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Kapitel 15: Begleiter

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Ein wirrer Traum suchte Gorian in dieser Nacht heim. Ar-Don sprach zu ihm, aber Gorian konnte die Gedankenstimme des Gargoyle diesmal nicht verstehen, sie war zu undeutlich. Ein Schwall chaotischer Bilder drang in seine Seele. Meister Domrich kam darin vor, aber da war auch eine fremde Erinnerung, und zwar an jenen Moment, als Ar-Don zum ersten Mal versucht hatte, Gorian zu töten. Er sah sich selbst als zehnjährigen Jungen, allerdings aus der Perspektive des Angreifers.

Und dann fühlte er plötzlich einen ungeheuren Druck auf der Brust, so als wäre dort ein sehr schweres Gewicht abgelegt worden.

Ein Stein!, durchfuhr es ihn.

Er konnte kaum atmen, rang verzweifelt nach Luft ...

... und öffnete die Augen!

Auf seiner Brust saß ein katzengroßer steinerner Drache, der aus seinem Inneren heraus rötlich leuchtete, so als würde er glühen.

Ar-Don!

Obwohl sich das Äußere des Gargoyle seit ihrer letzten Begegnung stark verändert hatte, war sich Gorian vollkommen sicher, dass er es war. Die Flügel hatten zwar ebenso eine andere Form angenommen wie der Kopf und vor allem das Drachengesicht des steinernen Wesens. Die Flügel waren größer geworden und hatten fast etwas Vogelartiges, nur dass sie keine Federn hatten, sondern vollkommen aus Stein waren. Und in den Gesichtszügen dominierten nun die echsenhaften, tierischen Elemente. Da war nicht einmal der Hauch einer Ähnlichkeit mit dem Gesicht von Meister Domrich.

Das Wesen öffnete das Maul, entblößte die Zähne und stieß ein durchdringendes Fauchen aus. Der Atem, der Gorian ins Gesicht blies, roch nach Schwefel und war fast betäubend. Die zwei Vorderpranken des kleinen Steindrachen wuchsen an, und Krallen drangen aus den sich verlängernden Fingern hervor, die an Obsidian-Klingen erinnerten, während die Pranken den Händen der weißen Sprechaffen ähnelten.

Blitzschnell griffen sie nach Gorians Hals, zuckten vor, während das Wesen gleichzeitig seine Färbung veränderte und innerhalb eines Augenaufschlags giftgrün wurde.

Gorian war wie gelähmt.

Etwas schnellte durch die Luft. Gorian konnte im Halbdunkel des Raums, der vom Mondschein, der durch das Fenster sickerte, und den Lichtern der Stadt schwach erhellt wurde, nur eine Bewegung wahrnehmen. Das Fauchen des Gargoyle verwandelte sich in einen schrillen schmerzvollen Laut und vermischte sich mit dem Kraftschrei eines Ordensmeisters.

Eine Klinge drang durch den Stein und ließ ihn in drei Teile zerspringen.

Thondaril stand als dunkler Schemen da, den Schwertgriff mit beiden Händen umfasst. Die Teile des Gargoyle lagen auf dem Boden, leuchteten grell auf und fügten sich noch einmal zusammen, aber ehe dieser Vorgang abgeschlossen war, hieb Thondaril noch einmal zu und murmelte dabei eine Formel in alt-nemorischer Sprache.

„Nein!“, rief Gorian, so heftig, dass es fast schon einem Kraftschrei gleichkam. Er schnellte hoch. Thondaril hatte das Schwert zum Schlag erhoben, hielt aber inne, als sich Gorian vor ihn warf.

Die abermals zerschlagenen Teile des Gargoyle fügten sich erneut zusammen. Das Wesen, das daraus entstand, wirkte missgestaltet und manche Teile grotesk verzerrt: Ein Flügel war groß, der andere winzig, der Kopf war im Verhältnis zum Restkörper völlig überdimensioniert, während die Beine kleinen Stummeln glichen und sich das Wesen zudem nicht entscheiden konnte, wie viele und an welchen Körperpartien sie ihm hervorwachsen sollten, sodass sich dies dauernd änderte.

„Ar-Don ...“, erreichte Gorian ein Gedanke, dessen vollständige Bedeutung ihm unklar blieb. Er hätte nicht einmal zu sagen gewusst, ob darin Feindseligkeit mitschwang oder nicht. Der Gedanke, der ihn erreichte, war einfach nur furchtbar fremdartig und damit so verwirrend wie ein Zeichen einer Schrift, die man nicht beherrschte.

Thondaril stieß ihn zur Seite. Gorian landete auf seinem Bett, während die Klinge des zweifachen Ordensmeisters noch einmal durch die Luft wischte. Aber der Gargoyle war inzwischen durch das Fenster davongestoben, wobei er beide Flügel stark vergrößert hatte. Für einen Moment hoben sich seine dunklen, steinernen Schwingen noch gegen das fahle Licht des Mondes ab. Dann war Ar-Don in der Finsternis des Nachthimmels verschwunden.

„Warum hast du dieser Missgeburt geholfen?“, rief Thondaril zornig, und die ganze Strenge eines Meisters lag in diesen Worten. Er schien äußerst verärgert über Gorians Handlung, die dieser im ersten Moment sich selbst gegenüber kaum zu erklären vermochte. Er spürte einen dicken Kloß im Hals, und als er versuchte, etwas zu sagen, stockten ihm die Worte.

Der zweifache Ordensmeister drehte sich um, warf seine Waffe auf jenes Bett, auf dem er sein Gepäck abgelegt hatte, und setzte sich auf das andere. Sein Gesicht befand sich im Schatten, sodass Gorian es nicht sehen konnte. „Du hast diese Bestie entkommen lassen!“

„Man kann sie ohnehin nicht gänzlich töten“, entgegnete Gorian unsicher.

„Aber man kann mit ihr das tun, was dein Vater schon getan hat: sie bannen. Vor den Einflüsterungen dieser Kreatur hätte dich das zweifellos nicht geschützt, wohl aber vor ihren Zähnen und Krallen!“ Er seufzte laut, und der ganze Ärger und die Verständnislosigkeit über Gorians Handlungsweise kamen in diesem einen Laut deutlicher zum Ausdruck, als es tausend Worte vermocht hätten. „Der Gargoyle wollte dich ein weiteres Mal umbringen, Gorian.“

„Nein, das glaube ich nicht.“

„Er war drauf und dran, dir mit seinen Krallen die Kehle aufzureißen. Und vielleicht hätte er dich anschließend sogar zu einem Teil seiner Selbst gemacht, so wie es seiner Art entspricht.“ Erneut seufzte er tief. „Dass du gestern für die Flüchtlinge Mitleid gezeigt hast, zeigte deine edle Gesinnung. Aber Mitleid mit einer solchen Kreatur ist pure Dummheit, Gorian, gleichgültig, was die Gedanken dieses Wesens dir eingeflüstert haben.“

„Ar-Don hat mir das Leben gerettet.“

„Sprich seinen Namen noch öfter aus, dann wird er nie mehr von deiner Seite weichen!“

„Meister Thondaril, ich glaube nicht, dass Ar-Don gekommen ist, um mich umzubringen.“

„Mir bot sich aber ein deutlich anderes Bild, wenn du neunmalkluger Narr und erfahrener Fremdwesen-Versteher mir ahnungslosem zweifachen Ordensmeister diese kleine Nebenbemerkung gestattest!“

„Ich kann nur sagen, was ich empfinde und ...“ Er zögerte, ehe er das Wort aussprach: „... wahrnehme!“

„Und was hast du wahrgenommen?“, fragte Thondaril auf eine Weise, die erkennen ließ, dass er sich aus der Beantwortung dieser Frage nicht viel an zusätzlicher Erkenntnis erhoffte.

„Ich ... ich kann es nicht erklären. Es tut mir leid, aber in dem Moment, als ich Euch daran hinderte, den Gargoyle völlig zu zertrümmern, hatte ich das Gefühl, das Richtige zu tun. Als wäre ich vollkommen im Einklang mit den metamagischen Schwingungen des Polyversums.“

Thondaril atmete tief und schnaubend durch. „Man sollte die Axiome des Ordens und die Weisheitslehre der Alten Kraft erst dann lesen, wenn man in der Lage ist, sie auch zu verstehen“, versetzte er mit galligem Unterton. „Bei dir war diese Lektüre wohl definitiv verfrüht!“

––––––––




Während des Frühstücks, das sie in Artochs Schankraum in aller Frühe einnahmen, sagte Thondaril kein einziges Wort, und auch Appetit schien er nicht zu haben. Er kaute nur missmutig auf einer Brotkruste herum.

Der Stallbursche des Wirts hatte das Streitross bereits gesattelt. Das Gepäck – im wesentlichen Satteltasche und Waffen – ließ Thondaril niemals aus den Augen und vor allem auch nicht von jemand anderem am Sattel anbringen.

Thondaril verabschiedete sich in aller Herzlichkeit von Artoch, und wenig später ritt er zusammen mit Gorian durch das frühmorgendliche Segantia. Nebelschwaden waren vom Fluss aufgestiegen und drängten sich wie die formlosen Auswüchse vielarmiger Ungeheuer in die Straßen. Manchmal konnte man nur wenige Schritt weit sehen, so dicht war dieser Dunst. Hier und dort wankten noch die letzten Zecher aus den Tavernen nach Hause, während die aufgehende Sonne als diffuser Lichtball durch das Grau des Nebels schimmerte.

Sie erreichten den Platz, auf dem Centros Bal gelandet war.

Der Händler aus Gryphland war ein kleiner drahtiger Mann mit grauem Bart, dessen Alter sehr schwer zu schätzen war. Er trug einen eng anliegenden Anzug aus Leder und eine gefütterte Mütze – die Kluft eines Greifenreiters, die der eisigen Höhenkälte standhalten musste, wenn er den Greifen weit aufsteigen ließ.

„Es ist mir eine Ehre, mit Euch reisen zu dürfen, Centros Bal“, sagte Thondaril und deutete auf seinen Begleiter. „Dies ist Gorian, den ich bei unserem gestrigen Treffen erwähnte.“

Centros Bal musterte Gorian von Kopf bis Fuß, als würde er Maß nehmen, und meinte: „Er scheint nicht mehr zu wiegen, als Ihr geschätzt habt, Meister Thondaril. Ihr wisst ja, unser Flugtier muss das zusätzliche Gewicht auch tragen können.“

„Euer Greif macht alles andere als einen schwächlichen Eindruck“, gab Thondaril zurück.

Gorian nahm an, dass dieser Wortwechsel noch so etwas wie ein Nachklang der Preisverhandlungen war, die zweifellos am Vorabend zwischen Thondaril und Centros Bal stattgefunden hatten. Centros Bal sprach das Heiligreichisch mit einem deutlichen Akzent, aber vollkommen fehlerfrei und wie jemand, der es gewohnt war, in diesem Idiom Verhandlungen zu führen. Seinen Leuten gab er allerdings zwischendurch Anweisungen in der Sprache Gryphlands, die mit dem Heiligreichischen zwar verwandt war, aber doch so stark davon abwich, dass Gorian nur sehr vage verstehen konnte, worum es ging.

Centros Bal machte eine einladende Geste. „So betretet meine Gondel! Auch Euer Pferd wird darin gut aufgehoben sein, während ich selbst mir diese Annehmlichkeit nicht erlaube, weil ich meinen Greif, wann immer es möglich ist, selbst reite, statt ihn meinen Ersatzreitern zu überlassen.“ Er lächelte verschmitzt. „Aber ein Meister sollte ja auch von einem Meister geflogen werden, nicht wahr?“

––––––––




Die Gondel verfügte über einen eigenen Stall, in dem Pferde oder Rinder untergebracht werden konnten. Außerdem gab es große Lagerräume. Dafür war der Passagierbereich verhältnismäßig klein gehalten. Durch in westreichischem Stil verglaste Fenster konnte man hinausblicken.

Mit einem Ruck nahmen die Seilschlangen die Gondel in ihren Griff, und wenig später erhob sich der von Centros Bal persönlich gerittene Greif in die Lüfte. Das sonore Krächzen, das sich seinem gewaltigen Schnabel entrang, weckte vermutlich halb Segantia auf.

Ein Mann, der ebenfalls die Kluft der Greifenreiter trug, sprach Gorian und Thondaril an. Er war noch jung, Gorian schätzte ihn auf höchstens fünfundzwanzig. Die Mütze hatte er sich an den Gürtel gehängt, solange er sich in der warmen Gondel aufhielt.

„Mein Name ist Fentos Roon“, stellte er sich vor, „und ich bin der Zweite Greifenreiter von Centros Bal, was leider bedeutet, dass ich nur selten eingesetzt werde, da Centros Bal meist selbst zu reiten beliebt. Aber er gab mir den Auftrag, mich um die Passagiere zu kümmern und euch im Rahmen meiner Möglichkeiten jeden Wunsch zu erfüllen.“

„Vielen Dank für diese Aufmerksamkeit“, gab Thondaril freundlich zurück.

Fentos Roon deutete auf ein Blumenbukett mit scharlachroten Blüten. „Vielleicht möchtet Ihr Euch die Dauer der Reise durch diese Traumblumen etwas verkürzen. Wir werden eine ganze Weile unterwegs sein.“

Gorian hatte von den Traumblumen gehört. Die Gryphländer handelten damit und brachten sie bis weit in den Norden. Angeblich ließen sie denjenigen, der an ihnen roch und sich dabei geistig auf ihre Wirkung einließ, in Traumwelten von beeindruckender Intensität versinken, bei denen der Unterschied zur Wirklichkeit nicht mehr erkennbar war. In den Ländern des Südens trösteten diese Blumen die Armen über Kummer und Elend hinweg, aber im Norden konnten sich diesen Trost nur die Reichen leisten, denn der aufwändige Transport verteuerte die Ware um ein Vielfaches.

„Tu mir einen Gefallen und entferne diese Pestilenz wider die geistige Gesundheit, soweit du das kannst!“, forderte Thondaril von dem junger Greifenreiter.

„Es war nicht meine Absicht, Euch zu verärgern“, betonte Fentos Roon und verneigte sich leicht. „Ganz im Gegenteil, es war eine Geste der Gastfreundschaft.“

„Der Ausblick aus dem Fenster reicht uns vollkommen als Ablenkung während des Fluges“, erklärte Thondaril auf ziemlich harsche Weise.

Fentos Roon wandte sich an Gorian. „Gilt dies auch für Euch, junger Herr?“

Gorian, der durchaus neugierig gewesen wäre, die Wirkung der Traumblumen einmal selbst auszuprobieren, kam gar nicht dazu, zu antworten, denn Thondaril fuhr sofort dazwischen.

„Dies gilt sogar ganz besonders für meinen Begleiter!“, versetzte er in einem Tonfall, dessen Schärfe keinerlei Möglichkeiten ließ, ihn in irgendeiner Weise misszuverstehen.

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Der Greif flog Tag und Nacht und ohne Zwischenlandung über die Weiten des Herzogtums Estrigge und des Estlinger Landes. Centros Bal lenkte seinen Greifen überwiegend selbst. Nur ein paar Stunden in der Nacht gönnte er sich eine Pause. Der Flug wurde jedoch auch während des Reiterwechsels nicht unterbrochen. Fentos Roon trat dann auf den kleinen Balkon der Gondel und ließ sich von einer der dressierten Seilschlangen umfassen und hinauf auf den Rücken des Greifen hieven, und auf gleiche Weise gelangte Centros Bal während des Flugs zurück in die Gondel, um sich dort auszuruhen.

Der Schwall kalter Luft, der bei diesen Manövern ins Innere drang, gab Gorian einen vagen Eindruck davon, wie frostig es in diesen Höhen war. Wenn er aus einem der Fenster hinabsah, konnte er zwischenzeitlich kaum noch Einzelheiten erkennen.

Im Morgengrauen erreichten sie den Gont, und der Greif folgte ihm flussabwärts, bis er sich in zwei mächtige Arme teilte, die wenig später im Meer mündeten. Das Land zwischen diesen beiden Flußarmen, die das Delta des Gont bildeten, war das Land des Ordens der Alten Kraft.

Gontland.

Sanfte Hügel und kleinere Waldstücke waren vorherrschend. Es gab kleine Ansiedlungen und Fischerhäfen an beiden Flussarmen, außerdem Gehöfte und bestellte Felder; allein von geistiger Nahrung konnten auch die Mitglieder des Ordens nicht leben. Die Ordensburg selbst lag an der Küste auf einem schroffen Felsmassiv, und etwas tiefer gelegen gab es einen dazugehörigen Seehafen. Sowohl der Hafen als auch die eigentliche Burg wurden von einer gemeinsamen Mauer umschlossen, die in einem Halbkreis weit hinaus ins Meer reichte und ein großes Hafenbecken bildete, wo Dutzende von Koggen vertäut waren. An Größe und Fassungsvermögen konnte es der Ordenshafen sicherlich mit den Häfen von Thisia oder Thiskaren aufnehmen, fand Gorian.

Der Greif landete im inneren Hof der Ordensburg, der von den fünf Häusern der Heiler, Magier, Seher, Schwertkämpfer und Schattenmeister umgrenzt war. An der Westseite erhob sich die gewaltige, von fünf Türmen umgebene Kuppel der Kathedrale, die dem Ersten Meister, dem Gründer des Ordens, gewidmet war.

Als Gorian und Thondaril die Gondel verließen, hatten sich draußen Dutzende von Ordensschülern und einige Meister versammelt, die durch das Auftauchen des Greifen angelockt worden waren.

„Du wolltest doch immer etwas Besonderes sein“, raunte Thondaril Gorian zu. „Auf jeden Fall bist du wohl der einzige Schüler dieses Jahrgangs, der mittels eines Greifen zur Ordensburg gelangt ist.“

Die Schüler, die den Greifen umstanden, bildeten eine Gasse, und ein graubärtiger Mann in der dunklen Kleidung eines Ordensmeisters trat auf die Gondel zu. Er trug ein goldenes Amulett vor der Brust, das Gorian sogleich als das Zeichen des Hochmeisters erkannte.

„Seid gegrüßt, Hochmeister Aberian“, sagte Thondaril, der mit Gorian die Gondel verlassen hatte, und verneigte sich.

„Es freut mich, dass Ihr wohlbehalten zurückgekehrt seid“, erwiderte Hochmeister Aberian, der dem Entscheidungskonvent, in dem alle für die Belange des Ordens wichtigen Beschlüsse gefasst wurden, angehörte. An dem Ring, den er trug, war zu erkennen, dass er dem Haus der Schattenmeister angehörte, die in der Kunst der Schattenpfadgängerei bewandert waren.

Über die in einer Zwischenwelt gelegenen Schattenpfade vermochten die Schattenmeister weite Entfernungen innerhalb von Augenblicken zu überwinden. Nur, wer über ein besonders hohes Maß an magischer Begabung verfügte, vermochte diese Kunst zu erlernen, ohne dabei sein eigenes Leben zu gefährden, denn die Schattenpfadgängerei fraß die Lebenskraft desjenigen, der sie anwendete, und daher musste der Betreffende in der Lage sein, den Verlust durch Beschwörung der Alten Kraft auszugleichen. Nur besonders herausragende Talente waren dazu in der Lage, und auch das nur nach langer Übung.

Die Schattenmeister waren zahlenmäßig die kleinste Gruppe des Ordens, und den Angehörigen dieses Hauses wurde allein schon aufgrund ihrer Seltenheit besonderer Respekt entgegengebracht. Auch hinsichtlich der Schüler, die sich dem Haus der Schatten zuwandten, war die Anzahl am geringsten. Nichtsdestotrotz hatte sich Gorian vorgenommen, auch diese schwierige und lebensgefährliche Kunst zu erlernen.

Hochmeister Aberian wandte sich Gorian zu. Sein Blick hatte etwas sehr Durchdringendes, und sogleich spürte Gorian die starke Präsenz, die der Geist Aberians ausstrahlte.

„Wie ich sehe, war Euer Weg nach Thisilien nicht umsonst, Meister Thondaril“, sprach Aberian. „Gorian, Sohn des Nhorich und Enkel des Erian, ich heiße dich auf der Ordensburg willkommen. Deine Ahnen haben bereits Ordensgeschichte geschrieben, und die Zeichen des Himmels bei deiner Geburt verkündeten, dass auch dir dies gelingen könnte.“

„Ich danke Euch für Eure Worte, Hochmeister“, sagte Gorian.

Für einen kurzen Moment spürte er, wie etwas Fremdes seinen Geist berührte und ihn abtastete. Aberian wusste alles über ihn, durchfuhr es Gorian, und es erschreckte ihn, dass er offenbar keine Möglichkeit hatte, sich dagegen zu wehren.

„Die Alte Kraft ist stark in dir“, sagte Aberian. „Stärker, als ich zu hoffen wagte.“

„Es würde mich freuen, würdet Ihr mich als würdig erachten, ein Schüler des Ordens zu werden“, erwiderte Gorian in aller Demut.

Ein Lächeln glitt über Aberians Gesicht. „In allen fünf Häusern! An Ehrgeiz mangelt es dir jedenfalls nicht!“

„Woher ...“

Hatte dieser einzige kurze Moment geistiger Berührung Aberian ausgereicht, ihn so vollkommen zu durchschauen? Gorian erschrak erneut darüber, dass er offenbar nichts vor dem Hochmeister verbergen konnte.

„Du brauchst nicht beunruhigt zu sein“, sagte Aberian. „Du wirst noch lernen, deinen Geist besser abzuschirmen, das verspreche ich dir.“

„Und was ist mit meinem Anliegen, in allen fünf Häusern die Meisterschaft zu erringen?“, fragte Gorian und erntete dafür einen tadelnden Blick von Thondaril.

„Ich habe leider vergeblich versucht, ihm seinen Hochmut auszutreiben“, erklärte der zweifache Ordensmeister beinahe entschuldigend. „Ich fürchte, er ist hartnäckiger, als uns allen lieb sein kann.“

„Wir werden darüber im Entscheidungskonvent beraten“, versprach Aberian. „Mehr kann ich dazu noch nicht sagen ...“

––––––––




Ein Schüler namens Torbas wurde angewiesen, Gorian seine Zelle zu zeigen. Er hatte vor zwei Monaten die Ausbildung im Haus des Schwertes begonnen. Seine grauen Augen hatten etwas Falkenhaftes und musterten Gorian eindringlich. Sein Haar war dunkel, und das erhobene Kinn deutete eine Art von Stolz an, bei der Gorian noch nicht so recht wusste, was er davon halten sollte.

„Du hattest ja einen ziemlich großen Auftritt“, sagte Torbas, während sie die Treppe im Schwerthaus hinaufgingen. „Vorhin, als du mit dem Greif gelandet bist und Meister Thondaril dich gleich dem Hochmeister vorgestellt hat.“

„Ich habe es nicht darauf angelegt“, erwiderte Gorian. „Und dass der Hochmeister bereits wusste, wer ich war ...“

„Das wusste er bei mir ebenfalls“, unterbrach ihn Torbas.

„So?“

Torbas blieb stehen, drehte sich zu Gorian um und sah von der höheren Treppenstufe aus auf ihn hinab. In seinem Lächeln paarte sich freundliche Offenheit mit einem kleinen, aber doch deutlich spürbaren Schuss Geringschätzung. „Es heißt, dass einer, der unter bestimmten Zeichen des Himmels geboren wurde, vielleicht ein wichtiger Faktor im Kampf gegen Morygor und das Frostreich werden könnte. Und das Wichtigste dieser Zeichen ist der fallende Stern.“

„Ich wurde an einem Tag geboren, als ein Stück Sternenmetall glühend vom Himmel fiel“ erklärte Gorian.

Torbas' Lächeln wurde breiter. „Du auch?“

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Sie erreichten die Zelle, die von nun an Gorians Zuhause sein sollte. Dass sie im Haus des Schwertes lag, nahm Gorian noch keineswegs als Vorzeichen dafür, dass man seine Ausbildung auf dessen Kunst beschränken wollte. Es war einfach so, dass dieses Haus mit Abstand die meisten Zellen hatte, und abgesehen davon stand es auch für Gorian außer Frage, dass die Ausbildung zum Schwertmeister für ihn unverzichtbar und am wichtigsten war.

Viel Können und Wissen über diese Kunst hatte er sich bereits durch den Unterricht seines Vaters aneignen können, auch wenn er natürlich wusste, dass er noch nicht die Reife eines Meisters hatte. Allerdings bildete er sich ein, seinen gleichaltrigen Mitschülern um einiges im Voraus zu sein. Ob seine Einschätzung in diesem Punkt allerdings der Wirklichkeit entsprach, würde sich erst noch herausstellen müssen.

Die Zelle war kaum möbliert. Auf dem einzigen Regalbrett stand ein in Leder gebundenes Exemplar des Buchs der Ordens-Axiome, das Bett war eine einfache Pritsche, das Fenster unverglast und offenbar so ausgerichtet, dass die meiste Zeit des Tages Licht hereinfiel, aber so hoch gelegen, dass man nicht hinaussehen konnte. Die Zelle diente unter anderem der inneren Sammlung, und daher sollte zumindest in den Anfangsphasen der Ausbildung jede Ablenkung vermieden werden.

„Hier kannst du die nötige geistige Versenkung finden“, sagte Torbas. Er deutete zum Fenster hinauf. „Eine deiner ersten Übungen wird es sein, die Fensterläden allein mittels der Alten Kraft zu schließen, denn auf andere Weise kann man sie nicht erreichen.“

„Ganz nett“, gab Gorian zurück. „Allerdings bereitet es mir keine Schwierigkeiten, die Alte Kraft selbst im Trubel eines thiskarenischen Jahrmarkts zu sammeln – die Einsamkeit einer Zelle brauche ich dazu nicht.“ Er überlegte, ob er die Fensterläden kurz schließen sollte, um Torbas zu zeigen, dass er keineswegs ein Anfänger in der Anwendung der Alten Kraft war, erinnerte sich dann aber Meister Thondarils Worte über die Zähmung des Hochmuts und entschied sich dagegen.

„Du kennst Thiskaren?“, fragte Torbas.

„Ja, ich stamme aus Thisilien.“

„Aber du bist kein Thiskarener.“

Über Gorians Gesicht huschte ein Lächeln. „Ich dachte, du gehörst dem Haus des Schwertes und nicht dem der Seher an.“

„Niemand, der aus dieser Stadt stammt, sagt Thiskaren. Die Einheimischen sagen Thiskaven, und ich habe mir die Form der Auswärtigen erst angewöhnt, seit ich nicht mehr zu Hause lebe und mein Dasein dem Orden weihte.“ Er zuckte mit den Schultern. „Sonst hielte mich jeder für einen ungebildeten Narren, der in der Priesterschule nicht genug Schriftzeichen gelernt hat, um einen Namen auf der Landkarte richtig zu lesen.“

Gorian wusste, dass man die thisilischen Häfen Thiskaren und Thisia auch die Städte der zwei Namen nannte, weil die Einheimischen Thiskaven und Thisa sagten, was aber nicht die einzigen sprachlichen Eigenheiten waren, durch die sie sich von den Auswärtigen abzugrenzen versuchten.

„Ich stamme aus der Gegend von Twixlum“, erklärte Gorian. „Wir sind also beide Thisilier.“

Torbas verzog leicht spöttisch den Mund. „Du nimmst es mir aber trotzdem nicht übel, dass ich von diesem Nest, aus dem du kommst, noch nie etwas gehört habe, oder?“

„Es war der Hof Meister Nhorichs, dem Sohn Meister Erians, und es gibt keinen Grund, sich dessen zu schämen“, gab Gorian leicht pikiert zurück. Die aufgeblasene Art seines Gegenübers ging ihm ziemlich auf den Geist. Was bildete der sich ein? Ein Hof in der Nähe von Twixlum mochte ja nicht gerade der Nabel der Welt sein, aber das war Thiskaren auch nicht. „Leute, die es gewohnt sind, Thiskaven anstatt Thiskaren zu sagen, neigen vielleicht dazu, ihre Herkunft etwas zu überschätzen“, versetzte Gorian mit spitzem Unterton.

„War dieser Nhorich, dessen Sohn du bist, der Nhorich, den man auch Nhorich den Abtrünnigen nennt und den uns die Lehrer der Ordensschule als Beispiel bedauernswerten Irrtums darlegen?“, hielt Torbas sofort dagegen, und seine Augen wurden dabei pechschwarz.

Mit Gorians Augen geschah dasselbe. Innerhalb eines kurzen Moments berührten sich ihre Seelen auf magische Weise. Gorian sah einen Stern vom Himmel stürzen und hatte auf einmal die Gewissheit, dass sie beide unter demselben Himmelszeichen, im selben Augenblick, während derselben Konstellation der Gestirne geboren waren. Nhorichs Hof bei Twixlum lag zwar ein paar Meilen näher an der Absturzstelle jenes Bruchstücks des Schattenbringers als die Geburtstätte von Torbas, doch Gorian war sich keineswegs sicher, ob dieser Umstand irgendeine Bedeutung hatte.

Gegenseitig spürten sie für diesen einen kurzen Augenblick die Kräfte, die in dem jeweils anderen schlummerten. Torbas voraus hatte Gorian nur die Ausbildung durch seinen Vater, das war alles, erkannte er schlagartig. Die Erkenntnis, dass Torbas ihm tatsächlich in fast jeder Hinsicht ebenbürtig war, versetzte ihm einen Stich.

Die beiden sahen sich eine Weile lang an, und auch Torbas schien nicht gerade begeistert davon, wie sehr sie einander ähnelten.

„Du hast kein Gepäck?“, fragte er dann.

„Nein. Ich habe alles verloren, was ich besaß. Die Frostkrieger sind gekommen und haben meinen Vater und so gut wie alle, die auf unserem Hof lebten, umgebracht. Mir ist nichts geblieben außer ...“

„Du trägst einen interessanten Dolch.“

„Genau den meine ich.“

Torbas runzelte die Stirn und deutete auf die Waffe, die Gorian wie stets am Gürtel trug. „Davon geht eine besondere ... Aura aus. Ich kann es schwer beschreiben.“

„Mein Vater, den du so wenig vorteilhaft charakterisiert hast, hat ihn aus dem Metall geschmiedet, das er aus dem vom Himmel gefallenen Stein gewann.“

„Sternenmetall“, murmelte Torbas, und auf einmal drückte sein Tonfall geradezu Ehrfurcht aus. Ehrfurcht gemischt mit einem Schauder, wie Gorian nicht verborgen blieb. Der Hochmut, der Torbas’ Haltung ihm gegenüber eben noch fast ausschließlich geprägt hatte, schien plötzlich verflogen. Er streckte die Hand aus und fragte: „Darf ich ihn einmal in die Hand nehmen?“

Gorian zögerte. „Ich weiß nicht ...“

„Bitte! Was ich über deinen Vater gesagt habe, war unbedacht und gewiss nicht gerechtfertigt. Nicht, wenn er Sternenmetall auf diese Weise zu bearbeiten wusste. Und vor allem ...“ Er sprach nicht weiter, sondern schluckte schwer, so als steckte ihm ein Kloß im Hals.

„Vor allem was?“, hakte Gorian nach.

„Nun, ich habe davon gehört, dass es bei der Verarbeitung von Sternenmetall zu schlimmen ... nun, Nebenwirkungen kommen kann. Es können grässliche Wesen dabei entstehen, die sich nicht töten, sondern allenfalls für gewisse Zeit bannen lassen. Zumindest steht das in den Schriften zu diesem Thema.“

„Du scheinst viel zu lesen.“

„Ich gebe zu, ich habe so manche Stunde in der Bibliothek der Ordensburg verbracht, um alles zu erfahren, was es über fallende Sterne und die Geburtszeichen des Himmels zu wissen gilt.“

„Wie du sicher verstehen wirst, ist das eine Sache, die auch mich immer sehr interessiert hat“, gab Gorian zu. Er zog den Dolch aus der Scheide und reichte ihn Torbas mit dem Griff voran.

Nun war dieser es, der zögerte.

Gorian lächelte. „Du fürchtest dich doch nicht etwa?“

„Natürlich nicht.“ Torbas nahm die Waffe, und seine Augen wurden schwarz, als er den Griff umfasste. „Es ist, als hätte der Dolch schon immer in diese Hand gehört“, murmelte er. Dann gab er ihn Gorian zurück. „Du kannst von Glück sagen, diese Klinge zu besitzen.“

„Ich finde, Thisilier sollten hier auf der Ordensburg zusammenhalten“, sagte Gorian nach einer nachdenklichen Pause.

„Um so mehr, wenn sie im Zeichen desselben fallenden Sterns geboren wurden“, stimmte ihm Torbas zu. „Wenn du willst, zeige ich dir jetzt die anderen Räumlichkeiten hier auf der Ordensburg und erkläre dir alles, was du wissen musst.“

„Einverstanden.“

„Und dabei kannst du mir erzählen, wieso du mit einem Greif hergebracht wurdest und weshalb Meister Thondaril dich begleitet hat. Und natürlich, weshalb Hochmeister Aberian offenbar von deiner Ankunft wusste und dich persönlich empfangen hat wie einen kaiserlichen Gesandten.“

„Ich glaube, du übertreibst“, fand Gorian.

––––––––




Torbas führte Gorian durch alle fünf Häuser, zeigte ihm außerdem die Nebengebäude des inneren Burghofs, die Versammlungs- und Speiseräume, und danach gingen sie zur fünftürmigen Kathedrale des Ersten Meisters. An der Eingangstür war ein Kreis mit einem goldenen Punkt darin angebracht, das Zeichen der Unendlichkeit des Verborgenen Gottes und des Polyversums. Aber es galt auch als Symbol des Ersten Meisters, der seinen Namen abgelegt hatte, damit die eigene Eitelkeit nicht einer tieferen Erkenntnis im Weg stand. Unter dem Zeichen stand in ebenfalls goldener alt-nemorischer Schrift: Das Verborgene am Verborgenen Gott ist nur er selbst; das Verborgene an jeder Erkenntnis aber ist in Dir.

Das erste Axiom, erkannte Gorian. Man schrieb es dem Ersten Meister zu, dem legendären Gründer des Ordens der Alten Kraft, von dem angeblich auch mindestens ein Drittel der weiteren Ordens-Axiome stammten.

Die Tür öffnete sich wie von selbst, und als das geschah, genoss Torbas offenkundig Gorians Verwunderung. Alles weißt du eben doch nicht, sagte sein Blick mit unverhohlenem Triumph, aber immerhin enthielt er sich einer entsprechenden Bemerkung. Sie würden trotz allem noch eine ganze Weile lang Rivalen bleiben, dachte Gorian. Vielleicht Rivalen und Freunde zugleich, wobei es sicherlich besser wäre, das zweite Element wäre das ausschlaggebende.

„Ich wollte dich nicht wie einen Narren aussehen lassen, aber hier auf der Ordensburg öffnen sich viele Türen nur, wenn man die Alte Kraft anwendet“, erklärte Torbas schließlich, fast so, als hätte er Gorians Gedanken gelesen, was dieser jedoch für unwahrscheinlich hielt.

„Du hast sie geöffnet“, stellte er fest und ärgerte sich, seine Überraschung so offen gezeigt zu haben.

„So ist es.“

„Ich wusste nichts von dieser Art Türen.“

„Dein Vater hat dir nichts davon erzählt?“

„Er gab sich sehr wortkarg, was den Orden betraf. Er war der Meinung, er sei bis ins Innerste verderbt.“

„Manche unserer Lehrer diskutieren seine Ansichten mit uns“, erläuterte Torbas. „Das überrascht dich? Nun, wäre der Orden tatsächlich geistig so verrottet, wie manche behaupten, würde er dann so offen darüber sprechen? Wohl kaum, denke ich.“ Er zuckte mit den Schultern und fuhr fort: „Aber zu diesem Punkt wirst du dir gewiss deine eigene Ansicht gebildet haben, sonst wärst du kaum hier.“

„Ich bin hier, weil ich keine andere Macht sehe, die Morygor an der Verwirklichung seiner Pläne hindern könnte“, entgegnete Gorian kühl. „Wenn der Herr der Frostfeste die Sonne mit dem Schattenbringer noch mehr verdeckt, wird in ganz Ost-Erdenrund und wahrscheinlich weit darüber hinaus kein Leben, wie wir es heute kennen, mehr möglich sein, und diejenigen unter uns, die ihm nützlich erscheinen, werden ihm als untote Knechte dienen müssen. Das will ich verhindern.“

„Du?“, fragte Torbas. Er hob die Augenbrauen, und das Lächeln, das sich diesmal um seine Lippen zeigte, war vollkommen frei von jeglichem Spott, sondern drückte eher Verlegenheit aus. Die spöttische Note kehrte erst nach einer Weile des verwunderten Schweigens zurück. „Weißt du was? Bevor du versuchst, ganz Erdenrund zu retten, sieh dir doch zunächst mal die Kathedrale des Ersten Meisters an – und lerne etwas Demut von ihm.“

––––––––




Sie betraten den Kuppelbau der Kathedrale.

Ein fünfeckiger Altar bildete das Zentrum des riesigen Raumes. Auf ihm war noch einmal der Kreis mit dem goldenen Punkt in der Mitte in den Stein eingelassen. Fünf Durchgänge führten zu dem Rundweg, der außen die Kathedrale umgrenzte.

Die Kuppel strahlte schwarzes Licht ab, das eine Sphäre bildete, innerhalb der goldene Lichter wie Sterne schwebten, sich gegenseitig umkreisten oder zu Gruppen zusammenballten und dann erloschen, um an anderer Stelle wieder aufblitzen. Sie waren zwar verhältnismäßig klein, hatten aber Kraft genug, um das gesamte Innere der Kathedrale zu erleuchten, in der es keinerlei Fenster gab.

Links vom Altar sah Gorian ein Mädchen mit langen dunklen Haaren, die ihr offen über die Schultern fielen. Es kauerte auf einer der mit kunstvollen Schnitzereien verzierten Bänke, die Augen geschlossen. Ein Amulett mit dem Zeichen des Hauses der Heiler hing ihr an einer Kette auf der Brust. Das graue Gewand war eng geschnitten und wurde von einer groben Kordel gehalten.

Gorian schätzte das Mädchen auf fünfzehn oder sechzehn. Eine Schülerin aus dem Haus der Heiler, so war zu vermuten. Allerdings ließ sie der außerordentlich ernste Ausdruck in ihrem Gesicht sehr viel erfahrener erscheinen, als es von einer Schülerin, die allenfalls vor ein paar Monaten ihre Ausbildung begonnen hatte, eigentlich zu vermuten war.

Zunächst hatte Gorian sie gar nicht bemerkt, und er fragte sich, wie das sein konnte. Lag es daran, dass eine der Säulen, die das Kuppeldach trugen, den Blick auf sie verdeckt hatte? Oder hatte es mit der außerordentlichen Ruhe zu tun, die sie ausstrahlte und die sie beinahe mit ihrer Umgebung verschmelzen ließ.

Gorian sah wie gebannt zu ihr hinüber, und die ebenmäßigen, von dem seidigen dunklen Haar umrahmten Gesichtszüge erschienen ihm von perfekter Harmonie und Schönheit.

„Was ist los mit dir?“, fragte ihn sein Begleiter, und als er Gorians Blick gewahrte, sagte er: „Das ist nur Sheera.“

„Eine Heil-Schülerin?“

„Und genauso grün hinter den Ohren wie wir alle, die in diesem Jahr begonnen haben, auch wenn sie selbst manchmal so tut, als wäre sie schon nahe daran, den tiefen Sinn der Lehren des Ersten Meisters völlig verinnerlicht zu haben. Na ja, jedenfalls dürfte sie so ziemlich die Einzige in allen fünf Häusern sein, die ihren Tagesablauf von etwas so Unbedeutendem wie dem Auftauchen eines Greifen auf der Ordensburg nicht unterbrechen lässt, wodurch sie deine große Schau vor dem Hochmeister verpasst hat.“

Sheera öffnete die Augen. Für einen Moment waren sie noch vollkommen schwarz, ehe sie ihre normale Farbe offenbarten.

Meergrün.

Und sie leuchteten auf eine Weise, wie Gorian es noch nie zuvor gesehen hatte. So als wären sie von einer inneren Kraft erfüllt, ging es Gorian fasziniert durch den Kopf. Der Kraft, die heilen kann.

Er hatte zwar davon gehört, doch nun sah er es zum ersten Mal. Aber dieses Schimmern in ihren Augen war keineswegs der einzige und vielleicht noch nicht einmal der Hauptgrund dafür, dass er so tief beeindruckt von ihr war. Die Züge ihres Gesichts, die Linie ihrer Nase und ihres Kinns, auch der Ausdruck ihrer Augen – das alles erschien ihm auf eine seltsame Weise vertraut, so als würde es zu einer lange verschütteten Erinnerung gehören, die vom tiefsten Grund seiner Seele wieder an die bewusste Oberfläche seines Geistes drängte.

Sheera erhob sich, ging nahezu lautlos auf ihn zu, um dann in einer Entfernung von drei oder vier Schritten vor ihm stehen zu bleiben und ihn mit aufmerksamem Blick zu mustern.

„Ich erkenne dich – und ich wusste, dass du hier erscheinen würdest!“, erreichte Gorian ein ungewöhnlich intensiver Gedanke, der nur von ihr stammen konnte. Ein Gedanke, der sich mit Gorians eigenen Empfindungen auf frappierende Weise deckte.

„Darf ich dir jemanden vorstellen, der deiner Heilerkünste garantiert niemals bedarf“, sagte Torbas zu ihr. „Das ist Gorian. Und einem kurzen Gespräch zwischen ihm und unserem verehrten Hochmeister nach, dessen Inhalt ich im Groben mitbekommen habe, der erste Schüler des Ordens, der sich in allen fünf Häusern ausbilden und zum Meister prüfen lassen will.“ Torbas klopfte Gorian auf die Schulter. „Na ja, vielleicht ist er nicht der Erste, der so einen Wahnsinn versucht, das weiß ich nicht, aber zumindest will er der Erste sein, der es auch schafft.“

Sie hob das Kinn. „Und wieso glaubst du, bedarf er dann keiner Heilerin? Weil er auch in dieser Kunst die Meisterschaft anstrebt?“

„Genau“, bestätigte Torbas nickend.

„Sich selbst zu heilen ist immer am schwersten und manchmal so gut wie unmöglich, Torbas, wusstest du das nicht?“

Torbas verschränkte die Arme vor der Brust. „Da ich von robuster Natur und bisher wenig kränklich war, habe ich über diesen Punkt noch nie genauer nachgedacht.“

Sheeras Blick war die ganze Zeit über nicht von Gorian gewichen und blieb weiterhin von tiefem Ernst erfüllt. „Ich hoffe, dass du in dieser Hinsicht nachdenklicher bist, Gorian.“

„Ich habe niemals an der Bedeutung des Heiler-Hauses gezweifelt, denn wenn es so wäre, würde ich kaum anstreben, auch dort die Meisterschaft zu erringen“, erwiderte er und wunderte sich darüber, dass er überhaupt zusammenhängende Worte fand, die ihm sogar einigermaßen flüssig über die Lippen kamen.

„Das weiß ich“, sagte sie, und zum ersten Mal zeigte sich ein verhaltenes Lächeln auf ihrem hübschen Gesicht.

„Und abgesehen davon kann das ja auch nicht allzu schwer sein!“, warf Torbas ein. „Wenn man sich schon so hohe Ziele setzt wie Gorian, der den Herrn der Frostfeste besiegen will, ist das nur eine kleine zusätzliche Herausforderung, nicht wahr?“ Er zuckte mit den Schultern. „Jeder muss wissen, was er sich zumutet.“

„Hat nicht der Erste Meister, der Gründer des Ordens, gesagt, dass man große Dinge nur erreichen kann, wenn man sich hohe Ziele setzt und die Möglichkeit, sich zum Narren zu machen, mit einbezieht?“, äußerte Sheera, und dabei berührte sie Gorian leicht an der Schulter. „Nur du selbst kannst wissen, wozu du imstande bist“, erreichte ihn erneut ihr Gedanke, bevor sie laut erklärte: „Ich muss mich zur heutigen Versammlung der Neulinge unseres Hauses begeben. Aber wir werden uns sicher später sehen.“

Damit ging sie an Gorian vorbei auf den Kathedraleneingang zu. Bei einer Säule, in die Sprüche in alt-nemorischen Schriftzeichen graviert und so zu Ligaturen verschmolzen waren, dass sie nahezu übergangslos in die Säulenornamente übergingen, blieb sie noch einmal stehen, drehte sich um und rief: „Dies ist ein Ort der inneren Versenkung, Torbas – und nicht des immerwährenden Geschwätzes!“

Torbas stieß Gorian an und sagte mit ironischem Unterton: „Sie drückt sich gern kryptisch aus, aber ich fürchte, sie will damit sagen, dass du die Kathedrale in Zukunft etwas geräuschloser betreten sollst.“

„Ich meinte dich, Torbas“, stellte sie klar.

Dann schritt sie weiter auf das Haupttor zu, und lange, bevor sie es erreichte, öffneten sich beide Flügel vor ihr. Die Sonne leuchtete herein, und als Sheera das Tor durchschritt, schlossen ihre Strahlen sie vollkommen ein. Selbst der dunkle Fleck des Schattenbringers wurde in diesem Augenblick überstrahlt, sodass er nicht sichtbar war.

Hinter ihr fielen die beiden Torflügel wieder ins Schloss.

„Man sollte eine Heilerin zur Frau nehmen“, meinte Torbas. „Wenn dann die Kinder krank werden, spart man den Lohn für die quacksalbernden Heilkundigen und Ärzte, die überall ihre Dienste anbieten und von ihrer Sache genauso viel verstehen wie ein Feuerschlucker oder ein Hütchenspieler von echter Magie.“

––––––––




In diesem Augenblick schnellte der Dolch aus Gorians Gürtel, so als wäre er von einer unsichtbaren Hand hervorgezogen worden. Völlig unerwartet und ohne dass Gorian irgendetwas dagegen hätte tun können, schwebte er empor unter das Kuppeldach.

Gorians Hand griff ins Leere, und schon erreichte der Dolch die sternenähnlichen goldenen Lichter in der dunklen Sphäre. Die Klinge begann sich dabei zu verändern und leuchtete in demselben Goldton auf, den auch die schwebenden Lichter ausstrahlten, deren komplizierte Bahnen deutlich vom Dolch beeinflusst wurden.

„Oh“, entfuhr es Torbas. „Hätte ich dir vielleicht sagen sollen: Die glühenden Lichter dort oben bestehen allesamt aus Sternenmetall. Wie übrigens auch das Unendlichkeitszeichen auf dem Altar und jenes am Eingang.“

„Ja, und?“, entfuhr es Gorian.

„Die Schwarzlichtsphäre hingegen ist ein magisches Kraftfeld, das von unserem derzeitigen Hochmeister selbst geschaffen wurde und ständig Kräfte aus der Zwischenwelt der Schattenpfade in unsere Existenzebene fließen lässt. Dadurch wird es gespeist.“

„Und wie kriege ich meinen Dolch zurück?“

„Ich fürchte, das wird nicht ohne eine kleine Kostprobe deines Könnens im Umgang mit der Alten Kraft geschehen. Unglücklicherweise wirkt diese Sphäre wie ein Magnet auf alles, was auch nur eine Unze Sternenmetall enthält. Du wirst es kaum glauben, aber es gibt deswegen immer wieder Ärger mit herausgerissenen Türbeschlägen, und einmal hat es sogar das Unendlichkeitszeichen auf dem Fünfeckaltar gezerrt. Schon damals, im Entscheidungskonvent, äußerte man entsprechende Befürchtungen, als Hochmeister Aberian ankündigte, die Kathedralenkuppel mit dieser Sphäre zu versehen.“

Verdammt, dachte Gorian verärgert. Ganz gleich, wie er sich nun verhielt und was er tat oder auch unterließ, er würde Hochmeister Aberian damit verärgern. Schon jetzt waren die goldenen Lichter in der schwarzen Sphäre erkennbar aus ihrer bisherigen Ordnung geraten. Einer Ordnung, die der Hochmeister ihnen irgendwann gegeben haben musste, denn schließlich hatte er die Regeln definiert, nach denen sie ihre Bahnen umeinander zogen oder sich zu Gruppen zusammenfanden. Man hatte zuvor eine Weile gebraucht, um diese Ordnung mit dem Auge zu erfassen, doch nun war selbst bei längerer Betrachtung keine Ordnung mehr zu erkennen.

Und dieser Zustand verschlimmerte sich sogar noch. Der Dolch kreiste um seinen eigenen Schwerpunkt und riss weitere der kleinen goldenen Lichter aus ihrer bisherigen Bahn, und eines davon fiel herab, Gorian direkt vor die Füße.

Nun sah er deutlich, dass es sich um ein Stück glühendes Metall handelte. Mochte es auch aus der Ferne an schimmerndes Gold erinnern, aus der Nähe war sofort klar, dass es sich um ein ganz anderes Material handelte, um Sternenmetall eben.

Gorian spürte die ganz besondere magische Aura, die selbst von diesem kleinen Stück ausging.

Das herabgefallene Metallstück rollte über den Boden und zog dabei eine riesige Brandspur hinter sich her. Dann kam es zur Ruhe, schien dabei zu erkalten und wechselte die Farbe, von Golden in einen Ton, der sehr viel dunkler war und an Bronze erinnerte.

„Das sieht aber nicht gut aus“, meinte Torbas.

„Wie wär's mit etwas Hilfe?“, fragte Gorian. „Oder hält man hier auf der Ordensschule nichts von Kameradschaft?“

„Wie soll ich mich da ausdrücken? Ich gebe es ja ungern zu, aber im Moment bin ich mindestens so ratlos wie du. Schließlich kommt hier nicht alle Tage jemand vorbei, der mit einem Stück Sternenmetall alles durcheinander bringt, was in langen Jahren und mühevoller magischer Kleinarbeit geschaffen wurde.“

„Aber du kennst dich hier besser aus und weißt, wie alles läuft.“

„Deswegen warne ich dich. Aberian hat viele Jahre seines Lebens der Erschaffung der Schwarzlichtsphäre gewidmet. Er dürfte also ziemlich ungehalten sein, wenn er das Chaos sieht, das dein Dolch angerichtet hat.“

Dass sich Aberian nach diesem Vorfall tatsächlich für Gorians Anliegen einsetzte, in allen fünf Häusern ausgebildet zu werden, war wohl kaum noch wahrscheinlich.

Gorian verfluchte sich selbst. Er hätte diesen Raum niemals betreten dürfen. Aber es hatte keinen Sinn, sich pessimistischen Gedanken hinzugeben oder über Dinge zu klagen, die nicht mehr zu ändern waren, so sehr er sich das auch wünschen mochte. Nein, es gab nur eine Möglichkeit, und die kannte er im Grunde ganz genau: Er musste handeln und sich dabei auf seinen Instinkt verlassen, denn mit jedem Augenblick, den er zögerte, wurde das Chaos unter dem Kuppeldach nur noch schlimmer.

Ein weiteres Stück glühendes Sternenmetall fiel herab. Um ein Haar hätte es Torbas getroffen, aber der Thiskarener machte im letzten Moment einen Schritt zur Seite, sodass das Metallstück zischend auf den glatten und bis dahin völlig makellosen Steinboden knallte.

„He, das war knapp! Wenn du mich umbringen willst, hättest du dir eine etwas schmerzlosere Methode ausdenken sollen“, beschwerte er sich bei Gorian. Zwar versuchte er noch immer, nach außen hin Kaltschnäuzigkeit zu demonstrieren, aber er konnte seine eigene Unsicherheit kaum mehr verbergen.

Zwei weitere Stücke Sternenmetall fielen herab. Die in der Sphäre aus Schwarzlicht wirksamen und für Gorian bislang völlig undurchschaubaren Kräfte schienen sie geradezu hervorzuspeien. Mit der Geschwindigkeit von Geschossen eines Schleuderkatapults prallten sie auf den Boden und drangen bis zu zwei Fingerbreit in das Gestein ein. Allein die Gabe, Angriffe vorauszuahnen, rettete Gorian und Torbas das Leben und ließ sie gerade noch rechtzeitig ausweichen.

Gorian hob die Hand, murmelte eine Formel, die sein Vater ihn gelehrt hatte und die dazu diente, die Alte Kraft besonders schnell in großem Maß zu sammeln. Dann stieß er einen Kraftschrei aus, während ein weiterer Brocken aus Sternenmetall dicht an ihm vorbeischoss und ihm fast in die Stirn genagelt wäre, hätte er nicht den Kopf zur Seite gezogen.

Der Rächer reagierte zunächst nicht auf seine Bemühungen, sondern torkelte weiter völlig chaotisch durch die Schwarzlichtsphäre. Gorian stieß einen zweiten Kraftschrei aus, und da endlich fiel der Dolch herab und rammte sich mit der glühenden Klinge bis zum Heft in eine der Bodenplatten, sodass nur noch der Griff herausragte. Der verformte sich, bildete eine Verdickung, die Maul, Augen und Konturen eines affenartigen Gesichts aufwies.

Funken sprühten in der Schwarzlichtsphäre, die offenbar daher rührten, dass zahlreiche glühende Stücke Sternenmetall miteinander kollidierten. Immer noch hagelten hin und wieder einige davon hernieder, schlugen durch die Bänke und drangen mit ungeheurer Kraft tief in den Boden ein.

Gorians Augen waren vollkommen schwarz geworden. Er würde alle Kraft brauchen, um diese Sache zu bereinigen, ging es ihm durch den Sinn. Wenn es überhaupt gelingen konnte.

Er ging auf den aus dem Boden ragenden Dolchgriff zu. Der Kopf, der sich an dessen Spitze gebildet hatte, stieß ein Fauchen aus.

„Zögere nicht!“, sagte eine Stimme. „Sonst bildet sich eine Persönlichkeit!“ Die Worte halten in Gorians Kopf wider, aber er hatte sie auch ganz normal mit den Ohren vernommen, und es dauerte einige Augenblicke, bis er begriff, dass es Torbas war, der sie ausgesprochen hatte.

Ein Lichtstrahl schoss aus dessen rechter Hand und traf den Dolch. Es zischte, und ein Stöhnen war zu hören, das, auf gespenstische Weise vervielfacht, in der Kathedrale widerhallte. Außerdem versetzte der Laut die in der Schwarzlichtsphäre schwebenden Sternenmetallstücke erneut in Unruhe. Die Kollisionen nahmen zu. Dutzende von Blitzen flammten gleichzeitig auf, während an anderer Stelle viele der golden schimmernden Stücke zu einem größeren, zunehmend heller leuchtenden Körper zusammenklumpten.

Ein zweiter Lichtstahl aus Torbas’ Hand traf den Griff des Dolchs. Der Kopf erstarrte zunächst und bildete sich dann zurück. Allerdings wölbten sich die entsprechenden Formen schon einen Augenblick später wieder hervor.

„Na los!“, schrie Torbas.

Gorian beugte sich nieder und fasste mit der rechten Hand zu, packte den Griff des Rächers, und dieser schien sich seiner Hand anzupassen. Dann zog er den Dolch mit einem Kraftschrei aus dem Boden. Die Klinge leuchtete noch einmal rotgolden auf, ehe die Glut erlosch.

Nein, der Dolch gehörte ihm, und er würde nicht zulassen, dass aus ihm etwas so Scheußliches wurde wie Ar-Don. Seine Hand hielt den Griff so fest umklammert, dass die Knöchel weiß hervortraten. Die Muskeln seiner gesamten rechten Körperhälfte waren vollkommen verkrampft, aber Gorian fürchtete einfach zu sehr, dass sich der Dolch aus Sternenmetall ein weiteres Mal selbstständig machte, und das wollte er auf keinen Fall riskieren, auch wenn ihm wohl die Erfahrung fehlte, dies auf rein geistiger Ebene zu bewerkstelligen.

„Das wirst du bald gelernt haben“, sagte Torbas, so als hätte er Gorians Gedanken erraten. Er lehnte an einer der Bänke und schien sehr geschwächt. Offenbar hatte er all seine magischen Kräfte einsetzen müssen, um zu verhindern, dass der Rächer einen eigenen Willen entwickelte, was sonst aufgrund der besonderen Bedingungen in der Kathedrale geschehen wäre. „Ich sag ja immer: Finger weg vom Sternenmetall, wenn man damit nicht umzugehen weiß.“

In diesem Augenblick flogen die Flügel des Haupttors förmlich auseinander, und gleißendes Sonnenlicht fiel herein. Dagegen hoben sich zwei Dinge deutlich ab: Der Schattenbringer und eine Gestalt, von der Gorian zwar keine Einzelheiten zu erkennen vermochte, von der er aber dennoch sofort wusste, um wen es sich handelte, denn die geistige Präsenz des Hochmeisters war unverwechselbar.

„Beim Ersten Meister, was geschieht hier?“, dröhnte Aberians Stimme durch die Kathedrale, aber gleichzeitig vernahm Gorian den Ausruf auch auf höchst unangenehme Weise in seinen Gedanken.

Er schluckte, wollte etwas sagen, doch ein dicker Kloß saß ihm im Hals.

Aus der Schwarzlichtsphäre schoss ein Brocken Sternenmetall hernieder. Keine noch so schwache Ahnung warnte Gorian, was vielleicht daran lag, dass keinerlei Absicht hinter dem Angriff lag, sondern nur das zufällige Zusammenwirken verschiedener Kräfte, die letztlich zu chaotisch waren, um sie voraussehen zu können.

Gorian spürte einen furchtbaren Schmerz. Dann umgab ihn nur noch Dunkelheit.



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