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Kapitel 2: Schatten

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In den nächsten Monaten war Gorian bemüht, die Kunst zu erlernen, den Dolch zu schleudern, wie sein Vater es vermochte. Die Flugbahn mit Hilfe seines Willens zu beeinflussen gelang ihm zwar, aber eine wachsende Unzufriedenheit kam in dem Jungen auf, denn er spürte, wie weit er davon entfernt war, die Alte Kraft wirklich zu beherrschen.

„Du hast die Begabung, Gorian. Und wenn du auch den Willen aufbringst, dann wirst du es schaffen, die Alte Kraft zu beherrschen“, sagte Nhorich, als sie sich auf einer Wiese unweit des Hofes befanden, um zu üben. Ein alter Baumstumpf diente Gorian als Ziel. Hier draußen gefährdete er allenfalls sich selbst, aber keinen der Hofknechte oder eines der Tiere.

„Die Priester sagen, dass Magie ein göttliches Geschenk ist, das man erhält oder eben nicht, ohne dass man etwas dazu beitragen kann“, sagte Gorian.

Nhorich lachte. „Ich sehe, du bist wirklich entschieden zu häufig in der Priesterschule in Twixlum!“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, Gorian, in diesem Punkt sind die Ansichten des Ordens und der Priesterschaft völlig unterschiedlich. Nach Ansicht des Ordens ist Magie keine göttliche Gabe, sondern eine Fähigkeit des Einzelnen, die ausgebildet und entfaltet werden muss und zu der man ein Talent braucht. Dieses Talent hast du – und alles andere hängt von dir selbst ab, von niemandem sonst.“

„Wenn ich sechzehn bin und die Sucher des Ordens über Land ziehen, um Novizen zu finden - wirst du dann zulassen, dass ich auf der Ordensburg ausgebildet werde?“

Nhorich schwieg zunächst. „Bis dahin ist es noch lange hin“, sagte er dann.

„Und wenn dieser Tag heute wäre?“, forderte Gorian eine klare Antwort.

Nhorich zögerte. „Du weißt, dass ich im Streit aus dem Orden geschieden und meinen Rang als Schwertmeister niedergelegt habe. Sieh zum Himmel. Der Schattenbringer schiebt sich von Jahr zu Jahr mehr vor die Sonne. Seit mehreren Generationen geht das so, und in jedem Jahr werden unsere Ernten schlechter, das Wetter kälter und unberechenbarer, und oben im Norden sitzt Morygor, der Herr der Frostfeste, in seinem kalten Palast und sorgt mit seiner abartigen, gegen jedes Leben gerichteten Magie dafür, dass sich sein kaltes Reich stetig weiter ausbreitet. Er hat die Eisgötter durch das Weltentor zurück in unsere Welt geholt und sie zu seinen Dienern gemacht. Seine schaurigen Horden von Schreckenskriegern dehnen das Reich ihres Herrn immer weiter aus. Schon vor Jahren wurden fast ganz Torheim und die nördlichen Teile von Orxanien erobert. Die wenigen Flüchtlinge, die es bis in den Süden schafften, berichteten von furchtbaren Dingen, die dort geschehen sind. Jeder weiß, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis dieses Reich der kalten Magie eines untoten Magiers auch das Heilige Reich heimsuchen wird – aber glaubst du, man hätte versucht, irgendwelche Vorkehrungen zu treffen? Die Aufgabe des Ordens ist es, das Reich zu schützen. Stattdessen spinnen seine Oberen Intrigen und kauften die Stimmen von Herzögen, damit mit Corach IV. nun schon zum vierten Mal ein Herzog aus dem Geschlecht der Laramonteser auf den Kaiserthron gelangen kann. Und sie geben dem Kaiser Kredit, nur weil der Bischof von Atrantia und seine Priesterschaft des Verborgenen Gottes dies auch tun und man ansonsten befürchtet, nicht genügend politischen Einfluss zu behalten.“ Nhorich machte eine wegwerfende Geste. „Doch niemand macht sich Gedanken über die Gefahr, die auf uns alle zukommt und der wir nichts entgegenzusetzen haben.“

„Aber was ist mit der Magie der Ordensmeister?“

„Sie wird nicht ausreichen, um der Ausbreitung des Frostreichs Einhalt zu gebieten. Der Herr der Frostfeste kann offenbar selbst die Gestirne bewegen, so mächtig ist er schon. Die alte Sternenmagie der Caladran, von der kaum jemand geglaubt hat, dass mehr dahintersteckt als eine Sage, ist von Morygor, wie es scheint, wiederentdeckt worden – oder er hat neben den Frostgöttern noch sehr viel mächtigere Helfer durch das Weltentor geholt.“

Nhorich streckte die Hand aus. Der Dolch mit den magischen Zeichen steckte in einer Lederscheide an Gorians Gürtel. Die Klinge zuckte daraus hervor und landete in Nhorichs Rechter.

Er hielt seinem Sohn den Dolch in Augenhöhe hin. „Es sind nicht nur die Zeichen der Alten Kraft, die diesen Dolch zu etwas Besonderem machen, sondern auch das Metall. Als das glühende Bruchstück in der Nacht deiner Geburt vom Himmel fiel, schmiedete ich daraus zwei Schwerter ...“

„Schattenstich und Sternenklinge“, murmelte Gorian. Er kannte die Geschichte, aber er hatte diese Schwerter noch nie zu Gesicht bekommen. Es seien Waffen für besondere Schlachten, hatte sein Vater ihm gesagt. Waffen, die nicht nur Furcht bei Feinden zu wecken vermochten, sondern auch das Begehren, sie zu besitzen. Und in den falschen Händen seien sie eine Gefahr. Also bewahrte Nhorich sie an einem Ort auf, den er nie jemandem verraten hatte.

„Der Dolch besteht aus den Resten dieses besonderen Metalls. Es enthält die dunkle Kraft des Schattenbringers, und ich musste erst den Großteil davon austreiben. Nur so viel durfte zurückbleiben, dass ein Mensch sie zu beherrschen vermag und nicht ihr Sklave wird. Und bei dem Dolch ist die enthaltene Kraft noch weitaus geringer als bei den Schwertern, denn ich habe die Legierung anders gemischt. Aber es ist für dich eine gute Möglichkeit, dich zu üben. Denn wenn du den Dolch beherrschst, wirst du eines Tages auch stark genug sein, um Sternenklinge oder Schattenstich zu führen.“

Er gab ihm den Dolch zurück. Gorian betrachtete ihn mit einer Mischung aus Erschrecken und interessiertem Staunen. „Also schlummert tatsächlich die Kraft der Finsternis in dieser Waffe“, stellte er fest. „Ich habe es gespürt, als ich den Dolch zum ersten Mal sah, aber ich konnte es nicht erklären.“

„Finsternis, um die Finsternis zu bekämpfen, so wie man Feuer mit Feuer bekämpft. Es ist das einzige Mittel, das wirkt. Und wenn die Horden des Frostfürsten Morygor eines Tages auch dieses Land erobern, so wirst du seinen Schergen zumindest nicht wehrlos gegenüberstehen.“

Gorian begegnete dem Blick seines Vaters und stellte dann fest: „Du hast meine Frage noch nicht beantwortet. Was ist, wenn ich sechzehn bin – alt genug, um die Ausbildung des Ordens zu beginnen?“

„Du wirst deine eigene Entscheidung treffen müssen“, erklärte Nhorich. „Ich würde nicht versuchen, dich davon abzuhalten, dem Orden beizutreten, aber ich würde dich warnen. Denn der Orden ist seit langem mit Spionen Morygors durchsetzt.“

„War das auch ein Grund, weshalb du dich von ihm abgewandt hast?“

„Ja. Wenn du dich dem Orden anschließt, wirst du mit Verrat rechnen müssen – und damit, vielleicht dem Falschen zu dienen, ohne es zu ahnen. Und das wollte ich auf keinem Fall, auch wenn manche mir vorwerfen, damit den Orden, das Kaiserreich und meine Ideale verraten zu haben. Doch das Gegenteil ist der Fall. Ich bin all dem eher treu geblieben als viele von denen, die es von sich behaupten.“ Er nickte dem Jungen zu. „In deinem Alter würde dich kein Ordensmeister ausbilden – aber ich werde es tun, Gorian. Bis zu deinem sechzehnten Lebensjahr ist noch Zeit, und wer weiß, was bis dahin noch alles geschieht. Ich werde dich ausbilden, und dann wirst du deine eigene Entscheidung treffen – sofern sich bis dahin nicht alles so verändert hat, dass wir uns nur mit Kopfschütteln an unsere Ansichten von heute erinnern.“

Gorian dachte an den Moment zurück, als er in der Barkasse erwacht war. Den ersten Augenblick seines Lebens, an den er sich erinnern konnte. Immer, wenn er Kraft brauchte, erinnerte er sich an diesen Augenblick – und auch dann, wenn er versuchte, sich auf die Alte Kraft zu konzentrieren, von der er immer mehr spürte, wie viel davon in ihm schlummerte, ohne dass er bereits in der Lage gewesen wäre, sie auch einzusetzen. In dieser Hinsicht stand er wirklich erst ganz am Anfang.

Aber damals, in dem Moment, als er das Auftauchen des geflügelten Fisches im Rücken seines Vaters vorausgeahnt hatte, war er eins mit dieser Kraft gewesen, ohne überhaupt schon zu wissen, worin sie eigentlich bestand oder wie man sie bezeichnete. Die geflügelten Fische ... Später hatte er erfahren, dass ihr Auftauchen in der Bucht von Thisilien eines jener Zeichen war, die das künftige Unheil ankündigten. Denn normalerweise gab es diese Bestien nur in den Gewässern zwischen Eisrigge und den Inseln der Caladran. Dass sie so weit südlich nach Beute jagten, konnte nur bedeuten, dass sie aus ihrem ursprünglichen Jagdgebiet vertrieben worden waren. Und außerdem zeigte es, dass die südlichen Gewässer des Meeres von Ost-Erdenrund inzwischen selbst im Sommer kalt genug waren, dass sich diese Kreaturen darin wohlfühlten.

„Sammle deine Kraft, Gorian“, hörte er die Stimme seines Vaters, aber sie trat in den Hintergrund. Er hörte nur noch, wie er sagte: „... und schließ die Augen, denn was sie dir zeigen, lenkt einen so jungen Novizen nur unnötig ab.“

Nur für die Dauer eines Herzschlags kam der Gedanke in ihm auf, wie absurd die Worte seines Vaters eigentlich waren. Aber er folgte seinen Anweisungen, schloss die Augen und schleuderte den Dolch. Er beschrieb eine gebogene Linie, zunächst weit fort, dann drehte sich – scheinbar gegen alle Gesetze der Natur – seine Flugbahn, und er raste auf den Baumstumpf zu, in dem er zitternd stecken blieb.

Gorian sah es mit seinen inneren Sinnen und wusste, noch bevor er die Augen wieder öffnete, wo genau der Dolch in das morsche Holz eingedrungen war.

Sein Herzschlag raste. Dass seine Augen kurzzeitig vollkommen schwarz geworden waren, konnte er selbst nicht sehen. Er fühlte nur die Kraft, die ihn durchflutete. Es war dieselbe Kraft, von der er bereits in seinem zweiten Lebensjahr erfüllt gewesen war, ohne dass er ihre Existenz erahnt hätte.

„Das war gut“, sagte Nhorich. „Für den Anfang.“

––––––––




Dunkle Wolken kamen auf, und wenig später setzten Donner und Hagel ein. Gorian und sein Vater kehrten zum Hof zurück, aber noch ehe sie ihn erreichten, wandelte sich das Wetter erneut, und es begann zu schneien.

„Eine Laune der Natur“, hörte Gorian den Verwalter des Hofes sagen. Er war bei der Anlegestelle der Barkassen gewesen, als das Wetter umschlug. Nun lief er durchnässt zum Haupthaus, wie alle anderen.

„Nein, das ist keine Laune der Natur“, murmelte Nhorich düster. „Es ist die Laune übler Magie!“

Unter den Knechten und Mägden, die sich in die Eingangshalle des Haupthauses von den umliegenden Feldern und Wiesen oder vom Pferdegatter geflohen waren, befanden sich auch mehrere Tiermenschen aus Orxanien und ein stämmiger Gnom aus dem Land der Adhe. Und von den Mägden und Knechten gab es einige, die zwar die thisilische Mundart der heiligreichischen Sprache einigermaßen beherrschten, aber untereinander die Torheims bevorzugten. Sie alle gehörten zu den vielen Wesen, die im Laufe der letzten anderthalb Jahrhunderte ihre Länder verlassen hatten, nachdem deren nördliche Provinzen Morygors Frostreich anheimgefallen waren und sich die Lebensbedingungen in den noch immer unabhängigen Gebieten erheblich verschlechtert hatten.

„Jetzt beginnt es also auch hier“, knurrte einer der Orxanier, dessen Name Gaerth lautete und dessen Stimme wie das Grollen fernen Donners klang. Er überragte jeden heiligreichischen Mann mindestens um die Hälfte, seine Arme waren dicker als selbst deren Oberschenkel, seine Hände erinnerten an die Pranken eines Langzahnlöwen, wie sie die Wälder von Estrigge und Süd-Thisilien durchstreiften. Und die Hauer, die aus einem tierhaften Maul ragten, waren länger als der Dolch an Gorians Gürtel. „Als mein Vater jung war, gab es in Orxanien noch drei Monate richtigen Sommer. Es wuchsen Getreide und genügend Gras, um Rinder und Schafe zu halten. Heute ist das nur noch an der Küste möglich, und auch das mehr schlecht als recht.“

„Wenn du heute sagst, meinst du wohl vor drei Jahren“, mischte sich der Adh ein. Er hieß Beliak und war nicht größer als Gorian mit seinen zehn Jahren, aber seine Breite entsprach beinahe seiner Länge. Obwohl er viel kleiner war als der Orxanier, stand er ihm an Kraft kaum nach, was durch eine wilde Rauferei unter Beweis gestellt worden war, die der Herr des Hofes nur durch Anwendung der Magie der Alten Kraft hatte beenden können. Aber seit die Kräfteverhältnisse zwischen den beiden geklärt waren, verstanden sie sich gut, was eher ungewöhnlich war, denn Adhe und Orxanier waren traditionell verfeindet. Beliak konnte es sich sogar erlauben, den Orxanier mit der Faust freundschaftlich in die Seite zu knuffen, ohne dass darauf sofort eine Antwort in Form eines Faustschlags mit der orxanischen Pranke erfolgte. „Drei Jahre – so lange bist du doch schon hier, und ich wüsste nicht, dass du zwischenzeitlich zurück in deine trostlose Heimat verreist wärst.“

Das schon aufgrund seiner Physiognomie nicht gerade fröhlich wirkende Gesicht des Orxaniers wurde sehr finster. „Trostlos – das ist in der Tat das richtige Wort. Und ich wage gar nicht daran zu denken, wie sich das Land meiner Vorfahren inzwischen verändert haben mag. Es ist mir nicht einmal ein Trost, dass es in manchen Gegenden des Adhe-Landes wohl nicht anders aussieht.“

„Es ist noch viel schlimmer“, murmelte Beliak. „Und vielleicht wird es dich freuen, dass es meinesgleichen in nicht allzu ferner Zukunft nicht mehr geben wird.“

„Wieso sollte es bald keine Adhe mehr geben?“, mischte sich Gorian ein, der sich mit beiden gut verstand.

Beliak wandte den breiten Kopf mit der dicken Knollennase. Der Bart war gestutzt, aber sehr dicht, und er wucherte ihm fast bis unter die von dicken Wülsten beschatteten Augen. „Weil wir Adhe uns auf andere Weise vermehren als die meisten anderen Wesen“, antwortete er.

„Es heißt, ihr wachst aus der Erde“, sagte Gorian.

„Aber nur in den frostfreien Monaten im Sommer. Und die waren seit Adhe-Gedenken schon rar in meiner Heimat. Inzwischen jedoch dürfte es zumindest nördlich von Adhbergen keinen einzigen frostfreien Tag im Jahr geben. Zumindest taut der Boden nicht mehr ausreichend auf, um meinesgleichen daraus hervorwachsen zu lassen.“

Draußen donnerte es, und erneut setzte Hagelschlag ein. Ein stürmischer Wind pfiff um die Gebäude des Hofes und ließ die Läden klappern. Ein Wind, der so eisig war, dass man es selbst im Hausinneren an den Füßen spüren konnte.

Ein Ruck ging durch Gorian.

Etwas kommt!

Es war ein Gedanke, der sich nicht begründen ließ. Ein Gefühl, eine unbestimmte Ahnung, die Gorian für einen Moment wie völlige Gewissheit erschien.

Es dauerte kaum länger als zwei Herzschläge, dann war diese Empfindung vorbei, und Gorian fragte sich, ob er das, was gerade noch so vollkommen seine Aufmerksamkeit erregte, überhaupt existiert hatte.

––––––––




In dieser Nacht erwachte Gorian aus einem unruhigen Schlaf. Es war unbeschreiblich kalt geworden. Im Winter fegten zwar immer häufiger heftige Eisstürme auch über Thisilien hinweg, von denen die Alten sagten, dass es so etwas früher nicht gegeben hätte, aber die Sommersonnenwende war gerade erst ein paar Wochen vorbei.

Gorian erhob sich aus seinem Bett, er fühlte etwa Ähnliches wie in jenem ersten Moment damals, kurz vor dem Auftauchen der geflügelten Fische. Eine diffuse Empfindung der Bedrohung und der Gefahr.

Etwas würde geschehen, das stand für ihn auf einmal außer Frage. Er hatte nur keine Ahnung, was dies sein könnte.

Gorian ging zum Fenster. Eisblumen hatten sich über das Glas gelegt. Das Haupthaus von Nhorichs Hof war eines der wenigen Gebäude in der Gegend von Twixlum, deren Fenster vollständig verglast waren und nicht etwa aus Alabaster bestanden oder nur mit Tuch verhängt waren. Nhorich hatte die Kunst der Verglasung als junger Mann auf einer Reise ins Westreich erlernt, wo die Fertigkeit, Fenster mit Glas auszustatten, weiter verbreitet war als in dieser Gegend. Aber seit das Wetter immer kälter und schlechter wurde, gab es vor allem in den nördlichen Gebieten des Heiligen Reiches immer mehr Hausbesitzer, die ihre Fenster mit Glas versahen und mit Bitumen abdichteten. Denn ähnliche Wetterlaunen, wie Gorian sie an diesem Tag erlebt hatte, kamen dort immer öfter vor.

Adhe und Orxanier sprachen seit langem darüber, aber man konnte inzwischen auch die Händler aus Ameer, der Axtlande oder gar von den Mittlinger Inseln davon reden hören, wenn ihre Schiffe im Hafen von Twixlum anlegten. Gorian waren derartige Berichte zu Ohren gekommen, wenn er zu den Schultagen ging und er Gelegenheit hatte, sich in dem Hafen des kleinen Ortes umzusehen. Immer häufiger klagten die Seeleute auch über geflügelte Fische, die zu einer wahren Plage der Seefahrt geworden waren, ebenso wie über Eisberge, von denen manche angeblich sogar schon bis zu den Inseln des Herzogtums der Dreilande getrieben wurden.

Gorian kratzte sich am Hals und sah aus dem Fenster. Die Gebäude waren weiß, und ebenso die umliegenden Felder und Wiesen. Aber inzwischen hatte es zu schneien aufgehört, und in der Ferne schien ein fahler Mond über einem Meer, das so grau wie ein Leichentuch war.

Ein durchdringendes Wiehern ließ Gorian zusammenzucken. Zuerst dachte er, er hätte eines der Pferde im Stall gehört, die der kalte Wind ebenso frieren ließ wie Menschen, Orxanier und Adhe, auch wenn man letzteren nachsagte, dass sie nur bei ihrer Entstehung kälteempfindlich wären. Dann aber vernahm Gorian Hufgetrappel. Und zugleich wurde ihm klar, dass er beides nicht wirklich hörte. Nicht mit den Ohren zumindest. Diese Geräusche existierten nur in seinem Kopf, wie aufdringliche Gedanken, die sich einfach nicht verscheuchen ließen.

Der Hufschlag wurde drängender, als ob sich tatsächlich eine Gruppe Reiter dem Hof näherte. Dunkle Schatten tauchten aus der Nacht heraus auf. Sie schienen über dem Meer zu entstehen wie Frühdunst und verdichteten sich immer mehr, bis sie zu dunklen Gestalten auf Pferden wurden.

Es dauerte nur einen Augenblick, dann hatten die Reiter den Hof erreicht. Es waren gut ein Dutzend, doch sie blieben schattenhaft. Ihre Reittiere hatten jeweils acht Beine und waren sehr viel größer als alle Pferde, die Gorian je gesehen hatte. Der dröhnende Hufschlag wurde zu einem so bedrängenden Geräusch in seinem Kopf, dass er kaum noch in der Lage war, einen klaren Gedanken zu fassen, geschweige denn etwas zu tun.

Er hätte schreien mögen, aber es ging nicht. Er war wie gelähmt. Eine fremde Macht bannte ihn regelrecht, eine Form der Magie, das spürte er instinktiv, die mit der Alten Kraft, wie die Schwertmeister des Ordens sie einsetzten, eng verwandt war. Gorian vermochte nicht, sich gegen ihren Einfluss zu wehren.

Die Reiter schienen aus purer Finsternis zu bestehen, und die monströsen Streitäxte, die sie bei sich trugen, waren nur als Umriss auszumachen und veränderten ihre Größe, je nachdem, wie sie vom jeweiligen Reiter gehalten wurden.

Wie Schatten!, durchzuckte es Gorian.

Einer der Schattenreiter stieg von seinem achtbeinigen Pferd und wandte den Kopf so, dass Gorian meinte, er würde zu seinem Fenster hinaufblicken. Ihm war sogar, als würde der Reiter seinen Namen aussprechen.

„Gorian!“

Der Gedanke des Schattenreiters dröhnte in seinem Kopf. Wie ein Befehl, der geradewegs in sein Innerstes wirkte und gegen den es keine Möglichkeit des Widerspruchs gab.

Ein höhnisches Gelächter folgte, als der Reiter mit der freien Hand unter den Schatten seines Umhangs griff. Seine dunkle Faust umschloss etwas, ohne dass Gorian erkennen konnte, um was es sich handelte, und schleuderte es empor. Im nächsten Moment traf ein Stein das Fenster. Klirrend zersprang das Glas – und dieses Klirren war das erste reale, nicht nur in Gedanken vorhandene Geräusch, das die Schattenreiter verursachten.

Als das Glas zerbarst, glaubte Gorian, die Zeit selbst würde sich dehnen und alles mit unglaublicher Langsamkeit geschehen. Im letzten Moment gewann er seinen freien Willen zurück, auch wenn das mit einem heftigen Kopfschmerz verbunden war. Er warf sich zu Boden, während der Stein an ihm vorbeischoss und die gegenüberliegende Wand mit solcher Wucht traf, dass er tief in den massiven Blockbohlen, aus denen das Haupthaus von Nhorichs Hof errichtet war, stecken blieb.

Gorian drehte sich auf den Dielen liegend um und starrte zu dem Stein in der Wand, der etwa die Größe seiner Faust hatte und in der Dunkelheit grünlich schimmerte. Nur deswegen war er überhaupt zu sehen. Eine eigentümliche Magie musste in ihm stecken. Aber das Eigenartigste war, dass er seine Form veränderte. Er wirkte wie eine kleine geflügelte Eidechse, die sich zunächst zusammengerollt hatte und sich nun zu entfalten begann. Das Schimmern veränderte sich dabei zunehmend vom Grünlichen ins Rötliche, und ein fauchender Laut entfuhr diesem Wesen.

Ein Gargoyle!, durchfuhr es Gorian. Man erzählte sich Geschichten über diese Steindämonen, aber er hatte nie davon gehört, dass jemals jemand in der Gegend von Twixlum einer derartigen Kreatur auch tatsächlich begegnet war.

Erneut fauchte das Wesen. Während der Körper mittlerweile eindeutig rötlich schimmerte, waren seine Augen nun stechend gelb. Fast wie Lichter, die man soeben entzündet hatte. Ihr Strahlen war so intensiv, dass es taghell im Zimmer wurde. Gorian musste die eigenen Augen mit der Hand abschirmen, so sehr wurde er geblendet.

Der Gargoyle machte einen Satz und landete auf der Truhe, in der Gorian seine Sachen aufbewahrte. Dann breitete die Kreatur die Flügel aus. Sie waren der einzige Teil seines Körpers, der steingrau geblieben war.

Gorian wusste plötzlich, dass dieses Wesen ihn töten wollte. Nur deswegen war es hier. Seine Gedanken voll kaltem Hass und die Absicht, ihn umzubringen, waren dermaßen bedrängend, dass sich jeder Zweifel verbot.

Der Gargoyle verzog das fratzenhafte, eidechsenartige Gesicht, in dem nadelspitze Zähne funkelten.

Erinnere dich an die geflügelten Fische!, versuchte Gorian die schlummernden Kräfte in sich zu wecken. Sein Dolch lag unter dem Bett, und er streckte die Hand danach aus. Sein Vater hatte ihn ermahnt, die Waffe stets bei sich zu tragen, und so bewahrte er sie, selbst wenn er schlief, in seiner unmittelbaren Nähe auf.

Der Dolch bewegte sich, flog durch die Luft. Eigentlich hätte er in Gorians Hand landen sollen, aber sein Flug wurde durch eine plötzlich auftretende Kraft abgelenkt, und im nächsten Moment steckte die Klinge zitternd in der Holzdecke.

Der Gargoyle stürzte sich mit einem triumphierenden Gebrüll auf Gorian und landete auf dessen Brust. Wieder fühlte der Junge jene magische Lähmung, die er schon am Fenster verspürt und die ihn daran gehindert hatte, um Hilfe zu rufen.

Gorian lag da – von dem vergleichsweise winzigen Gargoyle auf seiner Brust mit unheimlicher Kraft an den Boden gedrückt und unfähig, auch nur zu atmen. Das Wesen drohte ihn zu erdrücken, um ein Vielfaches schwerer als ein Gesteinsbrocken seiner Größe normalerweise sein konnte. Gorian bekam keine Luft mehr.

Der Gargoyle fauchte. Seine nagelspitzen Zähne wurden blutrot, näherten sich der Kehle des Jungen, und die grausame Kreatur nahm Maß für einen tödlichen Biss. Gorian versuchte noch einmal seine Kräfte zu sammeln. Aber da war nichts mehr, nur innere Leere und Kraftlosigkeit – und Furcht.

Dann schnappte das Maul des Gargoyle zu ...

––––––––




Genau in diesem Moment wurde die Tür aufgestoßen, und Nhorich erschien, den Griff eines Schwertes mit beiden Händen umklammernd. Er stieß einen Schrei aus – einen jener Schreie, mit denen man die Alte Kraft herbeirief -, seine Augen waren vollkommen schwarz, sein Gesicht eine Grimasse, und der Dolch in der Decke wurde durch eine unsichtbare Kraft aus dem Holz gerissen, fuhr nieder und traf den Gargoyle mit solcher Wucht, dass Funken sprühten und das Wesen fortgeschleudert wurde. Dies geschah mit solch unglaublicher Präzision, dass Gorian keine Schramme abbekam – weder von den Zähnen und Krallen des Gargoyle noch von der Dolchklinge selbst.

Der Gargoyle versuchte zu fliehen. Aber im nächsten Moment war Nhorich einen Schritt nach vorn geschnellt und traf das steinerne Wesen mit einem Schwerthieb von gewaltiger Kraft. Die Klinge zerbrach, der Gargoyle allerdings auch, und seine Bruchstücke landeten auf dem Boden. Sie leuchteten zwar noch, aber dieses Leuchten wurde schwächer und schwächer.

Nhorich ging zu dem zerstörten Fenster, durch das die Kälte hereinwehte. Draußen standen die Schattenreiter vor dem Haus und schienen zu warten.

„Euer mordender kleiner Diener tötet nicht mehr!“, rief Nhorich und vergrößerte mit zwei wuchtigen Schlägen die Öffnung in der Glasscheibe; klirrend brachen die Scherben heraus, als er mit dem gebrochenen Schwert darauf einhieb.

Die Schattenreiter unten verharrten, dann jedoch schleuderte derjenige, der vom Pferd gestiegen war, seine Axt empor. Sie drehte sich in völlig unberechenbarer Weise um sich selbst, zog eine gebogene Flugbahn und veränderte dabei scheinbar ständig ihre Größe.

Nhorich wich nicht zurück. Seine Augen waren noch immer von Finsternis erfüllt. Er schloss sie, schleuderte der Axt sein geborstenes Schwert entgegen, das während des Fluges aufglühte. Als die geborstene Klinge die Axt traf, ertönte ein fast unerträgliches Stöhnen, und der am Boden kauernden Gorian hatte das Gefühl, sein Kopf müsste bersten. Er begriff, dass dieser Laut ebenfalls kein Geräusch im eigentlichen Sinn war, sondern auf direktem Wege auf die Gedanken einwirkte. Selbst der dickste Ohrpfropfen hätte den Laut nicht dämpfen können. Ganz instinktiv hielt er sich dennoch die Ohren zu, während er für einen Moment keinen einzigen klaren Gedanken fassen konnte.

„Werde stärker!“

Diese Worte flammten plötzlich wie ein Fanal in seinen Gedanken auf, und er ahnte sogleich, dass sie von jemand anderem stammten, nicht von ihm. Vielleicht von seinem Vater, der es normalerweise immer vermied, derart in den Geist seines Sohns einzudringen, obwohl ihm seine Ausbildung als Meister des Ordens der Alten Kraft dies zweifellos erlaubte.

Der Zusammenprall der geborstenen Klinge und der Schattenaxt veränderte die Flugbahnen beider Waffen, und dies so offenbar gegen alle Gesetze der Natur, dass es nur durch das Wirken immenser magischer Kräfte erklärbar war. Die Axt jagte zurück zu ihrem Besitzer, durchschlug den schützend erhobenen Schattenarm, aus dem glühendes Blut spritzte, und spaltete mit ebenso grausamer Leichtigkeit den Kopf des Schattenkriegers. Ein zweites, sehr viel schwächeres Stöhnen war zu vernehmen und ging in ein Wimmern über, das verstummte, als der Schattenkrieger zu Boden sank.

Die abgebrochene und nun grellweiß glühende Schwertklinge drang im selben Moment in die Brust eines weiteren Schattenreiters, dessen Schattenpferd sich mit einem durchdringenden Wiehern auf die Hinterhand stellte. Der Laut mischte sich mit einem Gedankenschrei, der an Heftigkeit alles übertraf, was Gorian bisher von den Schattenkriegern empfangen hatte. Für einen Augenblick drehte sich alles vor seinen Augen, die Umgebung verschwamm in einem Strudel aus farbigen Schlieren.

„Ihr Narren!“, rief Nhorich den Schattenreitern zu.

Der von dem geborstenen Schwert getroffene Schattenkrieger war aus dem Sattel gerutscht. Die Reitergruppe zog sich zurück, doch ihre aufdringlichen Gedanken waren sowohl für Nhorich als auch für Gorian wahrnehmbar – Fetzen, die keinen weiteren Sinn ergaben und nur illustrierten, wie groß ihre Furcht war. Sie drehten ab, und der Hufschlag hallte in Gorians Kopf fast so quälend wie der Todesschrei zuvor wider.

Nhorich sah ihnen nach, wie sie in Richtung der grauen See verschwanden. Noch bevor sie das Ufer erreichten, berührten die Hufe ihrer Schattenpferde schon nicht mehr den Boden. Das diffuse Mondlicht ließ sie wie Rauchschwaden erscheinen, und wenig später waren sie eins geworden mit dem grauen Dunst.

Als Gorian wieder klar sehen konnte, erblickte er die Bruchstücke des zersprungenen Gargoyle, die auf dem Boden lagen. Der Kopf bewegte sich, das Maul wurde aufgerissen und stieß ein Fauchen aus, das an eine Wildkatze erinnerte. Die Augen glühten immer noch so stark, dass eine Öllaterne den Raum nicht heller hätte erleuchten können.

Etwas Steinstaub, der beim Zerschlagen des Gargoyle auf den Boden gerieselt war, sammelte sich plötzlich und vereinigte sich mit dem Bruchstück eines Flügels, der wiederum auf den fauchenden Kopf zustrebte.

Ein Gedanke von quälender, hasserfüllter Intensität ging von dieser Kreatur aus. „Ar-Don tötet. Ar-Don tötet für Morygor!“

„Vater!“, rief Gorian. Vielmehr wollte er es rufen, stattdessen aber entrang sich seiner Kehle ein Schrei von jener Art, wie er geeignet war, die Alte Kraft wachzurufen. Er tat es völlig unbewusst und fühlte sich wieder an den Moment erinnert, als die geflügelten Fische seinen Vater und ihn angegriffen hatten.

Der Gargoyle hatte sich gerade wieder zu zwei Dritteln zusammengefügt, wobei sein Körper nicht mehr die ursprüngliche Form zeigte, sondern drei Beine und Arme gebildet hatte. Doch bei dem Schrei des Jungen zersprang er wieder. Das wütende Fauchen, das daraufhin in Gorians Kopf dröhnte, war so heftig, dass er benommen zurücksank. Seine Augen waren weit aufgerissen. Pure Schwärze erfüllte sie für einen Moment und verlor sich dann. „Ar-Don tötet ...“

Nhorich wirbelte herum. Wieder setzte sich der Gargoyle aus seinen Bruchstücken zusammen. Selbst herabgerieselter Steinstaub fügt sich dabei ein - und das Bruchstück von Nhorichs Klinge. Es verwandelte sich in Stein, änderte seine Form und wurde zu einem Teil des Flügels.

Der veränderte Körper des Gargoyle glühte förmlich auf, dann setzte das Steinwesen zu einem Sprung an, dessen Ziel zweifellos Gorian war. Das Maul mit den nagelspitzen Zähnen wuchs während des Sprungs, während der Restkörper schrumpfte.

Der Dolch mit den magischen Zeichen, den Nhorich für seinen Sohn geschmiedet hatte, fuhr aus dem Deckenholz und traf den Gargoyle, bevor er Gorians Kehle aufreißen konnte. Das steinerne Wesen zersprang erneut, und die einzelnen Teile glühten so hell, dass man kaum hinschauen konnte. Nhorich streckte die Hand aus, und der Dolch flog hinein.

Diesmal war der Gargoyle in noch mehr Bruchstücke zerfallen. Doch auch die versuchten, sich wieder zu größeren Stücken zu vereinen. Nhorich sprach eine Formel, und seine Stimme klang völlig verändert. Sie war tiefer, und zudem hörte Gorian sie zusätzlich in seinen Gedanken, als wäre es ein Echo. Eine Bannformel!, erkannte der Junge sofort, denn er hatte seinen Vater schon mal dabei erlebt, wie er einen solchen Zauber wirkte. Allerdings war es dabei nur darum gegangen, Waldgeister davon abzuhalten, sich an den Feldfrüchten gütlich zu tun.

Nhorich richtete den Dolch auf den Gargoyle, dessen Einzelteile sich bereits wieder zusammengefunden und einen eiförmigen Stein gebildet hatten. Der Dolch glühte, zuerst grellgelb, dann grünlich, dann schoss ein Strahl aus Schwarzlicht aus ihm heraus und sprengte den Stein. Jedes der Bruchstücke leuchtete noch einmal auf, aber dieses Leuchten wurde in den nächsten Augenblicken schwächer und verlosch schließlich.



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