Читать книгу Schwertmeister der Magie: Drei Fantasy Sagas auf 2500 Seiten - Alfred Bekker - Страница 33

Kapitel 12: Schwerter

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Gorian erreichte das Portal und lief in die mondhelle Nacht.

Frogyrr hatte sich zurückgezogen und stand in einiger Entfernung hoch aufgerichtet da. Auf seinen Elfenbeinstab gestützt schien er geduldig abzuwarten, was sich im Inneren des Tempels tat.

„Ich habe dich erwartet!“, erreichte Gorian ein Gedanke, dessen brutale Intensität er jedoch schon gar nicht mehr spürte, weil sie von den Schmerzwellen überdeckt wurde, die von seiner Hand ausgingen. Frogyrr hatte offenbar neue Kraft gesammelt, der Blutfluss aus seiner leeren Augenhöhle war zum Erliegen gekommen. Ein leises, aber sehr tiefes Knurren drang zwischen den Zähnen seines kaum geöffneten Mauls hervor.

Gorian näherte sich ihm. Er konnte kaum einen klaren Gedanken fassen, aber da war etwas in ihm, das ihn ahnen ließ, was zu tun war. Er sammelte die Alte Kraft, versuchte so viel wie möglich davon zu konzentrieren. Seine Augen waren schwarz, und er spürte, wie der zuvor übermächtige Schmerz zurückgedrängt wurde. Seine Linke umfasste den Rächer, der ebenso wie er selbst von der flirrenden rotgoldenen Aura umgeben wurde, die immer stärker zu pulsieren begann. Die Kräfte, die Gorian in sich aufgenommen hatte, suchten einen Weg, um sich zu entladen und zu entfalten.

Gorian versuchte, die Handlungen seines Gegners zu erahnen, so wie sein Vater es ihm beigebracht hatte. Und so sah er den Angriff mit dem Elfenbeinstab voraus. Der achtbeinige Eisbär richtete das Ende mit dem Orxanier-Schädel gegen ihn und ließ schwarze Strahlen daraus hervorschießen. Aber sie verfehlten Gorian, brannten sich in die Erde, rissen dort einen Spalt in den Boden, der einen halben Schritt breit und fünf lang war.

Gorian war im letzten Moment zur Seite gewichen. Ob diese Strahlen ihm schaden konnten, solange ihn die rotgoldene Lichtaura umflorte, wusste er nicht. Er folgte einfach seinem Instinkt und einer inneren Stimme und hoffte, dass es seine eigene war und keine Einflüsterung.

Er schleuderte den Rächer, zielte dabei auf das zweite Auge des achtbeinigen Bärengottes. Doch diesmal schlug Frogyrr den Dolch zur Seite. „Einmal hast du mich auf diese Weise überraschen können, aber ein zweites Mal gelingt dir das nicht“, vernahm Gorian einen Gedanken, der so sehr in seinem Kopf dröhnte, dass er ein paar Augenblicke lang überhaupt nicht mehr wusste, wo er sich befand und wer er war; alles schien sich in einer Schmerzexplosion aufzulösen.

Der Frostgott näherte sich ihm. „Dies ist der Augenblick deiner Niederlage. Deine Gedanken sind schwächer als meine. Beinahe hättest du das Geflecht der Schicksalslinien derart durcheinander gebracht, dass dies ernsthafte Folgen gehabt hätte. Aber das alles wird jetzt nie geschehen, und an dich wird sich niemand erinnern ...“

Die letzten Worte der Gedankenstimme waren kaum noch zu verstehen, denn sie gingen in ein höhnisches Gelächter über.

Gorian kam allmählich wieder zu sich. Er streckte die Hand aus, um den Rächer wieder zu sich zu rufen. Die Klinge steckte im Boden, der Dolch zitterte, dann löste er sich aus der Erde und flog hoch, befand sich aber nicht unter Gorians Kontrolle, denn seine Flugbahn wurde abgelenkt.

Frogyrr öffnete das Maul und stieß einen kalten, nebeligen Frosthauch hervor, der den Dolch vollkommen einhüllte und sich in einen Eisblock verwandelte; darin eingeschlossen fiel der Dolch zu Boden und war für Gorian nicht mehr zu erreichen.

„Eine dritte Klinge aus Sternenmetall! Die beiden anderen sind bereits auf dem Weg zu Morygor – und er wird sicher erfreut sein, dass er diesen Dolch auch noch erhält!“ Zugleich erreichten Gorian Gedankenbilder, die eines der Schiffe zeigten, mit denen die orxanischen Frostkrieger in der Thisilischen Bucht gelandet waren. Sie ruderten über das Meer. Der Schlag einer dumpfen Trommel gab den Rhythmus vor.

In der Mitte des Schiffes befanden sich in einem mannshohen Eisblock die beiden Schwerter Sternenklinge und Schattenstich. Sternenklinge war noch dunkel verfärbt von dem getrockneten schwarzen Blut aus der Augenhöhle des achtbeinigen Bären. Und neben dem Eisblock befand sich – durchscheinend und beinahe schwebend – die Gestalt eines grazilen Caladran. Der Kopf war oval, die Wangenknochen hoch, das seidige blauschwarze Haar wurde durch ein breites, ledernes Stirnband zusammengehalten, das von einem Juwel auf seiner Stirn geschmückt wurde.

Der Caladran war noch sehr jung und kaum zum Mann gereift. Ein zynisches Lächeln spielte um seine dünnen Lippen. „Nichts geschieht, was nicht geschehen soll. Und wer weit genug voraussieht, erblickt die Zukunft, als wäre sie schon geschehen ...“ Während diese Gedanken Gorian erreichten, sprach die geisterhafte Erscheinung des Caladran in jener wohlklingenden Sprache, die Gorian einst auch im Hafen von Thiskaren vernommen hatte, als er den Besatzungsmitgliedern des Himmelschiffs lauschte. „Für dich gibt es keine Zukunft. Dein Leben ist ein toter Seitenzweig des Polyversums – eine Möglichkeit, die niemals genug Realität erhielt, um wirklich greifbar zu werden. Aber vielleicht werde ich dich in eine untote Existenz zurückrufen, falls ich deiner Kräfte und deines Talents bedarf ...“ Der geisterhafte Caladran stieß ein hämisches Lachen aus.

Es war Morygors Geist, der offenbar den Transport der Schwerter in den Norden höchstpersönlich überwachte. Und er zeigte sich in einer Gestalt, die vermutlich seinem Aussehen als junger Caladran entsprach und mit seinem derzeitigen körperlichen Erscheinen nichts gemein hatte.

Und in gewisser Weise schien er auch hier, vor dem Tempel der Alten Götter, anwesend zu sein, so wie Gorian bereits vermutet hatte. Er war in Frogyrrs Gedanken, und vielleicht kontrollierte er sogar dessen Handlungen.

Der Frostgott richtete den Elfenbeinstab wieder auf Gorian. Schwarze Strahlen schossen erneut aus dem Orxanier-Schädel, der diesmal förmlich aufglühte. Dazu stieß Frogyrr einen so tiefen Laut aus, dass Gorian im ersten Augenblick das Gefühl hatte, ihm würden die Eingeweide bei lebendigem Leib aus dem Körper gerissen.

Gorian hatte die Attacke seines Gegners unmittelbar vorausgesehen, wich ihr aber nicht aus. Es gab keine vernünftige Erklärung dafür, so zu handeln. Gorian folgte einfach einer plötzlichen Eingebung. Vielleicht wollte er einfach nur etwas tun, von dem er annahm, dass Morygor es nicht vorausgesehen hatte. Etwas, das in dem Muster, das der Herr der Frostfeste erkannt hatte, nicht vorkam, weil es eigentlich keinen Sinn ergab. Ein Element des Chaos, das ein scheinbar vorherbestimmtes Schicksal wieder völlig ungewiss werden ließ und ein fest geknüpftes Netz zerriss.

Wenn es noch eine Möglichkeit gab, überhaupt etwas zu bewirken, dann auf diese Weise, ging es ihm durch den Kopf, während ihn die schwarzen Strahlen aus dem Orxanier-Schädel erfassten. Die golden schimmernde Lichtaura, die Gorian schon die ganze Zeit umflorte, reflektierte die schwarzen Strahlen, die daran abglitten wie an einem Schutzkleid aus purem Licht, aber dann wurde Gorian zu Boden geschleudert, und er bekam die ungeheuren Kräfte zu spüren, die dem Frostgott zur Verfügung standen. Kräfte, die nicht nur von ihm selbst stammten, sondern ihm von einem anderen geliehen worden waren.

Morygor ...

Der achtbeinige Bär knurrte, und Gorian war einige Augenblicke lang benommen. Ohne die Aura und den Schutz jener Magie, die er aus dem Altar empfangen hatte, wäre er sicherlich nicht mehr am Leben gewesen.

Der achtbeinige Eisbär trat auf ihn zu, blickte mit seinem einen noch gesunden Auge auf Gorian herab, und sein Maul verzog sich auf eine Weise, die einem Lächeln glich. Für einen Moment veränderte sich der Kopf des Frostgottes, bekam Ähnlichkeiten mit dem Gesicht des jungen Caladran, der Gorian kurz zuvor erschienen war. Dann hob er den Elfenbeinstab. All die geschnitzten, fratzenhaft wirkenden Gesichter darauf zeigten auf einmal einen grimmigen, hasserfüllten Ausdruck, und selbst der grinsende Orxanier-Schädel am oberen Ende fletschte die Zähne.

Dann schnellte am Schaft eine Klinge hervor. Sie war so lang und breit wie ein mittleres thisilisches Schwert. Frogyrr umfasste den Stab mit sechs seiner acht Pranken und stieß zu.

Gorian wich zur Seite. Die ausgefahrene Klinge stach in den aufgeweichten und durch Frogyrrs unmittelbare Anwesenheit gerade wieder gefrierenden Boden. Gorian nahm alle Kraft zusammen, die er aufzubringen vermochte, und legte sie in eine einzige Bewegung. Er griff nach dem Stab, packte mit beiden Händen zu, instinktiv auch mit der verkohlten Rechten, und Blitze zuckten daraus hervor, durchdrangen die ihn umgebende Aura und knisterten den Stab empor. Dann zerplatzte die Aura mit einem ohrenbetäubenden Knall. All die uralte Kraft, die er in sich aufgenommen hatte, gab er in diesem einen Moment ab.

Nur dieser eine Augenblick blieb ihm, das war das Einzige, was ihm dabei von vornherein klar gewesen war. Alles andere war ein Spiel auf Risiko, wie es der Priester in der Schule von Twixlum immer vergeblich verdammt hatte.

Das rotgoldene Feuer fraß sich innerhalb eines Herzschlags den Stab entlang, und die hasserfüllten, grimmigen Fratzen darauf wurden zu angstvoll schreienden Gesichtern, die fast menschlich wirkten.

Der Orxanier-Schädel an der Spitze des Stabes löste sich, fiel herab und verwandelte sich noch im Fallen wieder in eine Schädelspinne, wie Gorian es bereits einmal erlebt hatte. Sich abfedern, landete sie auf ihren acht Beinen, von denen jedoch drei bereits vom rotgoldenen Feuer befallen waren. Die Schädelspinne krabbelte, schrille Laute ausstoßend, über den Boden und machte sich Richtung Waldrand davon.

Der achtbeinige Bär ließ unterdessen den Stab los, dessen Elfenbein von dem magischen Feuer geradezu durchdrungen wurde. Frogyrr taumelte schreiend zurück, denn drei, vier seiner Pranken waren ebenfalls in Brand geraten. Die Flammen fraßen sich empor, der Geruch von verbranntem Fleisch erfüllte die Luft, vermischt mit einem beißenden Gestank, den Gorian nicht einzuordnen vermochte. Frogyrr schrie so schrill auf, wie Gorian es zuvor noch nie von ihm gehört hatte. Zu einem zerstörerischen Tiefenlaut war er offenbar nicht mehr in der Lage. Die Ähnlichkeit mit dem Caladran-Antlitz verschwand.

„Dafür wirst du bezahlen!“

Wer ihm diesen Gedanken sandte, vermochte Gorian nicht mit Sicherheit zu bestimmen. Morygor oder Frogyrr – oder Teile ihrer beider Seelen in einem gemeinsamen Schrei des Entsetzens darüber, dass sich ein vorausberechnetes Schicksal nicht erfüllt hatte?

Gorian erhob sich. Er war überrascht darüber, keine Schwäche zu spüren, sondern vielmehr Erleichterung. All die Kraft, die in ihm gewesen war, hatte er abgeben können. Er hob die Hand, die bei der Berührung des Siebenerkreuzes verbrannt worden war, doch auf einmal war sie wieder vollkommen unversehrt.

Es war ein Zauber, der ihn getäuscht hatte und vielleicht auch hatte prüfen sollen, ging es ihm durch den Kopf. Eine Illusion, die ihn schwächen sollte und die er nun durchschaute.

Frogyrr wich vor ihm zurück, während Gorian Ar-Dons Gedankenstimme vernahm.

„Warum vollendest du es nicht?“, fragte der Gargoyle, und Gorian spürte plötzlich mit unangenehmer Intensität die Anwesenheit des steinernen Monstrums. Er drehte sich um.

Der Gargoyle zwängte sich durch das Portal des Tempels. Er musste dabei die Körperform verändern, denn inzwischen hatte er noch weitere Gegner getötet und ihre Masse zu Stein verwandelt, um sie seinem eigenen Leib hinzuzufügen.

Schlangenartig in die Länge gezogen, kroch er aus dem Tempel. Erst im Freien bildeten sich wieder Flügel aus, die sogleich gespreizt wurden wie in einer Drohgebärde mancher Vögel, die einander aus dem Revier zu vertreiben versuchten.

„Na los! Oder hast du etwa Angst? Sieh dir Frogyrr an, diesen Lakaien von Morygor, dem er Gehorsam geschworen hat und der manchmal sogar von seinem Körper Besitz ergreift. Er brennt! Du hast ihn beinahe besiegt, aber es fehlt noch der letzte Schritt, um dich ein Held nennen zu können, wie zweifellos Meister Domrich einer war!“

Gorian schluckte. Er sah das Orxanier-Blut von den Reißzähnen tropfte, die sich im Gesicht des Gargoyle ausgebildet hatten.

Frogyrr gab fürwahr einen erbärmlichen Anblick ab. Er wirkte wie ein gequälter Tanzbär, wie er mitunter vom reisenden Volk auf Jahrmärkten präsentiert wurde, auch wenn diese Tiere von der Größe des Frostgottes weit entfernt waren.

Der Gargoyle stöhnte auf, so als wollte er Gorian damit deutlich machen, wie sehr er dessen Zögern missbilligte.

„Du solltest kein Mitleid mit dieser Kreatur haben, die von sich selbst behauptet, ein Gott zu sein, und doch nur eine willenlose Sklavenkreatur ist, die nicht mehr Seele besitzt als ein Werkzeug oder eine Waffe!“

Der Gargoyle bildete einen Arm aus, der erschreckend menschlich wirkte – allerdings war er viel größer und kräftiger als jeder menschliche Arm, den Gorian je gesehen hatte, und davon abgesehen bestand er natürlich aus Stein.

Ar-Don streckte die geöffnete Pranke aus, und seine Augen wurden vollkommen schwarz. Diese innere Kraft, die sich nun in ihm zeigte, war die gleiche wie bei den Meistern des Ordens, erkannte Gorian schaudernd.

Der Stab bewegte sich und flog in Ar-Dons geöffnete Pranke. Dann schleuderte ihn der Gargoyle mit einer wuchtigen Bewegung wie einen Speer. Die ausgefahrene Klinge fuhr dem hilflosen Frogyrr mitten in die Brust und trat auf der Rückseite wieder aus.

Das rotgoldene Feuer hatte sich inzwischen von den Tatzenarmen bis zum Rumpf vorangefressen. Zuvor noch auf den hinteren Tatzenpaar stehend, fiel Frogyrr brüllend auf den Rücken. Dann bewegte er sich nicht mehr. Schwarzer Rauch drang ihm aus Nase und Mund wie die Essenz eines üblen Geistes, stieg auf in den Himmel und verwirbelte.

Wenige Augenblicke später war von dem achtbeinigen Bär nichts als verkohlte Knochen übrig.

Ar-Don stieß einen fauchenden Laut aus, wobei sich sein steinernes Drachenmaul, in dem sich nun die Hauer eines Orxaniers zeigten, noch einmal enorm vergrößerte, während sich gleichzeitig Flügel und Hinterbeine zurückbildeten. Das nashorngroße Wesen machte ein paar Schritte und schüttelte sich dann wie ein Hund, der aus dem Wasser gestiegen war. Teile der äußeren Schichten seines steinernen Körpers lösten sich, fielen als grauer Staub von ihm ab. Zugleich erreichte Gorian ein sehr starker, den Gargoyle offenbar im Moment vollkommen beherrschender Gedanke. „Will Ar-Don bleiben ... Nur Ar-Don ... Andere fort ...“

Der von seinem Bann befreite Gargoyle bewegte sich mit zögernden Schritten auf den Waldrand zu, blieb dabei immer wieder stehen und schüttelte sich erneut. Manchmal stieß er dabei Geräusche aus, die zunächst an die rauen, kehligen Stimmen der Orxanier erinnerten, deren Körpermasse er verwandelt und in sich aufgenommen hatte. Aber je mehr dieser Substanz als Staub von ihm abfiel, desto mehr wurden die Laute, die er von sich gab, zu einem Zischeln.

Schließlich war er nur noch so groß wie eine Katze. Für einen kurzen Moment bildete sein Leib zwei Köpfe aus, von denen einer Meister Domrich ähnelte, der andere eher echsenhaften Charakter hatte. Beide verschmolzen miteinander und wurden zu einem einzigen, im Verhältnis zum Gesamtkörper recht großen Haupt.

„Hast du nicht versprochen, mir zu dienen?“, dachte Gorian. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn sich Ar-Don nun, da der Bann von ihm genommen war, nicht mehr an sein Versprechen gebunden fühlte.

Der katzengroße Gargoyle blieb stehen, drehte sich um und blickte Gorian an, so als hätte er den eigentlich gar nicht als Botschaft gemeinten Gedanken vernommen.

Seine Farbe wechselte von Steingrau in ein dunkles Rot, das im Mondlicht leicht schimmerte. Der mittlerweile überwiegend echsenhafte und im Verhältnis zum Restkörper recht große Kopf schrumpfte, dafür vergrößerten sich die Flügel, und das Wesen flatterte auf, flog zu dem immer noch in einem Eisblock eingefassten Dolch namens Rächer. Der Eisblock schmolz zwar bereits, aber angesichts seiner enormen Größe hätte es Tage gedauert, bis er den Dolch freigegeben hätte.

Der Gargoyle vergrößerte die Krallen seiner echsenhaften Pranken zu dornartigen Fortsätzen. Seine Augen veränderten ihre Färbung von Pechschwarz in Grellgelb. Im Vorüberfliegen trafen zwei Schläge der dornbewehrten Pranken den Eiskristall und ließen ihn in mehrere Stücke zerfallen, die sich, wie von magischer Hand zerschlagen, abermals teilten.

Der Dolch fiel zu Boden und lag zwischen all den kleinen, an Hagelkörner erinnernden Eiskristallen.

„Schütze dich ... selbst!“, erreichte Gorian neben einem Schwall wirrer innerer Bilder noch ein letzter klarer Gedanke des Gargoyle. Dann drehte Ar-Don eine Runde über den Tempel der Alten Götter und verschwand in der Dunkelheit der Baumkronen.

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Die zahlreichen Frostkrieger, die noch am Waldrand abgewartet hatten, was geschah, hatten sich – sofern sie das noch konnten – davongemacht. Viele allerdings lagen reglos dahingestreckt am Boden, denn Frogyrr hatte ihnen die Existenzkraft entzogen, um den magischen Schutzschirm zu brechen, der den Tempel der Alten Götter umgeben hatte.

Einige aber kauerten noch zwischen den Bäumen, die meisten in der Dunkelheit der Nacht kaum sichtbar. Sie hatten gesehen, was geschehen war. Und sie wussten genau, dass sie ohne Frogyrr nicht mehr lange in diesem für sie so warmen Land existieren konnten.

Gorian beschloss, bis zum Ende der Nacht beim Tempel zu bleiben. Das Mondlicht erlaubte es ihm hier zumindest, einen Feind rechtzeitig zu erkennen. Sehen ist eine Voraussetzung des Voraussehens, und das Voraussehen ermöglicht das Überleben, lautete ein Axiom des Ordens, an das sich Gorian in diesem Moment erinnerte. Das Ziel des Meisters aber ist die Ahnung trotz vollkommener Dunkelheit ...

Gorian nahm an, dass sein Vater und sein Großvater dieses Stadium einst erreicht hatten. Und eines Tages würde vielleicht auch er so weit sein. Vorausgesetzt, er schloss sich tatsächlich noch dem Orden an.

Ob er das wirklich tun sollte, war ihm allerdings längst nicht mehr klar. Innerlich war er zerrissen, und die Zukunft erschien ihm wie ein einziges, weitgehend nebelverhangenes Chaos, in dem sich noch lange keine festen Formen und Umrisse abzeichneten.

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Den Rest der Nacht kauerte er am Portal des Tempels. Trotz der enormen Erschöpfung aufgrund der Strapazen der letzten Zeit wäre es ihm unmöglich gewesen, auch nur einen einzigen Augenblick Schlaf zu finden. Zu bedrängend waren die Gedanken, die ihn beschäftigten. Bohrende Fragen verlangten nach Antworten. Nun, da sein Überleben zumindest für den Moment gesichert war, meldeten sich all die inneren Stimmen zurück, die zuvor durch die Umstände vorübergehend zum Schweigen gebracht worden waren.

Vor seinem inneren Auge sah er die rudernden Frostkrieger auf ihrem Rückweg in den Norden und die in einem Eisblock eingefassten Klingen seines Vaters. Wie sollte er Morygors Herrschaft je beenden, wenn ihm nicht einmal mehr jene Waffen zur Verfügung standen, die dazu geschaffen worden waren, diese Aufgabe zu erfüllen? Wie sollte er dem Vermächtnis gerecht werden, das ihm zuteil geworden war, ohne dass er sich danach gedrängt oder es sich ausgesucht hatte? Ein Vermächtnis, das aus einer besonderen Begabung und dem schicksalhaften Zeitpunkt seiner Geburt bestand – und zwei besonderen Schwertern, die sich nun in der Hand seines ärgsten Feindes befanden.

Schließlich dämmerte der Morgen. Eine warme Brise wehte durch die Bäume, und inzwischen gab es fast nirgends noch Eis oder Schnee. Der durch Magie bedingte kurze Winter, der auf völlig widernatürliche Weise dieses Land heimgesucht hatte, schien den für diese Jahreszeit in dieser Gegend normalen Verhältnissen zu weichen. Kein kalter Hauch eines Frostgottes sorgte noch dafür, dass der Boden gefror oder sich ein Panzer aus Eis um die Bäume legte.

Überall tropfte es von den Baumkronen und ebenso vom Dach des Tempels der Alten Götter. Die Sonne schickte ihre ersten Strahlen durch die vom magischen Zwischenwinter teilweise entlaubten Baumkronen, deren zuvor gefrorene Blätter auf dem aufgeweichten, immer morastiger werdenden Boden lagen.

Gorian machte sich auf den Weg. Er entschied, dass sein nächstes Ziel Segantia war, die große Handelsstadt am Estrigger Ufer. Vielleicht die erste Etappe auf dem Weg zur Ordensburg, vielleicht aber auch einfach nur ein Ort, an dem er sich ausruhen und entscheiden konnte, wie es weitergehen solle. Zurück in Richtung Thisilische Bucht zu gehen, erschien ihm kaum ratsam, schließlich musste er damit rechnen, überall noch auf versprengte Einheiten der Frostkrieger zu stoßen. Selbst wenn sie sich auf dem vorläufigen Rückzug befanden, waren sie gefährlich.

Gorians Füße versanken bis zu den Knöcheln im Morast. Überall zwischen den Bäumen in unmittelbarer Nähe der Lichtung lagen die leblosen, ihrer Existenzkraft beraubten Frostkrieger. Ein bestialischer Gestank verbreitete sich, ein Pesthauch der Verwesung und des Verfalls, der bei den Untoten bisher durch Magie aufgehalten worden war und sich dafür nun umso heftiger bemerkbar machte.

Zwischenzeitlich hatte Gorian das Gefühl, kaum Luft zu bekommen, so drückend hing dieser Leichengestank über dem Land. Es dauerte Stunden, bis sich Gorian so weit entfernt hatte, dass er nicht mehr zu riechen war.

Er traf wieder auf die alte Straße nach Segantia und folgte ihr. Dutzende von Eiskrähen hockten auf den Bäumen zu beiden Seiten der halb von Sträuchern und Moosen überwachsenen Strecke. Sie krächzten durcheinander und schienen sich darüber zu wundern, welch fremder Wille sie in dieses Land geführt hatte, in dem sie ihrer Natur nach niemals hätten zu Hause sein können. Herrenlos und verwirrt waren sie, aber im Moment kaum eine Bedrohung. Manchmal stoben sie davon, um sich einige Schritt entfernt erneut auf Ästen niederzulassen.

Am frühen Abend musste Gorian einer Gruppe von Frostkriegern ausweichen und schlug sich in die Büsche, um sich zu verbergen. Die Frostkrieger marschierten schweigend dahin und wirkten keineswegs so entkräftet wie jene, die den Geschehnissen beim Tempel der Alten Götter beigewohnt hatten.

Sie bemerkten Gorian nicht. Aber nach dieser Begegnung hielt dieser sich etwas abseits der alten Straße und schlug sich querfeldein durch die Büsche. Ihm kam der Gedanke, dass er die Lage vielleicht falsch eingeschätzt und Frogyrr die Eroberung Thisiliens durch die Frostkrieger viel weiter vorangetrieben hatte, als er es bisher geahnt hatte. Er konnte ja nicht wissen, wie viele und wo überall Schiffe der orxanischen Untoten angelandet waren und wie groß das Gebiet war, das sie unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Es war sogar denkbar, dass Frogyrr nicht der Einzige unter den Eisgöttern war, den Morygor nach Thisilien gesandt hatte.

Und selbst wenn diese Eiskrieger nun als herrenlose Untote durch die Lande irrten, war sicherlich nicht mit ihnen zu spaßen.

In dem Waldgebiet, durch das er kam, entdeckte Gorian Fußspuren, die nur von Orxaniern stammen konnten. Er hatte diese Spuren schon früher immer gut zu erkennen gewusst, wenn der Boden nach einem Frühjahrsregen aufgeweicht war und Gaerth oder einer der anderen Orxanier auf dem Hof seines Vaters welche hinterlassen hatte.

Aber diese Spuren stammten ganz gewiss nicht von freien Orxaniern, die vor den Horden des Herrn der Frostfeste ins Heilige Reich geflohen waren und im Herzogtum Thisilien eine neue Heimat gefunden hatten. In dieser Gegend gab es keine Höfe, auf denen sie sich verdingen konnten.

Es musste sich um untote Frostkrieger handeln. Offenbar waren sie in noch größerer Zahl ausgeschwärmt, um ihn zu fangen, als er bisher geahnt hatte. Und nun irrten diese Untoten durch die thisilischen Wälder, versuchten vielleicht zurück zur Küste zu gelangen, um noch eines der Ruderschiffe zurück in den Norden zu erwischen. Aber vielleicht ahnten manche von ihnen auch, dass sie sich nun allein durchschlagen mussten, da Frogyrr sie nicht mehr anführen konnte und es ihrem Herrn und Meister Morygor wahrscheinlich vollkommen gleichgültig war, was aus ihnen wurde.

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In der nächsten Nacht kampierte Gorian an einem Bach, und als er von dem kühlen klaren Wasser trank, musste er unwillkürlich an Beliak und dessen besondere Beziehung zu den Wassergeistern denken. Wie sehr wünschte er sich doch, dass der Adh einfach aus der Erde herauswachsen würde, um ihm erneut mit Rat und Tat beizustehen. Aber sehr wahrscheinlich musste er sich von der Hoffnung, Beliak irgendwann einmal wiederzusehen, verabschieden. Der untote Langzahnlöwe, mit dem zusammen er in die Tiefe des Untererdreichs gestürzte war, war gewiss auch dort ein grausamer, überlegener Gegner. Beliak hatte sich für Gorian geopfert und vermutlich dort unten in diesem Reich der Tiefe, in das Gorian ihm nicht folgen konnte, ein furchtbares Ende gefunden.

Allein schon um seinetwillen durfte Gorian seinen Plan nicht aufgeben. Er lauschte den Geräuschen des Waldes, während er gegen einen knorrigen Baumstamm lehnte und etwas Schlaf zu finden versuchte. Er hatte einige der Beeren entdeckt, die er zusammen mit Beliak verzehrt hatte, und aß diese. Ein bitterer Geschmack blieb dabei in seinem Mund zurück.

Er verzichtete auf ein Feuer. Sein Vater hatte ihm zwar gezeigt, wie man auch unter einfachsten Bedingungen und mit nur geringfügiger Anwendung von Magie und dem Wissen über die Brennbarkeit bestimmter Pilze Feuer machen konnte, aber Gorian fürchtete, damit seine Feinde anzulocken.

Möglich, dass die herumvagabundierenden Reste jener Frostkrieger-Horde, die nach Thisilien gekommen war, um ihn zu töten, ihren Auftrag längst vergessen hatten. Vielleicht verfluchten sie inzwischen sogar denjenigen, der sie befehligt hatte und sie nun ihrem Schicksal überließ. Aber nach allem, was er von seinem Vater und anderen über Morygors Kreaturen erfahren hatte, zeichneten sie sich vor allem dadurch aus, dass sie den Willen ihres Herrn bedingungslos und bis in die letzte Konsequenz umzusetzen versuchten, ohne Rücksicht auf sich selbst.

Gorian erinnerte sich daran, wie ihm bei den Erzählungen seines Vaters geschaudert hatte, wenn dieser davon berichtete, was mit den Untoten geschah, sobald sie Geschöpfe Morygors geworden waren. Wie sie sich veränderten und anfangs vielleicht sogar noch deutliche Spuren ihrer früheren Seelen präsent blieben, sodass es diejenigen kalt berührte, wenn sie einem Untoten begegneten, den sie in dessen früherem Leben gekannt hatten. Aber je länger die Untoten ihr neues Dasein fristeten, desto unwichtiger wurde das, was sie einst gewesen waren. Es hieß, dass Morygor manche von ihnen einfach vernichtete, weil sie mitunter auch die Fähigkeiten ihres früheren Lebens mit der Zeit verloren und dann für den Herrn der Frostfeste keinen Wert mehr hatten.

„Was müssen die Meister des Ordens für einen Mut haben, dass sie es wagen, gegen Morygor zu kämpfen“, hatte Gorian damals zu seinem Vater gesagt. „Schließlich ist doch jeder von ihnen in Gefahr, selbst zu einer jener Kreaturen zu werden, die er bekämpft, wenn er Morygor in die Hände fällt.“

„Ja, das ist wahr“, hatte ihm sein sehr nachdenklicher und in sich gekehrter Vater geantwortet, doch Gorian hatte sofort gespürt, dass dies nicht alles war, was Nhorich ihm darüber sagen wollte. Auf seiner Stirn hatte sich eine tiefe Furche gebildet, die seinem Gesicht einen Ausdruck tief empfundener Qual und purer Verzweiflung verlieh. Aber Gorian hatte geduldig abgewartet, bis Nhorich schließlich fortfuhr: „Das Schlimmste ist nicht, dass so etwas mit jenen geschieht, denen das Schicksal bestimmt hat, in die Gewalt des Feindes zu geraten ...“

„Was ist es dann, Vater?“

Den Blick, mit dem Nhorich ihn angesehen hatte, sollte Gorian nie wieder vergessen. „Das Schlimmste ist, dass es auch mit solchen geschieht, die nie in Morygors Gefangenschaft gerieten, sondern sich ihm heimlich anschließen. Sie verändern sich auf gleiche Weise, werden zu bösartigen Kreaturen und tragen das Gift ihrer Gedanken seit langem in den Orden, sodass es dort wohl schon übermächtig geworden ist.“

„Du sprichst von Spionen, Vater!“

„Nein, ich spreche von etwas viel Schlimmeren und Niederträchtigeren. Sie Spione zu nennen wäre viel zu milde. Sie sind Diener des Bösen selbst, und unter einer gewöhnlichen Ordenskutte eines Heilers oder dem geschlossenen Helmvisier eines Schwertmeisters verbirgt sich mitunter eine Fratze, aus der Morygors verkommener Geist hervorschaut.“

Gorian fiel dieses Gespräch wieder ein, während er den wabernden Nebelschwaden zusah, die aus dem Bach ans Ufer krochen. Immerhin war in dieser Nacht der Ruf einer Eule zu hören, was vielleicht als Zeichen gedeutet werden konnte, dass sich doch alles wieder normalisierte.

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Am nächsten Tag entdeckte Gorian den Kadaver eines Riesenelchs, der offenbar von einer Gruppe untoter Frostkrieger erlegt worden war, wie die großen, plumpen Orxanier-Fußspuren in der Nähe und rund um das eigentliche Geschehen zeigten. Das Fleisch des Elchs war anscheinend in großen Brocken aus dem Körper gerissen und roh verschlungen worden. Gut ein Drittel des Kadavers war auf diese Weise verzehrt worden, und dabei hatten die Frostkrieger ungeheuer viel Blut verspritzt. An manchen der Bäume in der Umgebung waren mit diesem Blut Zeichen gemalt worden. Sehr grob und hastig hatten die Orxanier diese Symbole, die Gorian nicht kannte, auf die Rinden geschmiert.

In sehr ferner Zeit waren die Orxanier einmal dafür bekannt gewesen, rohes Fleisch zu essen, und soweit Gorian von Gaerth erfahren hatte, spielte dies auch bei vielen ihrer Riten immer noch eine wichtige Rolle: Rohes, blutiges Fleisch war für sie das Sinnbild für Lebenskraft schlechthin, auch wenn Gorian die Orxanier auf dem Hof seines Vaters immer nur gegartes Fleisch hatte essen sehen. Nur bei sehr seltenen Ritualen zur Heilung oder zur Totenbeschwörung wurde noch rohes Fleisch verzehrt, wie Gaerth ihm einmal erzählt hatte, ohne nähere Einzelheiten preiszugeben. „Darüber sprechen wir nicht mit Außenstehenden“, hatte der Orxanier damals gesagt. „Und dazu zählen in diesem Fall auch außenstehende Freunde.“

Was immer auch die Frostkrieger mit dem rohen Elchfleisch getan hatten, es diente ihnen offenbar zur Anwendung einer Magie, die es ihnen womöglich erlaubte, auf sich gestellt und ohne die Unterstützung ihrer Herren etwas länger in diesem für sie viel zu warmen Land zu existieren.

Diese herumstreunenden Untoten, die möglicherweise durch ihre Blutrituale und den Genuss des rohen Fleisches zu neuer Existenzkraft gelangten, waren vielleicht sogar noch unangenehmer, als wenn sie bloße Lakaien des Frostreichs geblieben wären.

Gorian war jedenfalls gewarnt.

In der Nacht kletterte er auf einen knorrigen Baum mit sehr dickem Stamm, der sich ungefähr in Kopfhöhe eines großen Mannes gabelte. Dort legte er sich hin und fiel in einen tiefen Erschöpfungsschlaf.

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Gorian erwachte bei den ersten Sonnenstrahlen, die ihm durch die Baumkrone ins Gesicht schienen. Er fühlte, dass etwas nicht so war, wie es sein sollte. Ein warmer Wind strich durch den Wald und wehte das durch Frogyrrs Frosthauch vorzeitig gefallene, noch grüne Laub vom Boden auf. Aber anders als in der Nacht waren keine Tier- oder Vogelstimmen mehr zu hören, dafür jedoch Laute, von denen Gorian zunächst glaubte, der Wind würde sie erzeugen. Dann aber erkannte er, dass es die gleichmäßige, röchelnde Atmung von mehreren Kreaturen war, die an einen rhythmischen Singsang erinnerte.

Gorian schreckte hoch und sah unter sich ein Dutzend blutverschmierte orxanische Untote, die ihn anstarrten. Manchem hingen noch blutige Fetzen von Fell oder Haut von den Hauern, und es war nicht zu erkennen, ob diese Überreste unaussprechlicher Ritualpraktiken nur tierischen oder gar menschlichen Ursprungs waren.

Auch die Rüstungen, die Kleidung und die Waffen der Orxanier waren über und über mit Blut besudelt. Ein aasiger Geruch traf Gorian, wie er aus dem Schlund einer Waldhyäne nicht schlimmer sein konnte.

Die Amulette des Frostreichs waren vor lauter Blut kaum noch auszumachen. In den Augen der Wesen glühte ein unheimliches Feuer. Ein Hunger nach rohem Fleisch, nach Blut – und dem Leben selbst, das sie auf diese Weise in sich aufzunehmen hofften, auch wenn es kaum mehr als eine Scheinexistenz war, die sie dadurch erlangen konnten. Diejenigen, die sie einst gewesen waren, gab es schon längst nicht mehr, auch wenn ihre Körper sich bewegten. Sie waren zu etwas Bösartigem geworden, das jedem Betrachter vor Angst und Schrecken erstarren ließ.

Einer der Orxanier knurrte, schlug mit dem gespaltenen Schwert gegen die Waffe eines anderen Frostkriegers, und bald folgte einer nach dem anderen seinem Beispiel, sodass schon ein paar Augenblicke später ein rhythmisches Geklapper zu hören war. Das röchelnde Atmen wurde durch dumpfe Rufe abgelöst, Wörter in orxanischer Sprache, von denen Gorian nicht ein einziges verstand.

Seine Hand glitt zum Griff des Rächers, der einzigen Waffe, die er bei sich trug. Wie konnte es sein, dass er nichts davon bemerkt hatte, wie sich diese grausamen Gestalten um den Baum versammelten, auf dem er geschlafen hatte? Sein Vater wäre auf diese Weise kaum zu überraschen gewesen, aber dazu gehörte ein Maß an Geistesbeherrschung, zu der Gorian wohl noch nicht fähig war.

Er schätzte seine Möglichkeiten ab. Vielleicht konnte er einen oder zwei der blutbesudelten Krieger mit dem Rächer niederstrecken, aber die anderen würden ihn in Stücke reißen.

Bewahre Ruhe und sammle alles an Kraft, was du aufzubieten vermagst, versuchte er sich innerlich auf den bevorstehenden Angriff vorzubereiten. Zuerst kommt die Kontrolle des Geistes, dann die des Körpers und ganz zum Schluss erst die des Gegners oder der Umstände.

Seine Augen wurden schwarz.

Einer der Frostkrieger brüllte laut auf. Er klang in diesem Augenblick eher wie ein Tier. Die Gier nach dem Blut und dem rohen Fleisch seines Opfers war so stark, dass Gorian sie spüren konnte. Ein Schwall von grausigen Bildern überschwemmte für einen Augenblick seinen Geist: Hauer, die in blutige Körper geschlagen wurden, Fleischbrocken, die herausgerissen und in die Höhe geschleudert wurden, und die aufglühenden Augen der Untoten, deren durch Magie erzeugtes Scheinleben sich in etwas noch sehr viel Düsteres verwandelte.

Einer der Orxanier stampfte auf den Baum zu und kletterte den Stamm hinauf. Gorian sah den Schwerthieb voraus, wich zur Seite, und die Klinge fuhr dicht neben ihm ins Holz. Anstatt den Hieb abzulenken oder mithilfe der Magie zu schwächen, hatte Gorian genau das Gegenteil getan: Er hatte ihn noch verstärkt, sodass sich die gespaltene Orxanier-Klinge so tief in das Holz grub, dass der Frostkrieger sie nicht mehr sogleich herausziehen konnte, und im nächsten Moment hatte ihm Gorian bereits die Schwertpranke mit der scharfen Schneide des Rächers abgetrennt; zugleich stieß er einen Kraftschrei aus, denn ohne die Unterstützung der Magie wäre er wohl niemals stark genug gewesen, den Handwurzelknochen einer orxanischen Pranke zu durchtrennen, ganz gleich, ob es sich nun um ein untotes oder ein lebendes Exemplar dieser Art handelte.

Ein blitzschnell ausgeführter Tritt vor den Brustkorb ließ den Orxanier vom Baum stürzen. Aber im letzten Moment fasste dieser mit der verbliebenen Pranke Gorians Fuß und riss ihn mit sich.

Gorian fiel verhältnismäßig weich, denn er landete genau auf dem Körper des Orxaniers, wobei der Dolch dem Untoten in die Brust gerammt wurde. Die Klinge bohrte sich bis ans Heft in seinen Körper.

Aber offenbar nicht tief genug. Der nun einhändige Orxanier rollte sich herum und warf Gorian dabei von sich, dann stürzte er sich auf ihn und riss das Maul auf, um seine Hauer Gorian in die Schulter zu schlagen.

Plötzlich wirbelte eine Klinge wie aus dem Nichts durch die Luft und trennte dem Untoten den Kopf vom Rumpf. Er rollte über den Boden, während sich die Klinge um sich selbst drehte und zu dem zurückkehrte, der sie geschleudert hatte.

Nur ein Schwertmeister des Ordens der Alten Kraft kämpfte auf diese Weise. Gorian stieß den Körper des geköpften Frostkriegers von sich, dabei einen Kraftschrei ausstoßend, und rollte sich zur Seite, kurz bevor dicht neben ihm ein Speer tief in den Boden stach.

Er blickte auf, als er das Wiehern eines Pferdes vernahm, das sich mit dem Kraftschrei eines Schwertmeisters mischte. Die Gestalt eines Reiters hob sich dunkel gegen das Sonnenlicht ab. Mit der Rechten fing er das Schwert, das zu ihm zurückkehrte, aus der Luft, während sein Pferd auf die Hinterhand stieg.

Die Orxanier stießen Laute aus, die gleichermaßen Verwunderung, Zorn und Wut ausdrückten. Einer von ihnen schoss einen Pfeil auf den Reiter ab, doch dieser parierte den Schuss mit einem schnellen Hieb seiner Klinge, und das so präzise, dass er wohl vorausgeahnt hatte, wo ihn der Pfeil ansonsten getroffen hätte. Ein gut gezielter Speerwurf wurde ebenso abgewehrt wie der nächste Pfeil.

Der dunkle Reiter ließ die Klinge in seiner Rechten so schnell wirbeln, dass sich ein bläulicher Lichtflor um das Metall bildete. Mit einer traumwandlerischen Sicherheit traf sein Schwert auch den dritten auf ihn abgeschossenen Pfeil und hieb ihn in der Mitte durch.

Dann trieb er sein Pferd voran, genau auf die Gruppe der blutbesudelten Frostkrieger zu, die völlig konsterniert waren. Niemand kümmerte sich noch um Gorian.

Ehe die Frostkrieger sich versahen, hatte der dunkle Schwertmeister bereits einem weiteren von ihnen den Kopf von den Schultern geschlagen und sein Schwert einem anderen in den Oberkörper versenkt, von der Schulter abwärts bis zum untersten Rippenbogen. Während er es wieder aus dem gefrorenen Eiskörper zog, bevor dieser in sich zusammenbrach, murmelte er einen magischen Spruch, der die Flugbahn einer nach ihm geworfenen mächtigen orxanischen Axt derart veränderte, dass sie nicht seinen Kopf, sondern einen morschen Baum zwanzig Schritte weiter spaltete.

Die Orxanier wichen vor dem Fremden zurück.

Das Sonnenlicht schien so durch die Baumwipfel, dass es für einen Moment sein Haupt traf. Sein Gesicht war dennoch nicht zu erkennen, denn er trug einen dunklen Helm mit Wangen- und Nasenschutz, der kaum mehr als die Augen und die Mundpartie freiließ.

Er ritt nun freihändig. Offenbar beherrschte er das Tier mithilfe eines Rosszaubers, wie er bei den Schwertmeistern üblich war. Als einer der Orxanier erneut eine Axt schleudern wollte, riss er einen Dolch unter seinem Umhang hervor und warf ihn mit einem Schrei nach dem Angreifer. Der Dolch durchbohrte die Handwurzel des Orxaniers genau in dem Moment, in dem dieser mit der Axt ausholte. Er stöhnte auf, während seine Waffe einen der anderen Frostkrieger traf und dieser zu Boden gerissen wurde. Die Axtklinge hatte ihm Arm und Schulter beinahe abgetrennt. Er schleuderte noch sein Schwert nach dem dunklen Reiter, aber dieser Wurf ging ins Leere.

Der Reiter schwang sich von seinem Pferd, das sich etwas entfernte, aber sich offenbar nach wie vor unter seiner gedanklichen Kontrolle befand. Er fasste den Griff seiner Klinge nun mit beiden Händen und sagte ein paar Worte in orxanischer Sprache, die er gut zu beherrschen schien, und obwohl das fremde Idiom den Klang seiner Stimme etwas verfälschte, erkannte Gorian in diesem Moment, mit wem er es zu tun hatte.

Thondaril!

Und da – Gorian sah nun auch die beiden Meisterringe an seiner Hand!

Ja, er musste es sein, denn so viele gab es in den Reihen des Ordens nicht, die es geschafft hatten, in zwei Häusern die Meisterprüfung zu bestehen.

Erinnerungen stiegen in Gorian auf. Erinnerungen an den Besuch des zweifachen Ordensmeisters bei seinem Vater, als Thondaril so lange mit ihm unter vier Augen gesprochen hatte. Obwohl er danach nie wieder auf Nhorichs Hof erschienen war, blieb die Erinnerung an ihn bei Gorian stets lebendig. „Ein Gespräch unter Meistern ...“ Gorian hatte nie erfahren, was der Ordensmeister mit Nhorich hatte bereden wollen. Der Blick, mit dem Thondaril ihn bedacht hatte, als er davonritt, hatte bei Gorian jedoch zeitweise den Gedanken aufkommen lassen, dass es dabei um ihn gegangen war ...

––––––––




Einige Augenblicke herrschte ein angespanntes Schweigen. Die Orxanier schienen nicht so recht zu wissen, was sie tun sollten.

Dann entschied sich einer von ihnen zum Angriff, und die anderen folgten seinem Beispiel.

Doch darauf schien Thondaril nur gewartet zu haben. Das Haus des Schwertes und das der Magie hatten ihm einst den Meistertitel verliehen, und die Kraft beider setzte er kompromisslos ein. Mit einem Kraftschrei ließ er seine Klinge durch die Luft sausen, und immer wieder senste das scharfe Schwert auch durch die untoten Körper, fuhr durch Kniescheiben, durchtrennte mächtige orxanische Halsmuskeln und spaltete Schädelknochen.

Es waren kaum Schreie zu hören, doch bei den wenigen, die dennoch erklangen, schwang Überraschung mit.

Es dauerte nicht lange, und der fremde Ordensmeister hatte sie alle niedergemacht. Keinen ließ er entkommen, und selbst die am Boden zuckenden abgetrennten Schwertarme, deren Pranken sich noch um die Griffe ihrer Waffen krallten, zerteilte er mit wohl gezielten Hieben von grausamer Präzision.

Gorian erhob sich und ließ den Rächer in seine Faust zurückkehren. Der Ordensmeister mit dem dunklen Helm und dem ebenso schwarzen Umhang trat auf ihn zu und sah ihn mit ruhigem Blick an. Die Augen waren während des Kampfes vollkommen von Schwärze erfüllt gewesen, die sich nun verlor, sodass das Weiße, Iris und Pupille wieder zum Vorschein kamen.

„Ich hoffe, dir ist nichts geschehen, Gorian, Sohn Nhorichs“, sagte er.

„Ihr seid Meister Thondaril, nicht wahr?“

„Ich hätte geglaubt, ein dermaßen begabter Ordensschüler wie du brächte die geistige Disziplin für ein gutes Erinnerungsvermögen auf“, erwiderte Thondaril und nahm den Helm ab. „In diesem Fall jedoch hättest du deine Worte nicht als Frage zu formulieren brauchen.“

„Ich bin dem Verborgenen Gott sehr dankbar, dass er Euch gerade in dem Augenblick hierher führte, da ich Eurer Hilfe so dringlich bedurfte.“

Der zweifache Ordensmeister gab darauf keine direkte Antwort. Stattdessen rief er offenbar sein Pferd durch einen energischen Gedanken herbei, schwang sich in den Sattel und reichte Gorian die Hand. „Steig hinter mich auf. Mein Ross ist kräftig genug, um dich auch noch zu tragen. Wir müssen fort von hier. Und das so schnell wie möglich.“

Gorian zögerte einen kurzen Moment. Thondaril hatte ihn einen Schüler genannt, so als ginge er mit aller Selbstverständlichkeit davon aus, dass er dem Orden beitreten würde.

Schließlich ergriff er die Hand des Ordensmeisters und stieg hinter ihn in den Sattel.

Thondaril ließ sein nach den Regeln des Ordens ausgebildetes Streitross voranpreschen, und sodann war Gorian voll und ganz darauf konzentriert, keinen der tief hängenden Äste um die Ohren zu bekommen.



Schwertmeister der Magie: Drei Fantasy Sagas auf 2500 Seiten

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