde mich nicht von dir beeinflussen lassen!“

„Wir werden sehen“, wisperte die Gedankenstimme. „Wir werden sehen...“

In diesem Augenblick vernahm Gorian den durchdringenden Schrei eines Adh...

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Gorian fand Beliak am entgegengesetzten Ende der Lichtung, wo dicht beim Waldrand hohes Gras wuchs.

„Was ist los?“

Beliak starrte auf einen etwa zwei Schritte durchmessenden Bereich, der völlig frei von Gras war, obwohl der Untergrund dort aus dunkler, ja, pechschwarzer Erde zu bestehen schien, aus der es eigentlich nur so sprießen musste. Allerdings fiel Gorian der scharfe, unangenehm stechende Geruch auf, der von dieser angeblichen Erde ausging.

„Das ist kein Mutterboden“, erklärte Beliak, „sondern die Hinterlassenschaft eines Langzahnlöwen. Und ich wäre beinahe hineingetreten!“ Der Adh schüttelte sich. „Die Biester sind selten geworden, aber ausgerechnet diesen Ort scheint sich einer von ihnen zum Revier erkoren zu haben.“ Beliak seufzte. „Ist natürlich ein zusätzlicher Schutz, wenn man irgendwas verbergen will ...“

„Ist das frisch?“, fragte Gorian.

„Was weiß ich. Mir selbst ist nie eines dieser Monster begegnet, den Göttern der Adhe sei Dank. Wusstest du, dass im Zeitalter der Alten Götter einige Menschenvölker diese Bestien abgerichtet haben, Adhe zu jagen?“

„Nein, wusste ich nicht“, gestand Gorian.

„Sie können nämlich ins Untererdreich eindringen und dort sehr viel länger existieren als die meisten anderen Wesen, von uns Adhen mal abgesehen.“

„Dann war das Biest, von dem dies hier stammt, vielleicht dem magischen Drang erlegen, der alles in die Tiefe ziehen will, und ist jetzt irgendwo unter unseren Füßen, ohne die Möglichkeit, einer Rückkehr.“

„Darauf würde ich mich nicht verlassen“, murmelte Beliak. „Wir sollten uns nicht mehr zu weit vom Tempel entfernen ...“

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Eisiger Wind kam auf, so feucht und kalt, dass er die Blätter der umliegenden Bäume mit einer feinen glitzernden Schicht überzog, wodurch sie so schwer wurden, dass einige von ihnen hinabfielen. Auch Äste wurden nach und nach von einer Eisschicht eingehüllt und brachen.

Schon zuvor war Beliak aufgefallen, dass es in einem gewissen Umkreis des Tempels keinerlei Tiere gab, aber das hatte er zunächst den besonderen magischen Eigenschaften dieses Ortes zugeschrieben. Nun war er sich da nicht mehr so sicher. „Könnte sein, dass Frogyrr selbst sich hierher begibt“, sagte er düster. „Schließlich geht es nicht nur um deine Existenz, sondern auch um die des Frostgottes. Denn ich glaube kaum, dass Morygor es ihm so ohne Weiteres verzeihen würde, sollte er mit leeren Pranken in die Frostfeste zurückkehren. Wahrscheinlich wäre für ihn selbst ein Leben unter der Sonne Eldosiens noch angenehmer.“

Etwas später setzte Schneefall ein, und innerhalb kurzer Zeit war das Gebiet um den Tempel zu einer weißen Winterlandschaft geworden. Nur der Tempel selbst, die Lichtung und die ersten Baumreihen des Waldes blieben davon unberührt. Und wenn Gorian in den grau gewordenen Himmel blickte, durch den seltsamerweise nur noch der dunkle Schattenbringer deutlich zu erkennen war, während die Sonne als verwaschener und erschreckend fahler Lichtfleck erschien, konnte er sehen, wie eine unheimliche Kraft die Schneeflocken ablenkte, so als wäre über diesen Bereich ein unsichtbarer Schirm gespannt.

Weit über dieser unsichtbaren Glocke tauchten wieder Eiskrähen auf, aber diesmal wagten sie keinen Sturzflug in die Tiefe, sondern blieben hoch oben, selbst für den Rächer unerreichbar, hätte Gorian ihn geschleudert.

Sie kreisten über dem Tempel, und mit der Zeit versammelten sich dort immer mehr von ihnen. Ihr Krächzen vermischte sich zu einem schaurigen Singsang, bei dem Gorian fast den Eindruck hatte, sie würden damit jemanden rufen.

„Also, sollte dir noch irgendetwas einfallen – etwas, was du mal in den alten Büchern gelesen hast, aus denen du deine Nase nicht herausnehmen konntest -, dann solltest du es jetzt äußern“, meinte Beliak. „Irgendetwas, was wir noch tun können, bevor der achtbeinige Eisbär hier auftaucht.“

Sie standen beide vor dem Säulenportal des Tempels, auf das noch keine einzige Schneeflocke gefallen war.

Als Gorian keine Antwort gab, setzte Beliak hinzu: „Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als auf die Magie dieses Ortes zu vertrauen.“

„Du könntest noch fliehen“, meinte Gorian und sah den Adh an. „Gib einfach dem magischen Sog nach, lass dich in die Tiefe ziehen ...“

„Um dann wer weiß wie weit durch das Untererdreich wandern zu müssen, um irgendwo wieder auftauchen zu können?“, fragte Beliak. „Falls das überhaupt möglich ist, denn der Zauber, der hier wirkt, könnte einen wie mich auch direkt ins Tiefen-Untererdreich ziehen, wo ich verglühen würde, oder mich für immer hier unter den Tempelfundamenten festhalten.“ Er wog die Axt in seinen Händen. Er hatte ihre Schneide an den Tempelstufen geschliffen, auf eine Weise, die Gorian alles andere als fachkundig erschien, die aber dennoch ihren Zweck erfüllt hatte: Sie war so scharf wie nie. „Nein, ich lasse dich nicht im Stich“, versprach der Adh, „was auch immer geschehen mag. Und das tue ich nicht nur aus Freundschaft, wie du vielleicht glaubst.“

„Warum denn noch?“

„Solange du lebst, besteht für mich die Hoffnung, dass Morygors Herrschaft eines Tages doch noch sein Ende findet. Vielleicht nur eine unbestimmte Hoffnung – aber das ist besser als nichts, wie ich finde.“

Dumpfe Kriegsrufe in orxanischer Sprache ließen ihn verstummen. Hier und dort erschienen die ersten orxanischen Toten. Doch die letzten Baumreihen, die nicht vom Schnee bedeckt, sondern nur von einer Eisschicht überzogen waren, konnten sie nicht durchschreiten. Eine unsichtbare Wand machte jedes weitere Vorwärtskommen unmöglich.

Sie schrien vor Wut, und manche von ihnen schlugen wild mit ihren Waffen um sich, aber gegen die Magie, die es ihnen ebenso wie den Schneeflocken verwehrte, diesem Ort zu erreichen, konnten sie nichts ausrichten. Immer wieder prallte eines der monströsen gespaltenen Schwerter einfach zurück und traf den Angreifer, allerdings nicht so schwer, dass dadurch auch nur ein Einziger der untoten Frostkrieger außer Gefecht gesetzt worden wäre.

Gorian machte ein paar Schritte nach vorn. Er zitterte leicht, so kalt war es inzwischen geworden, und seine Finger waren ganz klamm. Die Frostkrieger schienen ihn vom Waldrand aus nicht zu bemerken – und sehr wahrscheinlich sahen sie nicht einmal den Tempel. Ihr ungestümes Toben lag eher darin begründet, dass ihnen magische Kräfte verwehrten, auf die Lichtung vorzudringen.

Der Schneefall ließ nach, aber inzwischen hatten sich so viele Eiskrähen hoch über dem Tempel versammelt, dass die eigentlich strahlend weißen Tiere den Himmel verdunkelten. Ihr Gekreische erreichte zeitweilig eine ohrenbetäubende Lautstärke, schwächte sich dann aber immer wieder deutlich ab. Und manchmal glaubte Gorian sogar, ein einzelnes Wort aus diesem Gekreische herauszuhören, einen Namen: „Morygor ...

––––––––




Ein Krachen und Splittern erklang, Bäume fielen und rissen weitere mit sich, und gleichzeitig dröhnte ein tiefes, kehliges Brüllen, das in einem dumpfen Brummen mündete und schließlich kaum noch hörbar war, jedoch den Boden erzittern ließ.

Gorian spürte einen Druck in der Magengegend, und in den Stufen des Säulenportals bildeten sich leichte Risse, während sich Beliak die Ohren zuhielt. Offenbar half der unsichtbare magische Schirm, der diesen Ort umgab, nicht gegen die Kraft eines solchen Schreis. Die Eiskrähen fügten diesem unglaublich tiefen Laut noch ihr schrilles Kreischen hinzu.

„Bei allen Feuern des Tiefen-Untererdreichs, jetzt wird es ernst!“, entfuhr es Beliak, der den Stiel seiner Axt mit beiden Pranken umfasste, wobei Gorian doch sehr bezweifelte, dass mit einer solchen Waffe gegen die anrückende Bedrohung überhaupt etwas auszurichten war.

Er selbst sammelte seine magischen Kräfte, wie er es von seinem Vater gelernt hatte, und seine Augen wurden vollkommen schwarz. Er sah, wie immer mehr Baumkronen einfach zur Seite kippten. Hin und wieder wurde auch ein von Eis überzogener Baum entwurzelt und in die Höhe geworfen, offenbar einfach mit roher Gewalt aus dem Boden gerissen, häufig noch mit einem riesigen halbgefrorenen Erdballen am Wurzelwerk.

Die bärenhafte Gestalt Frogyrrs tauchte aus dem Dickicht auf. Er bahnte sich seinen Weg und schien den Moment nicht erwarten zu können, endlich die Lichtung zu erreichen, lief auf sechs seiner acht Tatzen und benutzte das vordere Paar, um sich den Weg auf äußerst rabiate Weise frei zu räumen. Seinen Elfenbeinstab ließ er sich von einem Dutzend orxanischen Frostkriegern hinterhertragen.

Dann spürte Frogyrr die Barriere und brüllte auf – so laut, wie Gorian noch kein Wesen hatte brüllen hören. Es war eine Mischung aus Wutgeheul und Kampfschrei, dessen letzte Momente wiederum so tief wurden, dass die Risse in der Treppe weiter aufbrachen. Sie fraßen sich durch das Gestein, teilweise bis ins Mauerwerk.

Der Frostgott richtete sich zu voller Größe auf, trommelte mit vier seiner acht Pranke gegen die unsichtbare Wand, wobei hin und wieder bläuliche Funken stoben, und ein Gedanke Frogyrrs erreichte Gorian mit geradezu schmerzhaften Vehemenz.

„Hast du gedacht, dass ich dich nicht finde, du elender Wurm?“

Im ersten Moment durchraste Gorian eine Welle des Schmerzes, als er diesen Gedanken empfing, gegen den die magische Abschirmung offenbar keinerlei Wirkung hatte. Aber da er bereits zuvor seine Kräfte gesammelt hatte, gelang es ihm sehr viel besser, sich gegen den bedrängenden Einfluss abzuschirmen als bei ihrer ersten Begegnung auf Nhorichs Hof.

Nein, auf diese Weise wirst du mich nicht besiegen!, dachte er trotzig, ein Gedanke, der zwar nicht an den Frostgott gerichtet war, den Frogyrr aber bestimmt wahrzunehmen vermochte.

Die Laute des Frostgottes verwandelten sich in etwas, das Ähnlichkeit mit menschlichem Triumphgelächter hatte. Er nahm den Elfenbeinstab wieder an sich, ging mehrere Schritte zurück, berührte mit dem Orxanier-Schädel an der Spitze des Stabs die unsichtbare magische Wand, und bläuliche Funken sprühten. Dann riss er das Maul weit auf und stieß abermals ein paar sehr tiefe Töne aus, die einem dumpfen Gemurmel glichen.

Daraufhin zeigten sich auch im Gemäuer des Tempels und ebenso in den Säulen Risse, allerdings konnten diese Beschädigungen die Tempelruine nicht zum Einsturz bringen. Gorian stellte sogar fest, dass sich die wie Wasserläufe in einem Delta verzweigenden kleinen Spalten sogar zum Teil wieder zurückbildeten. Das bläuliche Leuchten, das dabei hier und dort aufblitzte, verriet, dass Magie im Spiel war.

Schwarzes Blut quoll aus der leeren Augenhöhle des Frostgottes. Die Wunde schien kaum verschorft, geschweige denn auch nur ansatzweise verheilt zu sein, dazu reichten Frogyrrs Kräfte derzeit einfach nicht aus. Mit Sicherheit lag dies auch daran, dass ihm das Auge durch eine Klinge aus Sternenmetall genommen worden war.

Der bärengestaltige Eisgott stieß nun einen Laut aus, der Gorian an die Kraftschreie der Meister des Ordens erinnerte, und ein bläulicher Blitz knisterte durch die Luft und verzweigte sich dutzend- und dann hundertfach, sodass für wenige Augenblicke ein Netz aus leuchtenden, sich verzweigenden Lichtspuren entstand.

Dann war es vorbei, das Leuchten verschwand, und Frogyrr musste sich plötzlich auf seinen Elfenbeinstab stützen. In den Augen des Orxanier-Schädels an dessen Ende glühte es zuerst rötlich und dann bläulich.

Der Frostgott war zweifellos durch seinen Angriff sehr geschwächt – aber das magische Feld, das den Tempel schützte, ebenfalls, denn nun brachen die Frostkrieger aus dem Unterholz und drangen mehrere Dutzend Schritt auf die Lichtung vor, ohne dass sie aufgehalten worden wären.

Auf einmal aber prallten sie erneut gegen eine unsichtbare Grenze, hämmerten in sinnloser Wut mit ihren Waffen darauf ein. Sie rückten von allen Seiten heran. Der Kreis um den Tempel war enger geworden, die Wirkung des Zaubers, der diesen Ort schützte, offensichtlich schwächer.

„Noch ein oder zwei solcher Angriffe, und sie haben uns“, knurrte Beliak.

„Ich nehme an, dass sich Frogyrr erst einmal erholen muss, bevor er so etwas noch einmal wagen kann“, vermutete Gorian. Er deutete auf die sich mehr und mehr zurückbildenden Risse in der Treppe und im Mauerwerk. Man konnte zusehen, wie sich der Stein allmählich wieder schloss. „Die Magie des Tempels ist nicht so leicht zu bezwingen, wie sich dieses Bärenmonstrum das vielleicht vorgestellt hat.“

Wie auf einen geheimen Befehl hin stürzten auf einmal die Krähenvögel vom Himmel und ließen sich auf den Bäumen am Waldrand nieder. So mancher Ast ächzte unter ihrer Last.

Gorian hatte sich geirrt: Frogyrr startete bereits den zweiten magischen Angriff auf den Schutzschirm, berührte erneut mit dem Orxanier-Schädel die unsichtbare Wand, und wieder breitete sich ein Geflecht aus Blitzen aus. Das tiefe Dröhnen, das aus seinem weit aufgerissenen Maul drang, ließ die gerade geschlossenen Risse im Mauerwerk wieder aufspringen.

Die Frostkrieger drangen lärmend noch etwas weiter vor. Sie schienen wohl anzunehmen, dass die unsichtbare Wand, die sie davon abhielt, einfach weiterzustürmen, innerhalb der nächsten Augenblicke völlig zusammenbrechen würde. Aber dem war nicht so. Der zweite magische Angriff des Frostgottes war wesentlich schwächer als der erste. Das bisschen Gelände, das seine Frostkrieger dadurch gewannen, nützte ihnen im Grunde nichts. Demgegenüber stand aber ein offenbar erheblicher Kräfteverlust des achtbeinigen Eisbären.

Er taumelte ein paar Schritte zurück, und sein tiefes Brummen hatte längst nicht mehr die zerstörerische Kraft wie zuvor. Teilweise begannen bereits das Eis und der Schnee von den Bäumen zu tauen. Frogyrr öffnete wieder das Maul und sandte einen für seine Verhältnisse sehr schwachen Eishauch aus, dessen Kälte Gorian und Beliak dennoch spürten. Frogyrr wandte den Kopf, während der kalte Hauch aus seinem Maul fauchte, damit sich dieser gut verteilte, aber Gorian entging nicht, dass sich beim Waldrand einzelne Wasserpfützen gebildet hatten, wo der Boden trotz Frogyrrs Bemühungen nicht mehr richtig gefror.

Dennoch – die Lage blieb bedrohlich.

Beliak sprach Gorian nicht noch einmal darauf an, ob er vielleicht nicht doch noch die Hilfe des Gargoyle in Anspruch nehmen wollte. Aber in den Gesichtszügen des Adh stand diese Frage überdeutlich.

Eine innere Unruhe erfasste Gorian. Auf einmal umrundete er mit schnellen Schritten den Tempel, sodass er schließlich dessen Rückseite erreichte, wo der Brotbaum stand, an dessen Wurzeln sich Ar-Dons Grab befand.

Der Baum war inzwischen völlig vereist, und mindestens dreihundert Eiskrähen hatten sich auf seinen Ästen niedergelassen. Die Grenze des durch Magie geschützten Bereichs verlief ungefähr auf halbem Weg zwischen dem Baum und der Rückfront des Tempels.

Das bedeutete, dass sich Ar-Dons Grab in Frogyrrs Einflussbereich befand, ging es Gorian durch den Sinn. Wahrscheinlich war es nun ohnehin nicht mehr möglich, den Bann, denn Nhorich über den Gargoyle gelegt hatte, von ihm zu nehmen.

Verwunderlich war, dass Ar-Don offenbar keinerlei Hilfsappelle an die Schergen seines Herrn richtete. Zumindest bekam Gorian davon nichts mit. Warum ließ er nicht den Bann von Morygors Dienern auflösen? Und wäre es nicht sogar eine Gelegenheit für ihn, jenen Mordauftrag, an dem er vor sechs Jahren gescheitert war, doch noch auszuführen? Frogyrr war mit Sicherheit in der Lage, den Bann zu lösen – und für Ar-Don ergab sich dadurch vielleicht sogar die Möglichkeit, das Wohlwollen seines Herrn und Meisters in der fernen Frostfeste zurückzugewinnen.

Aber nichts von alledem schien in Ar-Dons Absicht zu liegen.

Was Gorian allerdings am meisten verwunderte, war, dass Ar-Don vollkommen stumm blieb. Kein höhnischer, vor Zynismus triefender Gedanke, keine drohenden Bildvisionen, kein Versuch, ihn zu schwächen oder noch einmal umzustimmen. Nichts!

Ar-Don hätte sich wieder auf die Seite des Frostreichs stellen können, und doch tat er es nicht. War er – und besonders jener Teil in ihm, der zu Meister Domrichs Seele gehört hatte – tatsächlich nicht mehr jener willenlose Sklave Morygors, der er einst gewesen war? Verbarg er sich – und zwar ganz bewusst - vor den Schergen des Frostherrn?

Für einen Moment erschien Gorian das, was ihm Ar-Dons Gedankenstimme die ganze Zeit über einzuflüstern versucht hatte, doch auf gewisse Weise plausibel. Die Seelenreste von Meister Domrich schienen sich stärker durchzusetzen, als Gorian es bisher für möglich gehalten hätte.

Vielleicht habe ich mich geirrt, Ar-Don!, dachte Gorian.

Doch dieses Mal erhielt er keine Antwort auf seine Gedanken.



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