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Kapitel 14: Segantia

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Einen Tag später erreichten sie das Ufer des Flusses Seg, der die Grenze zwischen den Herzogtümern Thisilien und Estrigge bildete. Sie folgten dem Strom bis zur Brücke, die nach Segantia führte, der großen Handelsstadt am Estrigger Ufer.

Die Brücke spannte sich in einem gewagten Bogen über den Fluss, und es gab Legenden, denen zufolge sie ihre Entstehung nicht allein der Baukunst eines begnadeten Architekten zu verdanken hatte, sondern ebenso der Anwendung von Magie.

Am thisilischem Ufer gab es ein von Holzpalisaden geschütztes Fort, in dem eine Hundertschaft Landsknechte des Herzogs von Thisilien stationiert war. Zu deren Aufgaben gehörte auch die Einziehung des Brückenzolls, wenn man diese von West nach Ost passierte; benutzte man sie in umgekehrter Richtung, strichen die Landsknechte des Estrigger Herzogs auf der anderen Seite den Zoll ein.

Gorian und Thondaril ritten auf den Zollposten zu, wo sich sowohl die alte als auch die neue Straße nach Segantia trafen. Der zweifache Ordensmeister zeigte dem wachhabenden Landsknecht nur seine Hand mit den beiden Ringen und wurde sofort durchgewinkt. Von einem Meister des Ordens wurde kein Wegezoll zum Unterhalt der Brücke verlangt. „Der Verborgene Gott schütze Euch“, sagte der Landsknecht und verbeugte sich respektvoll, und die mit Schwertern und Armbrüsten bewaffneten Männer, die ihm unterstellt waren, folgten seinem Beispiel.

Thondaril ließ das Pferd, auf dem er zusammen mit Gorian saß, anhalten. „Wie ist dein Name und dein Rang?“, verlangte er von dem Posten zu wissen.

„Ich bin Hauptmann Javloch und diene dem Herzog von Thisilien“, erwiderte der Gefragte, ein Mann mit rotstichigem Haar. „Vor kurzem sind einige Ordensbrüder von Euch zusammen mit einem Heer von Rittern und Landsknechten in umgekehrter Richtung gezogen, um sich den Frostkriegern in Thisilien zu stellen.“

„Das freut mich zu hören“, erwiderte Thondaril. „Aus deinen Worten schließe ich, dass sich hier noch kein orxanischer Untoter gezeigt hat.“

Der Rothaarige schüttelte den Kopf. „Nein, ehrwürdiger Meister. Allerdings sind zahlreiche Flüchtlinge nach Segantia gezogen, und was sie berichten, lässt einem das Blut in den Adern gefrieren.“

Gorian fielen einige hundert Menschen auf, die vor den Holzpalisaden des Forts kampierten. Männer, Frauen und Kinder lagerten dort und hausten unter erbärmlichen Bedingungen. Sie sahen abgerissen aus und hatten kaum Besitz mitnehmen können. Ihrer Kleidung nach handelte es sich um Pächter und Waldbauern, wie sie weit verstreut an der thisilischen Küste lebten.

„Was sind das für Menschen?“, fragte Gorian an Javloch gewandt.

„Warum willst du das wissen, Junge?“, fragte der Hauptmann und verengte dabei misstrauisch die Augen.

„Sie sehen elend aus.“

„Es gibt viel Elend, doch würden wir es andauernd anstarren, könnten wir uns nicht mehr an der Schönheit dieser Welt erfreuen. Nun, das Geschrei ihrer Kinder ist eine Plage, die ich niemandem wünsche.“

„Sind es Flüchtlinge aus Thisilien?“

„Sie gehen dich nichts an, Junge“, knurrte der Landsknecht unwillig.

Da mischte sich Meister Thondaril ein, und ihn wagte Hauptmann Javloch nicht einfach so abzukanzeln. „Ich möchte es auch wissen.“

„Ehrwürdiger Meister, es sind Flüchtlinge, die den Brückenzoll nicht entrichten konnten.“ Der Hauptmann zuckte mit den Schultern. „Was soll ich machen? An ihrem Unglück sind die Invasoren schuld, die in Thisilien eingefallen sind. Und unser Herzog lässt keine Ausnahme bei der Erhebung des Brückenzolls zu.“

„Von meinem Begleiter und mir habt Ihr auch nichts verlangt, und ebenso wenig Euresgleichen, die in den letzten Jahren an diesem Posten standen, während ich in dieser Zeit die Brücke mehrere Dutzend Male überquerte.“

„Ihr seid ein ehrwürdiger Meister des Ordens der Alten Kraft und schützt das Heilige Reich. Kein Herzog darf von Euch Wegezoll erheben, nicht einmal der Kaiser.“

„So gibt es also doch Ausnahmen. Dann lasst auch diese Menschen ziehen, wohin sie wollen!“

„Aber, Meister! Glaubt Ihr, dass ihr Elend auf der anderen Seite der Brücke geringer sein wird als hier?“

„Sie sind Flüchtlinge. Und hier können sie nicht einmal betteln. Also lass sie ziehen, Hauptmann!“

„Es tut mit leid, ehrwürdiger Meister, aber mir sind die Hände gebunden. Mein Herzog ...“

„Der Herzog sitzt weit entfernt in Thisrig!“, schnitt Thondaril ihm das Wort ab. „Er kann froh sein, wenn die Frostkrieger nicht auch dort mit ihren Schiffen gelandet sind und ihn aus seinem Palast geworfen haben!“

„Dennoch, ich bin an das Wort meines Herrn gebunden“, beharrte Hauptmann Javloch.

Aber das ließ Meister Thondaril nicht gelten. Er ritt zu dem Lager der Flüchtlinge. „Wer von euch die Brücke passieren will, mag dies jetzt tun!“, rief er. „Niemand wird es wagen, euch aufzuhalten, wenn ihr in meinem Gefolge geht!“

Die Flüchtlinge schauten Thondaril ungläubig an. „Ein Ordensmeister!“, stellte ein alter Mann ergriffen fest. „Wir können ihm vertrauen!“

„Dann wird man den Zoll auf der anderen Seite fordern!“, glaubte eine Frau in Lumpen, die ein Kind auf dem Arm trug.

„Niemand wird Zoll von euch verlangen – weder auf dieser noch auf der anderen Seite!“

Hauptmann Javlov war Thondaril und Gorian gefolgt, der noch immer hinter dem Ordensmeister im Sattel saß. Zudem eilten noch ein paar weitere Landsknechte herbei, die Hände an den Griffen ihrer Schwerter.

„Das könnt Ihr nicht tun, ehrwürdiger Meister!“, rief Javlov.

Thondaril drehte sich im Sattel um, seine Augen wurden vollkommen schwarz, und er rief: „Ich würde niemandem raten, sich einem Meister der Alten Kraft entgegenzustellen!“

Der Hauptmann wollte etwas erwidern, aber es kam kein Wort mehr über seine Lippen. Sein Blick wurde starr und wie gebannt, als Thondaril die Hand hob. In der Handfläche bildete sich ein Lichtpunkt, der rasch größer wurde und die gesamte Handinnenfläche einnahm. Er wurde immer heller, immer blendender. Auch Javlovs Männer standen plötzlich in dem Bann dieses magischen Lichts.

„Ihr werdet diese Menschen ziehen lassen und euch nicht daran erinnern!“, gebot Thondaril und murmelte dann einige Worte in alt-nemorischer Sprache.

Er war ein wahrer Meister der Magie, der seinen zweiten Ring wohl zurecht trug, erkannte Gorian.

„Die Seelen dieser Männer sind schwach und lassen sich leicht beeinflussen“, raunte Thondaril ihm zu. „Schon aus diesem Grund wäre keiner von ihnen in der Lage, Morygors Schergen zu widerstehen, und so kann man nur hoffen, dass die Frostkrieger diesen Posten niemals erreichen.“

Danach wandte er sich mit deutlich lauterer Stimme an die Flüchtlinge: „Wartet nicht länger, sondern folgt mir über die Brücke!“

––––––––




Die Flüchtlinge folgten Thondarils Streitross, und am Estrigger Ufer wagte es niemand, sich ihnen entgegenzustellen oder auch nur eine Frage an den Ordensmeister zu richten.

So zogen sie weiter zum Flusshafen, der sich rechts und links des Brückenendes am Ufer entlangzog. Zahllose, zu einem Großteil auch hochseetüchtige Schiffe lagen an den Kais. Von den Küstenstädten fuhren größere Schiffe den Seg bis Segantia hinauf, wo die Waren dann häufig auf kleinere Schiffe umgeladen wurde, damit man sie weiter flussaufwärts bis in die Berge von Nomrigge bringen konnte.

Schließlich erreichte Thondarils Zug das zum Hafen ausgerichtete östliche Haupttor der Stadt. In den Straßen von Segantia löste sich sein Lumpengefolge dann allmählich auf. Die Stadt war recht verwinkelt und wurde von zahlreichen Mauern in unterschiedlich große Viertel unterteilt, dennoch hatte Gorian den Eindruck, dass sich der Ordensmeister bestens zurechtfand und genau wusste, wohin er wollte.

„Heute lohnt die Weiterreise nicht mehr“, meinte er. „Wir werden hier in Segantia in einer Herberge übernachten, deren Wirt ich gut kenne.“

„Vielleicht erfahren wir dort ja auch ein paar Neuigkeiten zur Lage in Thisilien“, sagte Gorian.

Thondaril wandte ihm das Gesicht zu und zeigte ihm ein leicht spöttisches Lächeln. „Ja, vielleicht. Aber in der Regel verlasse ich mich lieber auf meine eigenen Quellen.“

„Magische Quellen?“, hakte Gorian nach.

„Du bist neugierig.“

„Nein, wissbegierig.“

„Zwei Seiten ein- und derselben Medaille, wie ich annehmen möchte. Jedenfalls ist es nicht die schlechteste Eigenschaft eines Schülers.“

„Ich will alles erfahren, was nötig ist“, erklärte Gorian. „Und zumindest das Wissen eines Magiemeisters und was mir zum vollendeten Schwertmeister noch fehlt, kann ich sicher von Euch lernen.“

„Dann bleiben nur noch drei Meisterringe, die du erwerben musst, wenn wir die Ordensburg erreichen“, spottete Thondaril und lachte schallend. „Dein Eifer in allen Ehren, aber um diese Künste zu erlernen, braucht man Zeit. Und an dieser Erkenntnis wirst auch du nicht herumkommen.“

„Ich fürchte nur, dass Morygor es nicht zulässt, dass ich mir allzu viel Zeit damit lasse. Er wird uns nicht mehr Generationen lang vor uns hinleben lassen, als wäre da nichts, was uns bedroht und die Welt in eine eisige Schneewüste verwandeln will.“ Gorian deutete zum Himmel, wo die Sonne gerade zwischen den Wolken hindurchstrahlte. Der dunkle Fleck, der sie zum Teil verdeckte, war unübersehbar. „Wenn sich der Schattenbringer noch weiter vor die Sonnenscheibe schiebt, wird nichts mehr so sein, wie wir es kennen. Selbst wenn Morygor besiegt wird, könnte es dann zu spät sein, um die Verdunkelung der Sonne rückgängig zu machen oder wenigstens aufzuhalten.“

„Bevor du dich in Prophetie übst, solltest du dich vielleicht tatsächlich erst mal um den Ring eines Sehers bemühen.“

„Um vorauszusehen, was ich gerade gesagt habe, braucht man weder Magie noch die Sinne oder die Ausbildung eines Sehers“, war Gorian überzeugt. „Dafür reicht ein klarer Verstand.“

„Der Verstand eines Jungen aus der thisilischen Provinz, der an Bildung kaum mehr genossen hat als die mitunter etwas eigenwilligen Auffassungen seines Vaters?“

„Er hat es nicht verdient, dass Ihr sein Ansehen in den Schmutz zieht, Meister Thondaril!“, sagte Gorian mit einem harten Unterton in der Stimme, der dem Ordensmeister klarmachte, dass er gerade eine Grenze überschritten hatte, die gegenüber Gorian nicht in Frage gestellt werden durfte.

„Das lag nicht in meiner Absicht“, stellte er daher klar. „Aber bei allem Respekt gegenüber deinem Vater solltest du vielleicht doch auch in Erwägung ziehen, dass er sich in manchem schlichtweg geirrt haben könnte.“

––––––––




Daraufhin schwiegen sie eine ganze Weile, während sie auf dem Rücken des Streitrosses die Straßen entlangritten. Überall herrschten lebendiger Handel und Gewerbe. Segantia glich einem einzigen großen Markt. Lauthals wurden Waren aller Art angepriesen, Gaukler führten ihre Kunststücke auf, Musikanten präsentierten ihr Können und erwarteten dafür von den vorbeigehenden Passanten ein paar Kupfermünzen als Anerkennung ihres Talents. Schreiber und Zahlenmagier boten ihre Dienste an jeder Ecke an, ebenso Porträtmaler und Wahrsager, deren „Künste“, wie Thondaril zwischendurch betonte, nichts mit den Fertigkeiten der Seher-Meister des Ordens gemein hatten, sondern schlicht Betrug waren, so wie die Kunststücke jener angeblichen Magier, die Karten verschwinden ließen oder Tauben aus ihren Hüten zauberten, ohne dass sie auch nur ansatzweise über Magie verfügten.

„Allesamt Betrüger, die das wahre Talent in Verruf bringen“, sagte Thondaril in einem Unterton, der keinerlei Zweifel an der Verachtung ließ, die er für derlei Straßentheater empfand.

Schließlich erreichten sie einen Platz, wo auf einer Bühne Ringkämpfe zwischen Ogern abgehalten wurden, angekündigt von einem großköpfigen Zahlenmagier, der wohl erkannt hatte, dass ihm das Organisieren solcher Veranstaltungen und die dazugehörigen Wetten mehr Silber einbrachten, als wenn er sich bei einem der vielen segantinischen Handelskontore am Flusshafen verdingte.

Ein halbes Dutzend dressierter Sprechaffen half dem Zahlenmagier beim Einsammeln der Einsätze. Die Geschöpfe mit dem weißen Fell hatten etwa die Körpergröße eines zehnjährigen Menschenkinds und lebten in den Gebirgszügen im Süden von Estrigge und dem Estlinger Land. Im Gegensatz zu den meisten anderen Affenarten konnten sie eine vereinfachte Form menschlicher Sprache erlernen.

„Mach Einsatz höher!“, trällerten sie diejenigen an, die sich um die Bühne herum versammelt hatten und bereit waren, ein paar Silberstücke auf einen der grünhäutigen Oger-Kontrahenten zu setzen. Diese waren nur etwas größer als die meisten menschlichen Männer, allerdings erheblich muskulöser. Gegen sie wirkte selbst ein breitschultriger Adh wie ein Schwächling. Zumeist wuchs ihnen eine strubbelige blauschwarze Mähne. Nur wenige von ihnen hatten helleres Haar, das dann zumeist einen unübersehbaren Rotstich aufwies.

Ihre Gesichter wirkten zwar grob und kantig, aber vergleichsweise menschlich, solange sie den Mund geschlossen hielten. Die langen Eckzähne konnten sich zwar nicht mit den gewaltigen Hauern eines Orxaniers messen, aber sie zeigten doch deutlich, dass sich Oger so gut wie ausschließlich von Fleisch ernährten, und zwar auch Menschenfleisch - sofern sie sich nicht gerade in einem Menschenreich aufhielten, um dort zum Beispiel als Ringer mit Schaukämpfen ihr Silber zu verdienen.

Zwei eingeölte Oger mit freien Oberkörpern und zu Fratzen verzogenen Gesichtern standen sich gegenüber, aber der Zahlenmagier mit seinem kahlen Ballonkopf hatte den Kampf noch nicht beginnen lassen. Offenbar waren noch nicht genügend Wetten gesetzt, und so waren die weißen Sprechaffen noch immer unermüdlich zwischen den Schaulustigen unterwegs. Überall hörte man sie mit schriller Stimme um höhere Einsätze werben.

Einer von ihnen kam auf Thondarils Streitross zu, kletterte in Windeseile daran empor und klammerte sich an den Arm des Meisters. „Einsatz bitte! Einsatz bitte! Bestimmt Glück haben!“

„Weg mit dir!“, herrschte Thondaril ihn an.

Kreischend sprang der Sprechaffe wieder zu Boden. „Kein Einsatz, kein Glück!“, rief er. „Selbst schuld!“

In diesem Augenblick verdunkelte sich die Sonne, und ein großer Schatten wurde auf den gesamten Platz geworfen. Gorian sah empor. Es war glücklicherweise nicht der Schattenbringer, der den Oger-Ringern die Schau stahl, sondern nur ein majestätisch über die Stadt ziehender Greif.

Gryphland, die Heimat der Greifenreiter, lag im äußersten Südwesten von Ost-Erdenrund und jenseits der Grenzen des eisigen Reichs. Daher waren die gezähmten Greifen, die einige Händler besaßen, in den nördlichen Herzogtümern auch relativ selten anzutreffen. So ging ein Raunen durch die Menge, und ein jeder verrenkte sich den Hals, um diesen exotischen Anblick in sich aufzunehmen.

Der Greif hatte etwa die Größe eines einstöckigen segantinischen Wohnhauses und glich einer Mischung aus Löwe und Adler. Der Schnabel des vogelartigen und teils gefiederten Kopfes war länger als der Rammsporn einer westreichischen Galeere, und adlerähnliche Schwingen wuchsen seitlich aus dem raubkatzenhaften Rumpf, während ein kleineres Flügelpaar an den Schultern wohl der genauen Steuerung diente. Jedes der vier Löwenbeine hatte mehr Umfang als der Brustkorb eines der Oger-Ringers.

Auf dem Rücken des Tiers saß einer der legendären gryphländischen Greifenreiter und lenkte das gewaltige Geschöpf über ein spezielles Geschirr, während unter dem Bauch des Flugmonstrums eine geschlossene Gondel von der Größe eines mittleren segantinischen Flussschiffs hing.

Der Greifenreiter suchte offenbar einen Ort, an dem er mit seinem Tier niedergehen konnte. Da es in Segantia keine besonderen Landeplätze für Greifenreiter gab, wie man sie in Gryphland, den angrenzenden Reichen und sogar noch in einigen südwestlich gelegenen heiligreichischen Herzogtümern fand, kam nur einer der großen Plätze der Stadt infrage.

Der Greif stand fast in der Luft, und da er dafür das große Flügelpaar etwas heftiger bewegen musste, war so manch einer auf dem Marktplatz gezwungen, Hut oder Mütze festzuhalten.

„Geschäfteverderber! Geschäfteverderber!“, hörte man die Sprechaffen kreischen, denn auf einmal interessierte sich kaum noch jemand für die beiden Oger und ihren bevorstehenden Ringkampf.

Der Greif sank tiefer, die Menge strömte auseinander, und so bildete sich rasch eine freie Fläche, die groß genug war, um die Gondel abzusetzen, was der Greif derart sanft und vorsichtig tat, wie man es einem so gewaltigen Wesen kaum zugetraut hätte. Er öffnete seinen riesigen Schnabel und stieß ein sehr tiefes Krächzen aus, das die Bretter der Ringerbühne vibrieren ließ.

Dressierte Seilschlangen hatten sich mit einem Ende ihres Körpers um den Rumpf des Greifen geschlungen, während sie mit dem anderen eine Schlinge bildeten, mit der sie die Gondel hielten. Nun aber zogen sie sich zischelnd zurück und gaben die Gondel frei.

Der Greif landete unmittelbar neben der Gondel. Ein, zwei kräftige Flügelschläge ließen noch einmal Wind aufkommen, dann faltete das majestätische Tier seine Schwingen auf dem Rücken zusammen, sodass sie eng am Körper lagen.

„Um den Zahlenmagier und seine Ringer tut es mir nicht leid“, raunte Thondaril seinem Gefährten zu. „Solche Kämpfe sind in der Regel abgesprochen, und wenn diesem kürbisköpfigen Kerl nun die Ernte seines Betrugs verhagelt wird, zeugt dies von der Gerechtigkeit des Verborgenen Gottes.“

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Die Herberge, in der Thondaril die Nacht zu verbringen gedachte, lag in einer schmalen Seitengasse. Das Haus hatte drei Stockwerke und war in der für Segantia typischen Fachwerkbauweise errichtet. Der Wirt hieß Artoch und war ein kleiner, dicklicher Mann in mittleren Jahren, in dessen Gesicht stets ein freundliches Lächeln stand.

„Meister Thondaril! Es freut mich, Euch wiederzusehen!“, begrüßte er den Gast. „Diesmal reist Ihr nicht allein?“

„Nein. Aber du wirst Gorian sicher genauso gut bewirten wie mich.“

„Ihr könnt die Kammer unterm Dach haben. Soll ich Euch die Dienste eines Barbiers vermitteln? Für Euren Begleiter scheint mir das noch ein wenig übertrieben, aber ...“

„Nein, danke“, lehnte Thondaril ab. „Dafür habe ich im Moment keine Zeit.“

„Ihr wart in Thisilien?“

„Allerdings.“

„Man hört schlimme Dinge von dort. Glaubt Ihr, dass die Frostkrieger bis Segantia vordringen?“

Thondaril schüttelte den Kopf. „Irgendwann werden Morygors Horden ganz Ost-Erdenrund erobern, aber nicht dieses Jahr. Allerdings bin ich nur ein Meister des Schwertes und der Magie, die Prüfungen eines Sehers habe ich nie abgelegt.“

„Das Unglück kündigt sich überall und mit aller Macht an“, sagte Artoch, und das freundliche Lächeln verschwand für einige Augenblicke und wich einer sehr ernsten Miene. „Das Wetter ist schlecht, die Getreidepreise, die man im segantinischen Hafen verlangt, sind bereits so hoch wie nie zuvor. Wir haben Tausende von Flüchtlingen in der Stadt, und Schiffspassagen flussaufwärts, um über die Berge nach Nomrigge und die anderen Herzogtümer im Süden zu gelangen, sind schon fast unerschwinglich. Viele rechnen damit, dass Thisilien erobert wird und sich die Pestilenz des Frostreichs dann von dort aus weiter ausbreitet.“

„Diese Leute sind schlecht informiert“, behauptete Thondaril. „Die Invasion Thisiliens ist nur ein kurzes Intermezzo. Die wahre Gefahr wird von ganz woanders kommen.“

„Dem Verborgenen Gott sei Dank, dass Ihr Ordensmeister das Reich gegen diese Bedrohung schützt. Aber bei allem Optimismus, dem man mir nachsagt, ich brauche nur zur Sonne emporzublicken, dann sehe ich den Schatten, der sie immer mehr verdüstert, und dann droht selbst mir alle Hoffnung abhanden zu kommen, dass es noch eine Zukunft gibt.“

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Das Dachzimmer war recht geräumig, und es gab insgesamt drei Betten dort. Gorian bekam das unterm Fenster, während Thondaril die beiden anderen in Beschlag nahm; auf dem einen legte er seine Waffen und sein Gepäck ab, das andere nutzte er für sich selbst.

Artochs Stallbursche kümmerte sich um das Streitross, und dass Thondaril ihm das Tier anvertraute, zeigte, dass er offenbar gute Erfahrungen mit dem Wirt gemacht hatte.

Er und Gorian nahmen im Schankraum eine ausgiebige Mahlzeit ein. Artoch hatte sich nicht lumpen lassen und einen deftigen Schmorbraten aufgetischt. „Bevor der Schattenbringer die ewige Kälte bringt, sollt Ihr wenigstens gut gegessen haben und nicht hungrig in die bereits verlorene Schlacht ziehen müssen“, sagte er mit Galgenhumor.

„Ich habe auf dem großen Stadtplatz einen Greifenreiter landen sehen“, äußerte Thondaril.

„O ja, die ganze Stadt spricht davon. Es ist der Greif von Centros Bal dem Nordfahrer.“

„Centros Bal!“, stieß Gorian hervor. „Ich habe von ihm gehört. Er fliegt regelmäßig von Gryphenklau bis zu den Mittlinger Inseln!“

„Ich glaube nicht, dass er jemals einen Zwischenhalt in Twixlum eingelegt hat“, konnte sich Thondaril eine sarkastische Bemerkung nicht verkneifen. Dann fragte er Artoch: „Du weißt nicht zufällig, in welchem Gasthaus Centros Bal für gewöhnlich absteigt, wenn er Segantia mit seiner Gegenwart beehrt?“

Artoch seufzte. „Leider nicht bei mir. Dem hohen Herrn ist es bei mir wohl zu einfach, und außerdem kann er hier auch nicht all seine Leute einquartieren. Ich nehme an, dass er in Martichs Gasthaus eine ganze Etage gemietet hat. Aber vielleicht übernachtet er auch in seiner Gondel, denn er gilt als sehr ängstlich, und für die Diebe Segantias dürfte sie so etwas wie der Paradiesgarten des Verborgenen Gottes sein.“

„Könntest du das für mich in Erfahrung bringen?“, fragte Thondaril.

„Ich kann meinen Küchenjungen losschicken.“

„Dann tu das bitte.“ Thondaril schob dem Wirt eine Silbermünze hin, woraufhin dieser sofort quer durch den Schankraum nach dem Burschen rief.

––––––––




Später, in der Dachkammer, hockte sich Meister Thondaril auf eines der beiden Betten, die er für sich beanspruchte, und blickte in seine Handflächen, die er wie ein aufgeschlagenes Buch vor sich hielt, wobei sich die Handkanten in einem rechten Winkel berührten.

„Meister?“, fragte Gorian, aber als er sah, wie sich Thondarils Augen mit purer Finsternis füllten, verstummte er. Der Ordensmeister schien völlig in sich versunken und im Moment nicht ansprechbar.

In seinen Handflächen strahlte Licht auf, das auch sein Gesicht traf. Es war ein fast weißes Leuchten, viel heller als jede Öllaterne oder Kerze, auch wenn der flackernde Schein etwas daran erinnerte.

Näheres konnte Gorian von seiner Position aus nicht erkennen. Deshalb erhob er sich und stellte sich so hin, dass er in Thondarils Handflächen blicken konnte.

„Es reicht nicht, zu sehen – du musst erkennen“, zitierte Thondaril ein Axiom des Ordens. Das Leuchten in seinen Händen verschwand, und wenig später wich auch die Schwärze aus seinen Augen. Er blickte den völlig verdutzten Gorian an, lächelte mild und erklärte: „Ich bin mit meinen Ordensbrüdern in Verbindung getreten, um zu erfahren, wie die Lage in Thisilien steht.“

„Und?“

„Man kann noch nichts Genaues sagen. Der Kaiser selbst ist von Olandor aus mit einem Ritterheer nach Thisilien unterwegs. Und mit ihm ziehen auch etliche Meister unseres Ordens aus allen fünf Häusern. Außerdem sammelt sich eine Kriegsflotte bei den Axtlanden. Es stehen viele Schlachten bevor, aber alles deutet darauf hin, dass die Frostkrieger nicht gekommen sind, um zu bleiben. Diesmal noch nicht.“

„Zeigt Ihr mir, wie Ihr mit Euren Ordensbrüdern in Verbindung tretet?“, fragte Gorian.

„Später. Soweit bist du noch lange nicht, und nicht einmal jeder Meisterschüler, der kurz vor der Prüfung im Haus der Magie steht, beherrscht dies in zufriedenstellender Weise.“

Es klopfte, dann steckte der Küchenjunge den Kopf durch den Türspalt. „Ich habe eine Botschaft für Euch, Meister Thondaril.“

––––––––




Gorian blieb allein in der Herberge zurück. Er blickte aus dem unverglasten Fenster des Dachzimmers hinaus in die enge Gasse, an der Artochs Herberge lag, und sah, wie Meister Thondaril in dem dichten Gewimmel, das dort auch um diese Zeit noch herrschte, verschwand. Die Dämmerung war bereits weit fortgeschritten, und überall waren Laternen angezündet worden. Segantia glich bei Nacht einem einzigen Lichtermeer. Aus den Tavernen drangen Musik und zänkische Stimmen. Manche der Tavernenwirte beschäftigten Oger, um Betrunkene vor die Tür zu setzen, und so verdienten sich die grünhäutigen Kraftprotze, die sich am Tag als Ringer auf einem der Stadtplätze verdingten, am Abend noch etwas dazu.

Aus irgendeinem Grund hatte Thondaril nicht gewollt, dass Gorian ihn begleitete. Genauso wenig hatte der Ordensmeister Gorian darin eingeweiht, was er von Centros Bal, dem gryphländischen Nordfahrer, eigentlich wollte. Dabei hätte es Gorian durchaus gereizt, dem legendären Reisenden einmal gegenüberzustehen. Aber er hatte das Gefühl gehabt, den Meister besser nicht mit diesem Wunsch zu bedrängen, und so hatte er es gelassen.

Als Thondaril zurückkehrte, war es bereits tiefe Nacht.

„Wir werden morgen in aller Frühe aufbrechen und mit Centros Bal in den Norden fliegen“, erklärte er, ohne dass Gorian danach gefragt hätte. „Er befindet sich auf dem Weg nach Nemorien und zu den Mittlinger Inseln und wird auch auf Gontland landen.“

Gontland war eine Insel im Delta des Flusses Gont, der die Grenze zwischen dem Estlinger Land und Nemorien bildete. Doch die Insel unterstand weder dem Herzog des einen noch dem des anderen Landes, sondern nur dem Kaiser, wobei dessen Befugnisse allerdings beschränkt waren, denn sie wurde vom Orden selbst verwaltet.

Dort befand sich die Ordensburg, und Gorian hatte in den Büchern seines Vaters Abbildungen davon gefunden, Kupferstiche zumeist, von denen er allerdings nicht wusste, wie originalgetreu sie waren. Immer wieder hatte er Nhorich über die Ordensburg befragt, aber Nhorich hatte sich bei diesem Thema immer recht wortkarg gegeben.

„Dann brauchen wir also nicht erst durch ganz Estrigge und das Estlinger Land zu reiten, um zur Ordensburg zu gelangen!“, sagte Gorian aufgeregt.

„Deine Entscheidung steht demnach fest, und du wirst dich dem Orden anschließen?“, fragte Thondaril. „Auch wenn du damit dem Willen deines Vaters zuwider handelst?“

„Ich muss meine eigenen Entscheidungen treffen.“

„Richtig. Aber Centros Bal wird uns nicht umsonst mitnehmen, und auch wenn die Mitnahme meines Steitrosses den Großteil der Summe ausmacht, kostet auch dein Gewicht. Also überleg es dir nicht wieder anders, sobald wir auf Gontland gelandet sind.“

Gorian nickte. „Meine Entscheidung steht fest.“

„Gut“, murmelte Thondaril.

„Aber meine Bedingung auch: Ich will die Ausbildung in allen fünf Häusern beginnen!“

„Das kann ich dir nicht versprechen, Gorian. Ich bin weder ein Oberer noch gar der Hochmeister persönlich. Aber ich gehöre dem Entscheidungskonvent an und werde dein Anliegen vorbringen. Das ist alles, was ich in dieser Sache für dich tun kann.“

Gorian zögerte. „Und Ihr würdet das vor dem Entscheidungskonvent auch befürworten, obwohl Ihr es doch eigentlich für einen Ausdruck von Vermessenheit und Größenwahn haltet, was ich verlange?“

Thondaril lächelte. „Du wurdest unter einem besonderen Zeichen geboren, Gorian. Und ich will nicht daran Schuld sein, dass dem Orden ein so überaus großes Talent entgeht, wie du es bist.“

Gorian atmete tief durch. Mehr, so schien es, konnte er nicht herausholen.



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