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Kapitel 5: Schlächter

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Es war in Gorians sechzehntem Jahr, als sich die Stimme Ar-Dons seit langer Zeit wieder in seinen Gedanken meldete. Vielleicht hing es mit dem heftigen Streit zusammen, den Gorian sich mit seinem Vater geliefert hatte. Es war eine von mehreren Auseinandersetzungen, die allesamt mit seinem nahenden sechzehnten Geburtstag zusammenhingen – dem Tag, von dem an er dem Orden der Alten Kraft beitreten konnte.

Nhorich versuchte seinem Sohn klarzumachen, dass er schon mehr gelernt habe als so mancher, der kurz davor stand, sich der ersten Prüfung eines Schwertmeisters zu unterziehen, und dass er diese Ausbildung gar nicht mehr bräuchte. Gorian aber wandte ein, dass es doch sicherlich besser sei, alles zu erfahren, was es über die Alte Kraft zu wissen gab, um dann umso mehr Möglichkeiten zu haben, Morygor und das Frostreich bekämpfen zu können. Wenn Morygor selbst schon ahnte, dass man ihn stürzen konnte, dann musste sich doch mithilfe der magisch begabten Ordensmeister der beste und sicherste Weg finden lassen, der zu diesem Ziel führte.

Und warum sollte es eigentlich nur Morygor vorbehalten sein, den Verlauf der Schicksalslinien einschätzen zu können und die entscheidenden Momente zu erkennen, an denen geringe Kraft große Wirkung entfaltete? Wieso sollte der Orden dem Feind nicht auf dessen eigenem Gebiet schlagen können, wenn man die Kräfte all seiner Mitglieder zu diesem Zwecke bündelte?

„Aber genau dies wird nicht geschehen“, wandte Nhorich auf dieses Argument seines Sohnes hin ein. „Denn dazu ist der Orden bereits innerlich zu verderbt, unfähig, die Aufgaben zu erfüllen, für die seine Gründer ihn einst geschaffen haben.“

Der Wunsch, dem Orden als Schüler beizutreten und auch gegen die Ermahnungen seines Vaters dort die Ausbildung zu beginnen, wurde immer stärker in Gorian, je näher die Möglichkeit rückte, diesen Gedanken in die Tat umzusetzen. Mochte Nhorich auch tief greifende Differenzen mit dem Orden und einigen seiner Mitglieder haben – musste sich diese Abneigung deswegen auch auf seinen Sohn übertragen?

Gorian hatte die Antwort für sich selbst schon gefunden. Es ging letztlich darum, Ost-Erdenrund vor einem schrecklichen Unheil zu bewahren oder dieses Unheil zumindest einzudämmen. Und Gorian fand, dass man zu diesem Zweck die alten Gegensätze beiseite schieben müsste, wollte man auch nur den Hauch einer Erfolgsaussicht haben.

Bisweilen wurden die Streitigkeiten zwischen Gorian und seinem Vater so heftig, dass sie daraufhin tagelang nicht miteinander sprachen. Gorian schmerzte es, dass es offenbar nicht möglich war, seinen eigenen Weg zu gehen, von dem er glaubte, dass er der richtige war, ohne seinen Vater zutiefst zu verärgern. Hatte Nhorich nicht damals gesagt, Gorian sollte selbst entscheiden, ob er dem Orden beitreten würde oder nicht, sobald er das entsprechende Alter erreichte? Offenbar schien das nicht mehr uneingeschränkt zu gelten.

Genau in dieser Zeit wisperte wieder Ar-Dons Stimme in seine Gedanken. Zunächst war sie nichts weiter als ein einschmeichelndes Flüstern, aber bald schon wurde sie drängender, fordernder. „Dein Vater hat vor dir Geheimnisse, hält wichtige Wahrheiten vor dir verborgen. Er weiht dich nicht ein und verschweigt dir vieles. Ich aber würde dir so gut und treu dienen, wie ich Morygor diente. Ja, mehr noch, ich würde dir ewig dankbar sein, wenn du mich befreist und neu erstehen lässt. Und ich würde dir helfen, Morygor zu besiegen, denn ein Teil von mir hasst ihn wie sonst nichts auf der Welt!“

Und noch eher sich Gorian selbst die Frage stellen konnte, weshalb Ar-Don seinen Herrn und Meister zu hassen vorgab, obwohl der ihm doch Asyl in seiner Frostfeste geboten hatte, drang eine Flut von Bildern in den Geist des Jungen ein, so heftig, dass ihm für einen Moment schwindelig wurde. Zunächst schien alles Chaos zu sein: Farben, Formen, schließlich Konturen einer vereisten Landschaft, die einem Totenreich glich und in der nichts Lebendiges auszumachen war. Die in Eisrigge gelegene Frostfeste erschien vor Gorians innerem Auge – und Schreie gellten in seinem Kopf, die nichts Menschliches an sich hatten, obwohl es zweifellos ein furchtbar geschundener Mensch war, der sie ausstieß.

„Sieh, was ich getan habe! Sieh, was ich wurde! Und sieh, warum ich hasse!“, wisperte Ar-Don.

„Nein!“, rief Gorian laut aus. „Ich will es nicht sehen!“

Seine Augen wurden pechschwarz, und für einen Moment sah er buchstäblich nichts; nur Schwärze umgab ihn – und die gequälten Schreie einer Seele, die offenbar innerhalb der Eismauern von Morygors Festung gefoltert wurde ...

––––––––




An einem der folgenden Tage gab es einen so harschen Wetterwechsel wie schon lange nicht mehr. Hagelschauer, Schneefall und ein eisiger Wind aus Nordwesten zeigten den Menschen in Thisilien, dass die Hoffnungen, die ihnen der Waldprediger eingeredet hatte, doch verfrüht gewesen waren. Die Frostgötter streckten ihre eisigen Klauen nach den nördlichen Herzogtümern des Heiligen Reichs aus, wie sie dies schon lange nicht mehr getan hatten, und zudem war der Schattenbringer in letzter Zeit ein deutliches Stück weiter vor die Sonne gerückt.

Eine ganze Weile hielt dieses für die Jahreszeit viel zu kalte Wetter an und setzte der gerade erblühten Vegetation zu. Nhorich unternahm einen zusätzlichen, vom Kalender her eigentlich nicht eingeplanten Ritt, um die Zaubersymbole an den Grenzmarkierungen seines Landes nachzuzeichnen, und stellte dabei fest, dass sie so stark verblasst waren, als wären sie schon seit Jahren nicht erneuert worden.

„Gleichgültig, ob Magie oder nur das schlechte Wetter dafür verantwortlich ist, es ist ein Zeichen“, sagte Nhorich zu Gorian, der ihn auf diesem Ritt abermals begleitete. Gorian konnte die Symbole an den Schädelsteinen schon größtenteils selbstständig erneuern, aber Nhorich bestand darauf, jeden Strich eigenhändig zu setzen, so als würde es auf die Sorgfalt bei jedem einzelnen Kraftzeichen diesmal mehr ankommen als bei anderen Gelegenheiten.

„Was ist eigentlich mit deinem Versprechen, das du mir damals gabst und nachdem ich selbst entscheiden kann, ob ich dem Orden beitrete oder nicht?“, fragte Gorian unvermittelt, nachdem sie dieses Thema in den letzten Tagen tunlichst gemieden hatten.

„Es ist schwer, einem solchen Grundsatz treu zu bleiben, wenn man erkennt, dass der eigene Sohn einen Irrweg beschreitet.“

„Keiner von uns kann das beurteilen, Vater. Nicht jetzt. Nicht zu diesem Zeitpunkt.“

„Mag sein. In den Axiomen des Ordens wirst du gelesen haben, dass ein Irrweg manchmal ein notwendiges Stück des richtigen Weges ist, der dann letztlich zum Ziel führt.“

„Meine Frage hast du mir noch nicht beantwortet.“

„Ist es denn noch von Bedeutung, was ich darauf antworte? Wirst du nicht ohnehin tun, was dir als richtig erscheint? Würde meine Antwort dich daran hindern, das zu tun, was du dir vorgenommen hast?“

„Das weiß ich nicht.“

Nhorich atmete tief durch, doch es klang mehr wie ein Seufzen. „Das Wort, das ich dir gegeben habe, gilt nach wie vor“, sagte er schließlich. „Auch wenn es mir schwerfällt und ich mein Versprechen in letzter Zeit vielleicht nicht genügend beachtet habe.“

„Das bedeutet mir viel“, sagte Gorian.

––––––––




Am nächsten Tag trieben Eisschollen in der Bucht von Thisilien, und es waren so viele geflügelte Fische im Wasser, dass kein Fischer an der gesamten Küste zwischen Twixlum und dem Grenzfluss Seg, an dessen östlichem Ufer das Herzogtum Estrigge begann, auszulaufen wagte. So zahlreich waren diese Bestien, dass wohl selbst eine Hundertschaft guter Harpuniere den Kampf mit diesen Geschöpfen verloren hätte. Das Korn auf den Feldern wurde durch den Hagel niedergedrückt, und jedem war klar, dass der nächste Winter sehr hart werden würde.

Da das Wetter immer ungewisser wurde, gab Nhorich die Anweisung, die Barkassen an Land zu holen, damit sie keinen Schaden nahmen. Für gewöhnlich tat man das erst spät im Herbst oder im frühen Winter, aber in diesem Jahr schien alles anders. Deshalb befanden sich Gaerth und Beliak an der zum Hof gehörenden Anlegestelle, um die letzte Barkasse an Land zu ziehen. Die anderen lagen bereits umgedreht und mit Decken geschützt am Ufer. Die Masten hatte man abgenommen und sicher verstaut.

Gorian war ebenfalls in der Nähe und führte seine täglichen Übungen mit Sternenklinge durch. Mit geschlossenen Augen kämpfte er gegen einen imaginären Gegner und konzentrierte dabei die Alte Kraft so sehr, dass ein bläulicher Lichtflor die dunkle Klinge umgab, wenn er sie schnell bewegte und genug Entschiedenheit und Willen in seine Hiebe legte. Verschwand der Flor, war Gorian zu langsam und seine Konzentration auf die Alte Kraft zu gering. Ziel der Übung war es, den Lichtflor ständig aufrechtzuerhalten. Doch eine einzige unbedachte Bewegung, der keine willentliche Entscheidung des Kämpfers zugrunde lag und die daher nicht mit der nötigen Schnelligkeit durchgeführt wurde, reichte aus, dass die Lichterscheinung verblasste und dann nur wieder mit großer Mühe erzeugt werden konnte. Es war eine reine Konzentrationsübung, denn auf die Kampfkraft der Waffe hatte der Lichtflor keinerlei Auswirkung.

Gorian hielt plötzlich in der Bewegung inne und öffnete die Augen, in denen nichts als pure Finsternis zu sehen war. Dass der Lichtflor verlosch, war in diesem Moment nicht mehr von Bedeutung, denn Gorian hatte die Anwesenheit von etwas gespürt, das weitaus wichtiger erschien. Es war nicht das Raunen des zerschlagenen Gargoyle, der sich mit seiner untoten Existenz noch immer nicht abfinden konnte, sondern etwas anderes. Etwas, das Gorian bisher noch nicht kannte.

Er blickte zum Horizont. Eine Wand aus grauem Dunst stand, einer düsteren Mauer gleich, mitten in der Bucht von Thisilien. Das Platschen der geflügelten Fische, die aus den Fluten emporsprangen und nach kurzem Flug wieder eintauchten, war den ganzen Tag über zu hören gewesen. Nun jedoch war es still. So als ob irgendetwas die geflügelten Meeresräuber dazu veranlasst hatte, sich in ihrem ureigensten Reich der Tiefe zu verbergen.

Zu verbergen vor einer Macht, der auch sie nichts entgegenzusetzen hatten ...

Gorian blinzelte und sah die Schatten in der Nebelwand schon einen Moment früher, als andere sie erkannt hätten. Er ahnte ihr Auftauchen in ähnlicher Weise voraus wie den Angriff der geflügelten Fische während jener Bootsfahrt, die die erste Erinnerung seines Lebens war.

Die Schatten wurden größer. Ein Geräusch, das an Ruderblätter erinnerte, die ins Wasser getaucht wurden, mischte sich mit dunklen Stimmen, die sehr rau klangen und sich offenkundig nicht in einem der heiligreichischen Dialekte unterhielten. Barsche Befehle waren es, die erteilt wurden, kehlige Schreie, dumpfe Laute, die für menschliche Ohren unartikuliert klangen, für solche mit anderen Hörgewohnheiten jedoch offenbar Bedeutung hatten.

Orxanier!, durchfuhr es Gorian, während er das Schwert in die Scheide steckte, die er immer noch bevorzugt auf den Rücken gürtete, obwohl er längst groß genug gewesen wäre, sie an der Seite zu tragen.

Dunkel tauchte das erste der Schiffe aus dem Dunst hervor. Es war lang und breit, und der Mast diente einzig dem Hissen der Fahne, denn Orxanier segelten nicht, sie ruderten. Am Bug war deutlich ein Rammsporn aus Metall zu erkennen, der dazu diente, Eis zu zerbrechen, wenn in harten Wintern die Buchten an den Küsten der nördlichen Länder zugefroren waren.

„Sieh mal, Gaerth, deine bucklige Verwandtschaft will uns einen Besuch abstatten!“, drang in diesem Moment Beliaks Kommentar an Gorians Ohr. Der Adh sah von seiner Arbeit auf, die darin bestand, ein paar Taue zu entwirren, die er am liebsten wohl einfach durchgebissen hätte, doch das hätte ihm den Ärger des Hofherrn eingebracht.

Gorian lief zur Anlegestelle. „Was haben diese Schiffe hier zu suchen?“

Gaerth ließ ein dumpfes Grollen hören und knurrte etwas Unverständliches, wobei dampfender Speichel zwischen seinen Hauern hervorsprühte.

„Na, ist das etwa nicht die Flagge deines Clans?“, fragte Beliak und grinste dabei von einem seiner großen Ohren zum anderen. „Was wollen die hier? Hast du denen etwa eine Brieftaubenbotschaft geschickt, dass sie alle herkommen sollen, um Zuflucht vor Morygors Horden zu finden? Wer weiß, vielleicht erstreckt sich das Frostreich ja schon bis zur orxanischen Küste.“

„Ja, das ist zu befürchten“, murmelte Gaerth. „Doch für Brieftauben ist es längst viel zu kalt in Orxanien. Und ich wüsste auch keinen Orxanier, der mit Tauben mehr anzufangen wüsste, als sie zu verspeisen. Wenn man Botschaften überbringen will, kann man schließlich laufen ...“

„Aber nicht übers Wasser.“

„... oder rudern!“

„Ist das wirklich die Flagge deines Clans?“, fragte Gorian an Gaerth gerichtet.

Der Orxanier nickte und hielt die linke Pranke hoch. „Eine orxanische Hand, der ein Finger fehlt – das ist das Zeichen unseres Clans, weil unser Ahnherr diesen Finger verlor, als er bei einer Mutprobe einen lebendigen Eisfrosch zu verschlingen versuchte.“

„Der Frosch hat sich gewehrt?“

„Offenbar“, lachte Beliak. „Und ich habe dafür auch vollstes Verständnis.“

„Ja, aber das verlängerte sein Leben nur um wenige Herzschläge“, sagte Gaerth. „Dann verschlang ihn mein Ahnherr mit einem Happen - und mitsamt seinem eigenen Finger.“

„Ihr Orxanier habt schon eigenartige Manieren“, spottete der Adh.

„Mein Ahnherr verhinderte dadurch einen Krieg, weil diese Mutprobe eine Landstreitigkeit regelte. Und jemanden, der seinen eigenen Finger isst, den greift niemand an, denn man traut ihm jede Grausamkeit zu, auch wenn er in Wahrheit doch eher friedfertig war, mein Ahnherr.“

Immer mehr orxanische Ruderschiffe tauchten aus dem Dunst auf. Heisere Stimmen stießen Laute aus, die an das tiefe Bellen großer Hunde erinnerten. Damit wurde offenbar der Rhythmus angegeben, in dem gerudert wurde.

Gaerth wandte sich an Gorian. „Ich habe keine Ahnung, was die hier wollen. Eigentlich hatte ich gedacht, unser Clan wäre von Morygors Horden vernichtet worden.“

„Genau das ist wohl geschehen“, befürchtete Gorian. „Und deine Verwandten sind gekommen, um uns im Auftrag des Frostherrn zu töten!“

Und tatsächlich - je näher die Schiffe der Orxanier kamen, desto deutlicher wurde, dass es sich nicht um gewöhnliche Angehörige dieses Volkes handelte.

Es waren Untote.

Frostkrieger – gefallen im Kampf gegen Morygors Horden und durch Magie zu einem neuen, eisigen Leben erweckt. Willenlose Mördersklaven im Dienste des Frostherrn. Der Zauber, der sie zu Untoten gemacht hat, war ein anderer als jener, durch den Schwertmeister des Ordens zu Schattenreitern wurden, aber ebenso wirksam. Ein beträchtlicher Teil von Morygors Truppen bestand aus diesen Kreaturen – mit Vorliebe aus ehemaligen Orxaniern, da sich ihre Kraft auch in ihrer untoten Existenz erhielt. Wer schon im Leben robust war, der war auch als Frostkrieger härter als andere. Es gab aber auch Erzählungen über Eiskrieger, die ursprünglich Menschen oder Adhe gewesen waren – und ganz selten sogar goldäugige, spitzohrige Caladran von den Inseln im Westen.

Die Haut der Frostkrieger war grünlich und ähnelte verwesendem Fleisch, doch der Frostzauber verhinderte, dass sich ihre Leiber zersetzten, und hielt sie aufrecht. Sie waren durch und durch gefroren, und das Eis ließ sie selbst in dem schwachen, dunstigen Licht dieses grauen Tages schimmern und glitzern wie die Waren auf den Fischmärkten von Thisia.

Gorian hatte seinen Vater bisweilen von den Frostkriegern erzählen hören. Manches davon entstammte wiederum den Erzählungen von Großvater Erian, der lange und ausdauernd gegen sie gekämpft hatte.

Der magische Schutz, mit dem Nhorich sein Land umgeben hatte und der vor kurzem erst durch das Erneuern der Kraftzeichen wieder gestärkt worden war, würde gegen diese Untoten nichts nützen, denn ebenso wie bei den Schattenkriegern oder Ar-Don gab es unzweifelhaft eine sehr starke Verbindung zwischen ihnen und diesem Ort.

Und diese Verbindung hieß Gaerth.

Der Orxanier wirkte völlig konsterniert, als er die lebenden Toten seines Clans nahen sah. „Grexan! Tegret! Belpaan!“ Er sprach fassungslos ihre Namen, erkannte offenbar jeden Einzelnen von ihnen wieder.

Und doch musste ihm klar sein, dass diese gefrorenen Kreaturen auch innerlich so kalt waren wie ihr Äußeres und marionettenhaft den Willen eines anderen ausführten. Sie würden niemanden schonen – auch einen Verwandten nicht, denn mit den Mitgliedern des Clans des vierfingrigen Froschessers hatten diese Geschöpfe kaum mehr als die Gesichtszüge gemein.

„Die Frostgötter sorgen offenbar mit ihrem eisigen Hauch dafür, dass diese Gestalten nicht zu Haufen von stinkendem Fleisch zerfallen“, murmelte Gaerth, dann verzog sich sein Gesicht zu einer Grimasse des inneren Schmerzes und der Wut. Erneut troff Speichel von seinen Hauern, als er einen Schrei ausstieß, wie Gorian ihn noch nie zuvor gehört hatte – weder von einem Orxanier noch von einem Menschen oder irgendeiner anderen Kreatur.

Der Orxanier trommelte sich wie ein Wahnsinniger auf die Brust. „Gebt mir ein Schwert! Eine Axt! Einen Bogen! Warum habe ich keine Waffe bei mir? Ah ...“ Er riss das Messer zum Spleißen der Seile aus seinem Gürtel – die einzige Waffe, die er gerade bei sich trug – und schleuderte es den Frostkriegern entgegen. „Hier! Nimm deine Erlösung, Onkel Srapax!“, rief er.

Kein Mensch hätte einen Wurf von solcher Reichweite ausführen können, und Gorian hatte auch noch nie einen Orxanier ein Messer schleudern sehen. Es war größer als jene, die Menschen benutzten, schon weil Gaerths riesige Pranke ansonsten den Griff gar nicht hätte umfassen können. Die Klinge ähnelte eher einem Kurzschwert, wie die Krieger der Stadtwache von Thisia sie führten.

Die orxanische Klinge traf einen der Frostkrieger, der, eine monströse Axt schwingend, am Bug des ersten Ruderschiffs Aufstellung genommen und drohende Knurrlaute in Richtung des Ufers ausgestoßen hatte. Die Klinge bohrte sich ihm genau ins rechte Auge. Er taumelte zurück und stürzte ins Wasser, woraufhin sich ein ohrenbetäubendes Wutgeheul unter den orxanischen Frostkriegern erhob.

Jetzt lief Gaerth zur letzten Barkasse, die er zusammen mit Beliak eigentlich an Land hatte ziehen wollen. Er packte den bereits herausgenommenen Mast und brach ihn in der Mitte über dem Knie durch, sodass zwei angespitzte Enden entstanden. „Zur Seite!“, herrschte er Gorian und Beliak an, während er mit jeder Pranke jeweils eine Hälfte des Barkassenmastes wie einen Speer fasste, die spitzen Bruchenden nach vorn gerichtet. Mit zwei furchtbaren Schreien warf er den Angreifern die beiden Masthälften entgegen und streckte damit zwei seiner zu Frostkriegern gewordenen Verwandten nieder. „Seid mir dankbar, dass ihr nicht länger als gefrorene Leichen umherlaufen müsst!“, rief er, wobei seine Sprache vom Heiligreichischen ins Orxanische und wieder zurückwechselte, ohne dass ihm das wohl selbst bewusst war.

Doch die Antwort der Frostkrieger folgte unmittelbar. Speere und Wurfäxte hagelten auf die Anlegestelle nieder. Gorian wich zur Seite. Ein Speer jagte haarscharf an seinem Kopf vorbei. Gaerth allerdings wurde von einer Wurfaxt in den Kopf getroffen. Der Orxanier schwankte. Er stieß einen dumpfen, grollenden Laut aus und verzog das Maul mit den Hauern. Die Wurfaxt hatte ihm die Stirn gespalten.

Gaerth umfasste den Griff der Waffe, die aus einleuchtenden Gründen größer war als jede unter menschlichen Kriegern oder Holzfällern gebräuchliche Axt. Mit einem Schrei riss er sie sich aus dem eigenen Schädel. Hirnmasse tropfte von der Klinge.

Mit einer ausholenden Bewegung schleuderte er sie zurück, während ihn beinahe gleichzeitig zwei Speere trafen; einer durchbohrte seine Brust, der andere den Hals. Er sank auf die Knie und sah noch, wie sein Axtwurf durch die ungeheure Wucht, mit der er die Waffe geschleudert hatte, einem der Frostkrieger den Hals zu zwei Dritteln durchtrennte und ihn vom Schiff ins Wasser kippen ließ.

Ein dritter Speer drang Gaerth in das aufgerissene Maul, trat hinten im Nacken wieder aus und ließ Blut in einer Fontäne hervorschießen. Sterbend fiel er auf die nur noch unzureichend vertäute Barkasse, die sich durch den Schwung löste und ein Stück hinaus in die Thisilische Bucht trieb.

Gorian riss das Schwert aus der Rückenscheide und ließ Sternenklinge blitzartig die Luft durchschneiden. Er traf den Schaft eines Speers, der ansonsten Beliak getroffen hätte, und durchschlug ihn. Mit einem zweiten Hieb wehrte er ein Wurfbeil ab. Bläuliche Funken sprühten, als das Sternenmetall seiner Waffe auf die Axtklinge traf.

„Nur weg hier!“, rief Beliak.

Zusammen mit Gorian rannte er den Steg entlang. Einen Speer, der nach ihm geschleudert wurde, musste Gorian noch abwehren und mit einem Hieb zur Seite schlagen. Ein weiterer Speerwurf war einfach nicht weit genug, um ihn oder Beliak zu gefährden.

Plötzlich blieb Gorian stehen.

„Worauf wartest du?“, rief der Adh. „Darauf, dass sie uns abschlachten oder zu Untoten machen? Nun komm schon!“

Gorian fasste Sternenklinge mit beiden Händen und sah, wie die Frostkrieger anlandeten. Die gefrorenen Orxanier dampften förmlich. Offenbar war selbst der kalte Hauch der Frostgötter nicht eisig genug, um Bedingungen zu schaffen, unter denen sich diese Kreaturen wirklich wohlfühlen konnten. Es war die magische Kälte, die sie vollkommen erfüllte und sie bis ins Innerste gefroren hielt, die ihre Körper dampfen ließ.

Die Ruderschiffe blieben im flachen Uferbereich stecken, und Dutzende von orxanischen Frostkriegern sprangen hinab. Es zischte jedes Mal, wenn einer von ihnen von Bord sprang. Sie stießen barbarische Schlachtrufe aus und brüllten sich gegenseitig mit ihren vorspringenden Mäulern an, als wären sie ein Rudel wilder Raubtiere auf Beutefang.

„Komm jetzt!“, rief Beliak. „Mit etwas Glück könnte uns die Flucht gelingen!“

Sich gegen die Übermacht der Orxanier zur Wehr zu setzen, schien der Adh gar nicht erst in Betracht zu ziehen. Und Gorian musste widerwillig zugeben, dass die Einschätzung des knollennasigen Gnomen vollkommen richtig war. Eine vage Hoffnung blieb, dass vielleicht die Magie der Schädelsteine den Angreifern wenigstens etwas von ihrer Kraft nahm.

Immer mehr der zu Frostkriegern gewordenen Orxanier sprang von den angelandeten Schiffen und wateten durch das viel wärmere Wasser der Thisilischen Bucht.

Gorian stand starr da, Sternenklinge in der Hand und den Blick auf die Angreifer gerichtet.

Und auf dem grauen Nebel dahinter.

„Da kommt noch etwas!“, wusste er plötzlich.

Beliak packte ihn an der Schulter. „Weg hier, Gorian! Nimm das schnellste Pferd aus dem Stall und verschwinde von hier, solange es noch geht! Du hast gesehen, was sie mit Gaerth, ihrem Verwandten, gemacht haben! Die werden hier niemanden am Leben lassen!“ Er deutete mit ausgestrecktem Arm zum Meer. „Und wenn sie dich wieder erwecken, wird das aus dir!“

Aus den Fluten stieg gerade einer der orxanischen Untoten, denen Gaerth die Hälften des durchgebrochenen Mastes in die Leiber getrieben hatte. Das Maststück stach vorn und hinten aus seinem Körper hervor. Vergeblich versuchte er, ihn sich aus der eisigen Brust zu ziehen, aber er schaffte es nicht. Das Holz glitzerte bereits, denn es war inzwischen ebenfalls mit einer dünnen Eisschicht überzogen, die noch stärker dampfte als die Körper des Frostkriegers selbst.

Der Orxanier brüllte laut und voller Wut, hob sein Schwert, das fast so breit war wie zwei menschliche Handspannen und sich an der Spitze teilte, ganz wie es der Schmiedetradition der Orxanier entsprach, und schlug mit einem Hieb vorn ein Stück des Mastes ab, sodass er nicht mehr so stark in seinen Bewegungen behindert wurde.

In den letzten Jahren hatte sich Gorian bemüht, alles über die Frostkrieger zu erfahren, was an spärlichen Informationen bis nach Thisilien gelangt war. Gaerth hatte ihm von den verzweifelten Abwehrkämpfen erzählt, die in Orxanien gegen diese Kreaturen geführt worden waren. Außerdem hatte Gorian einiges in den Schriften des Ordens gefunden, die sein Vater noch auf dem Speicher aufbewahrte.

So unterschiedlich die einzelnen Darstellungen und Berichte auch waren, in einem stimmten sie alle überein: Auch Untote waren keineswegs unsterblich, und wenn eine dieser Kreaturen so schwer getroffen wurde wie jener Orxanier mit dem Maststück im Leib, bedeutete dies normalerweise ihr Ende – und nach dem Glauben vieler auch die Erlösung desjenigen, der zum Sklaven des Unheils geworden war.

Gaerth war sich nicht sicher gewesen, ob sich die Seelen der Unglücklichen, die als Untote in den Reihen der Frostheere kämpften, nicht schon längst zuvor verflüchtigt hatten, aber auch er war davon überzeugt gewesen, dass eine schwere Verwundung für einen Frostkrieger ebenso tödlich war wie für ein lebendes Wesen.

Wenn also ein Frostkrieger so schwer zu töten war wie dieser dort, dann musste ihn eine sehr starke Kraft beseelen. Eine Kraft von dunkler Magie, die wohl auch dafür sorgte, dass die Frostkrieger nicht einfach dahinschmolzen, obwohl sie sich doch sehr weit vom kalten Reich ihres Herrn entfernt hatten.

Wind kam auf. Ein Wind, so kalt und schneidend, wie Gorian ihn nie zuvor erlebt hatte. Seine Kälte ließ die Frostkrieger wohlig aufstöhnen, und mancher von ihnen hielt die Arme empor, als wollte er ihn begrüßen.

An Beliaks Knollennase und in seinem strubbeligen Haar bildete sich Raureif, und obwohl Adhe – außer bei ihrer Entstehung – alles andere als kälteempfindlich waren, begann er zu zittern.

Beide starrten sie in die Dunstwand, wo sich ein riesenhafter Umriss zeigte. Eine Gestalt, so groß wie eines der mehrstöckigen Lagerhäuser am Hafen von Thisia, schälte sich aus dem Grau des Nebels. Sie glich einem achtbeinigen Eisbären, der sich aufgerichtet hatte und sich mit den Tatzen seiner drei oberen Beinpaare auf einen Stab stützte, der dick wie ein Baumstamm war. Der Stab wirkte wie aus Elfenbein, als wäre er aus dem Maul eines gewaltigen Walrosses gebrochen worden. Die Spitze steckte in der Eisscholle, auf der der achtbeinige Eisbär stand, und dort, wo der Zahn vielleicht einmal in einem riesenhaften Walrosskiefer gesteckt hatte, war ein Orxanier-Schädel befestigt worden.

Dunkel quoll eine Flüssigkeit unter dem Schädel hervor, und Gorian fühlte sich unwillkürlich an das schwarze Blut aus der Handwunde seines Vaters erinnert. Es zischte, wenn Tropfen davon die Eisscholle und die Füße des achtbeinigen Eisbären berührten.

Beliak stotterte ein paar Worte in der Sprache der Adhe. Die Erscheinung dieses Wesens raubte ihm die Fassung. Selbst die Frostkrieger, die sich bedrohlich näherten, schienen ihm für diesen Moment gleichgültig.

„Frogyrr!“, murmelte er. „Ihr Götter Orxaniens! Frogyrr, der achtbeinige Bär, der dem Riesenwalross den Zahn stahl! Es muss einen sehr wichtigen Grund geben, dass Morygor ihn so weit in den Süden schickt ...“

Frogyrr war einer der Frostgötter, die einst in der großen Schlacht am Weltentor aus der diesseitigen Existenzebene vertrieben worden waren und die Morygor durch seine Magie zurückgeholt und zu seinen Dienern gemacht hatte. Wahre Schreckensgeschichten kursierten über ihn und die anderen Frostgötter. Geschichten, deren Weiterverbreitung die Priesterschaft zu verbieten versucht hatte, weil jede Erzählung nur die Macht dieser frostigen Wesenheiten stärkte und vielleicht sogar von der Verehrung des Verborgenen Gottes ablenkte. Aber dieses Verbot hatte nicht verhindern können, dass diese Erzählungen seit Generationen von Mund zu Mund gingen.

Der Kurs der Eisscholle, auf welcher der achtbeinige Eisbär stand, veränderte sich auf eine Weise, die weder mit der Strömung noch mit dem Wind oder irgendeinem anderen natürlichen Phänomen zu erklären war. Sie gewann an Fahrt und steuerte geradewegs auf die zum Hof gehörende Anlagestelle zu.

Frogyrr öffnete sein gewaltiges Maul und stieß einen durchdringenden Laut aus. Ein raureifähnlicher eisiger Hauch trat dabei hervor, der auch Gorian und Beliak erfasste. Für einen Moment hatte Gorian das Gefühl, vor Kälte erstarren zu müssen.

Diese Kraft der puren Kälte war es offenbar, die es den Frostkriegern überhaupt erlaubte, hier anzulanden, ohne zu schmelzen.

Ein kaltes Licht glühte in den Augen des Bären auf, und das tiefe Grollen, welches daraufhin aus seinem Schlund drang, klang wie triumphierendes Gelächter.

Die Eisscholle erreichte die Anlegestelle, und krachend zerbrachen unter ihrem Druck die Pfähle, auf denen der Steg ruhte. Der Bär tauchte den aus dem Riesenwalrosszahn geschnitzten Stab ins Wasser, das sich noch zwischen der Eisscholle und dem Ufer befand, murmelte eine Zauberformel, und das Wasser rund um den Stab begann zuerst zu zischen, dann erstarrte es innerhalb weniger Augenblicke. Eine Eisdecke bildete sich und verband die Scholle mit dem Land. Die Reste des zerschmetterten Stegs ragten daraus hervor. Der achtbeinige Eisbär konnte nun trockenen Fußes ans Ufer gelangen.

Die ganze Scholle – obgleich so groß wie zehn heiligreichische Koggen – schwankte unter den Schritten des Achtbeiners. Die Eisdecke brach, stöhnend wie ein Tier, auf einer halben Schiffslänge wieder auf, aber ein einziger kalter Hauch des Bären ließ den Spalt sogleich erneut zufrieren. Mit bedächtigen Schritten stapfte der Frostgott an Land, und überall in seiner Nähe begann sich Reif abzusetzen. Selbst die widerstandsfähigsten Gräser am schmalen Uferstrand, die allen eisigen Winterstürmen getrotzt hatten, erfroren innerhalb weniger Herzschläge.

„Vorwärts!“, erreichte Gorian ein übermächtiger, äußerst bedrängender Gedanke des Frostgottes, obwohl diese Botschaft ganz sicher nicht an ihn, sondern an die untoten Orxanier gerichtet war; gleichzeitig stieß Frogyrr ein unwilliges Brummen aus. „Holt ihn mir! Sofort! Oder wollt ihr Nichtsnutze auch nur einen Augenblick länger in diesem heißen Land schmoren, als unbedingt erforderlich ist?“

Die Orxanier antworteten mit Rufen in ihrer Sprache, von der Gorian kein Wort verstand. Die Ersten von ihnen hatten die unsichtbare magische Grenze, die die Schädelsteine markierten, bereits hinter sich gelassen. Manchmal gab es einen bläulichen Blitz, wenn einer der eisigen Krieger sie überschritt.

Frogyrr aber machte keinerlei Anstalten, ihnen zu folgen. Vielleicht gab es nichts, was ihn mit diesem Ort verband, sodass er die Barriere nicht einfach durchschreiten konnte wie die Orxanier.

––––––––




Beliak und Gorian hetzten zum Hof.

Dort war alles in heller Aufregung. Knechte und Mägde hatten sich auf die Pferde geschwungen, um zu fliehen. Die Orxanier, die auf Nhorichs Hof arbeiteten, waren größtenteils noch unschlüssig, ob es besser war, wegzulaufen oder der Wut nachzugeben, die viele von ihnen gegen die Frostkrieger empfanden. Schließlich hatten sie ihre Heimat im hohen Norden ihretwegen verlassen müssen und hegten daher einen tiefen Hass auf die Untoten und ihren Herrn. Dass manche dieser Schergen Morygors die Gesichter der eigenen Verwandten trugen, steigerte ihre Wut eher noch.

Sie schwenkten kampfbereit ihre Waffen. Nur diejenigen, die zusammen mit ihren Frauen und Kindern aus Orxanien gekommen waren und hier eine neue Heimat gefunden hatten, wandten sich zur Flucht, widerstrebend zwar und erst nach lauten Wortwechseln mit ihren Frauen, aber schließlich liefen sie los, und selbst der Schwächste von ihnen war dabei ausdauernder als ein Pferd

Die andere Gruppe stürmte den Angreifern entgegen. Selbst auf Nhorich, der zwei Pferde an den Zügeln hielt und ihnen aus Leibeskräften ein paar eindeutige Befehle hinterher rief, hörten sie nicht, obwohl der ehemalige Schwertmeister sogar die orxanische Sprache benutzte.

„Zurück, ihr Narren!“, rief er, aber die Schar der wutentbrannten Orxanier stürmte in todesverachtender Wut auf die Angreifer zu. Mit Äxten, Hacken und Schwertern hieben sie auf die Frostkrieger ein.

Arme und Beine wurden abgetrennt, und Köpfe mit fratzenhaft erstarrten Orxanier-Gesichtern rollten über den Boden. Eine ganze Anzahl von Frostkriegern wurde dermaßen zerstückelt, dass selbst die Kraft von Frogyrr nicht mehr ausreichte, ihr untotes Leben aufrecht zu erhalten. Hier und dort sah man einen gefrorenen Arm, dessen untote Hand sich um den Griff eines gespaltenen Breitschwerts krallte und noch weiterzukämpfen versuchte.

Frogyrr brüllte wütend auf. Er wollte nicht hinnehmen, dass irgendwer seine Krieger bei der Erfüllung ihres Auftrags behinderte, auch wenn die Verzögerung nur Augenblicke andauern konnte. Der eisbärenhafte Frostgott machte ein paar plump wirkende, aber sehr raumgreifende und schnelle Schritte nach vorn. Die ganze Zeit über blieb er aufgerichtet und benutzte immer nur das untere Beinpaar zum Laufen.

Auf einmal prallte er gegen eine unsichtbare Wand, und bläuliche Blitze umzuckten kurz seinen Leib. Frogyrr taumelte brüllend zurück. Die magische Schutzbarriere schien tatsächlich zumindest ihn davon abzuhalten, das Land des ehemaligen Schwertmeisters zu betreten.

Die Augen des Frostgottes glühten erst bläulich, dann grellweiß auf. Er öffnete das Maul, und ein grauer Schwall aus Raureif schoss daraus hervor. Ein Hauch der Kälte, der selbst die Wände der weiter entfernten Hofgebäude augenblicklich vereisen ließ.

Vor allem aber wurden die Kämpfenden davon getroffen. Nhorichs magische Barriere hinderte zwar Frogyrr daran, das Land zu betreten, da er keinerlei Verbindung dazu hatte, weder in Form eines Gegenstands noch durch irgendeine innere Verbundenheit, aber sein Frosthauch wurde durch die Barriere nicht aufgehalten. Immerhin hatten auch die besonders harten Winter Nhorichs Land genauso betroffen wie ganz Thisilien.

Die wutentbrannten Orxanier, die sich auf die Frostkrieger gestürzt hatten, erstarrten in diesem Frosthauch zu Eis. Ihre Bewegungen gefroren, dann ihre Körper. Eis bildete Tränen an den Klingen ihrer Schwerter.

Für die Frostkrieger hingegen war dieser Eishauch eine Quelle neuer Kraft. Sie nutzten die Erstarrung ihrer Gegner, um sie mit wenigen grausamen Schlägen buchstäblich zu zerhacken. Gefrorenes Orxanierblut rieselte in kleinen Kristallen zu Boden.

––––––––




„Nimm das Pferd und schwing dich in den Sattel!“, verlangte Nhorich von seinem Sohn und drückte ihm die Zügel in die Hand.

Gorian zögerte. „Gibt es keine Magie, die gegen diese Monster wirken kann? Nichts, was sie aufhalten könnte?“

„Doch, die gibt es. Zumindest wirkt sie für eine Weile. Doch jetzt aufs Pferd mit dir!“

Gorian gehorchte und saß einen Augenblick später im Sattel. Sein Vater schwang sich auf das andere Pferd, dessen Zügel er gehalten hatte, und riss Schattenstich aus der Scheide. Das Pferd scheute, und es war so kalt geworden, dass beide Tiere zitterten. Gorian zog ebenfalls das Schwert, doch seine Finger waren durch die Kälte taub geworden, sodass er den Griff in seiner Hand kaum spüren konnte.

„Reite so schnell du kannst, Gorian!“

„Aber, Vater ...“

„Ich werde die Frostkrieger aufhalten. Unsere Wege trennen sich hier!“

„Nein, das will ich nicht!“, widersprach Gorian.

„Die Angreifer sind deinetwegen hier! Und Morygor meint es verflucht ernst, sonst hätte er nicht einen seiner Frostgötter geschickt. Du erinnerst dich an den Ort, an dem ich die Schwerter verborgen hatte?“

„Ja.“

„Versteck dich dort, wenn du es schaffst, dorthin zu gelangen!“

„Ich werde ihn begleiten und beschützen!“, versprach Beliak.

„Nein, du würdest ihn nur gefährden!“, widersprach Nhorich. „Verbirg dich besser in der Erde, Adh!“ Er wandte sich noch einmal an Gorian. „Glaub mir, ich weiß, was ich tue! Gehorche mir einfach, denn wenn du es nicht tust, hat Morygor gewonnen! Dann ist vielleicht für ein Jahrtausend oder länger jede Möglichkeit vertan, ihn zu stürzen, und er wird über ganz Ost-Erdenrund herrschen, vielleicht sogar über die ganze Welt!“

Mit diesen Worten riss Nhorich sein Pferd herum und preschte auf die Angreifer zu.

„Tu besser, was er sagt!“, riet Beliak dem Jungen. „Er sprach in diesem Tonfall, bei dem man genau weiß, dass er ziemlich ärgerlich wird, wenn man seinen Befehlen nicht Folge leistet!“

Gorian war fassungslos. Konnte er zulassen, dass sich sein Vater einfach den Frostkriegern entgegenwarf, nur um sie eine Weile aufzuhalten und ihm dadurch die Flucht zu ermöglichen?

Nein, dachte er. Wozu war er denn in der Kunst, nach Art der Schwertmeister zu kämpfen, unterrichtet worden?

Doch ehe er sein Pferd am Zügel herumreißen und seinem Vater folgen konnte, handelte Beliak. Mit einem schrillen Schrei, von dem er wusste, dass selbst Pferde der stoischsten Rasse darauf mit panischer Flucht reagierten, und mit einem kräftigen Schlag seiner Adh-Pranke auf das Hinterteil des Gauls sorgte er dafür, dass Gorians Reittier wiehernd davonstob.

Erst mehr als hundert Pferdelängen weiter gelang es Gorian, es wieder zu zügeln. Es stieg auf die Hinterhand, wieherte laut und scheute zunächst, als Gorian versuchte, es in die entgegengesetzte Richtung zu lenken. Er murmelte einen einfachen Rosszauber, den ihm sein Vater irgendwann während der Übungen beigebracht hatte und der dazu diente, ein Pferd während des Kampfes zu beruhigen, riss die Zügel herum und zog das Schwert.

Von Beliak war plötzlich nichts mehr zu sehen.

Nhorich kämpfe derweil einsam gegen die Frostkrieger. Speere und Wurfäxte, die in seine Richtung geworfen wurden, wehrte er mit dem Schwert leichthändig ab. Mit traumwandlerischer Sicherheit ließ er Schattenstich durch die Luft wirbeln und köpfte einen der Angreifer. Einem zweiten hieb er beide Arme ab, sodass der Frostkrieger keine Gefahr mehr darstellte. Jedes Mal, wenn die Klinge das Eis durchschlug, sprühten Funken.

In diesem Moment hielt Frogyrr seinen Elfenbeinstab in Richtung seiner Eisscholle. Ein Strahl aus schwarzem Licht schoss daraus hervor und traf auf eine Erhöhung auf der Scholle, die daraufhin zischend abschmolz.

Aus dem verdampfenden Eis bildeten sich grauweiße Eiskrähen, wie sie eigentlich nur in Eisrigge und Torheim beheimatet, aber in harten Wintern auch an den heiligreichischen Küsten zwischen Atanien und Nemorien anzutreffen waren. Ein Schwarm aus Hunderten dieser weißen Krähenvögel mit roten Augen stieg empor und kreiste einmal hoch über Frogyrrs Kopf, wobei manche von ihnen gegen die magische Barriere stießen und dabei bläuliche Blitze erzeugten. Schrille, durchdringende Krächzlaute drangen dann jedes Mal aus ihren Schnäbeln.

Wie von einem einzigen Willen gelenkt, stürzte sich der Eiskrähenschwarm auf die davontreibende Barkasse, in der sich Gaerths Leichnam befand. Die Vögel hackten Fleischstücke aus dem Körper des toten Orxaniers, und die kleineren davon verschlangen sie sofort, woraufhin sie keine Schwierigkeiten mehr hatten, die magische Begrenzung zu durchdringen. Größere Stücke des Orxaniers – darunter ein ganzer abgehackter Arm – trugen sie zu mehreren durch die Luft und brachten sie Frogyrr. Der öffnete das Maul, und ein eisiger sturmähnlicher Hauch erzeugte einen so starken Sog, dass er den Vögeln die Beutestücke entriss, woraufhin der Frostgott sie schmatzend verschlang. Ein paar der Krähenvögel wurden allerdings selbst von dem Sog erfasst und mit verschlungen.

Frogyrr schien es nicht weiter zu stören, seine eigenen Dienergeschöpfe zu vertilgen. Ihre Federn würgte er als grauweißes Gewölle wieder aus.

Aber das Fleisch des erschlagenen Orxaniers versetzte auch ihn in die Lage, Nhorichs Land zu betreten, denn dies war die Verbindung, die er brauchte, um die magische Grenze zu überschreiten. Ein Triumphgeheul sondergleichen ausstoßend ging er voran und trommelte sich dabei mit zwei seiner Tatzenpaare auf die Brust. Mit dem dritten Tatzenpaar richtete er den Riesenwalrosszahn auf Nhorich.

Ohne dass irgendein Widerstand zu erkennen gewesen wäre, drang Frogyrr durch die Barriere. Es gab nicht einmal einen blauen Blitz, einzig der Orxanier-Schädel an dem Riesenzahn leuchtete kurz bläulich auf, dann drang schwarzes Licht daraus hervor, und dunkles Blut troff zischend zu Boden.

Nhorich vernichtete gerade einen der Frostkrieger, indem er ihn mit einem gewaltigen Schwerthieb entlang der Gürtellinie zerteilte. Die obere Hälfte kippte haltlos nach hinten, der Frostkrieger versuchte trotzdem noch mit seiner Axt nach Nhorich zu schlagen, traf ihn jedoch nicht mehr.

Einem zweiten Frostkrieger trennte er die Pranke vom Arm, die dessen gespaltenes Schwert hielt, dann erfasste der dunkle Lichtstrahl des Bärengottes den Frostkrieger, und ein unterdrückter Schrei war alles, was er noch von sich geben konnte, bevor sein Körper zischend zu einer pechschwarzen, öligen Masse zerfloss.

Doch auch Nhorich wurde von dem schwarzen Licht getroffen. Der ehemalige Schwertmeister stieß einen jener Schreie aus, mit denen er die Alte Kraft rief, und um seinen Körper erschien ein bläulicher Flor, von dem der schwarze Strahl abprallte. Trotzdem wurde er mehrere Schrittweit durch die Luft geschleudert, dann drückte ihn der verderbliche Strahl zu Boden.

Doch im selben Moment, da der Frostgott seinen Vater attackierte, griff Gorian ein. Er hatte die Aktion des Frostgottes einen Augenaufschlag zuvor erahnt, sein Pferd vorangetrieben, Sternenklinge geschleudert und in genau demselben Moment wie sein Vater einen jener Schreie ausgestoßen, mit denen die Alte Kraft gerufen werden konnte. Seine Augen waren vollkommen schwarz geworden, und er bot alles von der dunklen Kraft auf, was sich mobilisieren ließ.

Und mit dieser Kraft lenkte er den Flug seines Schwertes.

Mochte Sternenklinge auch noch so wertvoll sein, das Leben seines Vaters wog für Gorian mehr. Nun musste sich zeigen, wie viel von der Kunst eines Schwertmeisters er inzwischen gelernt hatte.

Tatsächlich fand Sternenklinge zielsicher seinen Weg und bohrte sich in Frogyrrs linke Auge, noch ehe Gorians Kraftschrei verklungen war. Bis zum Heft drang das Schwert in den riesenhaften Kopf des achtbeinigen Eisbären. Um den Griff bildete sich ein flackernder Flor, der zischte und Funken sprühte.

Gorian ließ das Pferd weiter vorpreschen, auf seinen am Boden liegenden Vater zu.

Frogyrr wich unterdessen mehrere Schritte zurück. Die bis dahin hoch aufgerichtete Gestalt des achtbeinigen Bären schwankte, er taumelte schließlich, und der Strahl aus schwarzem Licht, der Nhorich zu Boden drückte, brach ab. Schwarzes Blut schoss in einer Fontäne aus Frogyrrs Wunde.

Durch den magischen Angriff des Frostgottes sehr geschwächt, versuchte sich Nhorich aufzurichten. Er hob Schattenstich, dessen Griff seine Faust nach wie vor umklammert hielt, wollte sich gegen die auf ihn einstürmenden Frostkrieger zur Wehr setzen. Aus dem Handschuh, den er an dieser Hand trug, troff so viel schwarzes Blut wie nie zuvor. Dieselbe zähflüssige Substanz tränte Nhorich auch aus den vollkommen schwarzen Augen und der Nase. Er rief einen Kraftschrei, der allerdings viel schwächer war als sonst.

Dem ersten Angreifer hieb er die Beine durch. Scheinbar ohne Widerstand glitt Schattenenstich durch die Knie des untoten Orxaniers, dessen eigener Schwertstreich ins Leere ging, bevor er zusammenbrach.

Gorian duckte sich im Sattel, als eine Wurfaxt nach ihm geschleudert wurde. Ein ausgebildeter Schwertmeister hätte sie ablenken können, und auch Gorian war schon von seinem Vater in dieser Kunst unterwiesen worden. Aber ihre Anwendung kostete zu viel Kraft. Und so wich er der Axt einfach aus.

Im vollen Galopp hielt er auf seinen Vater zu, riss den Dolch hervor und schleuderte ihn, wie er es gelernt hatte. Die Klinge aus Sternenmetall bohrte sich in den Schädel eines Frostkriegers, der gerade die Axt gehoben hatte, um Nhorich den tödlichen Schlag zu versetzen. Er taumelte zurück, mit solcher Wucht hatte ihn der Dolch getroffen.

Doch in den nächsten Augenblicken prasselten unzählige Hiebe von Äxten und Schwertern auf Nhorich ein. Nicht einmal der begabteste Schwertmeister hätte sie alle abwehren können. Noch immer umgab ihn der bläuliche Schimmer, und es zischte jedes Mal, wenn eine Klinge den Lichtflor durchdrang. Aber Nhorich hatte nicht mehr genügend Kraft, sich mit seiner Magie erfolgreich zu verteidigen.

Gorian sprang aus dem Sattel. Die einzige Waffe, die er im Augenblick besaß, war die Alte Kraft, die an der pechschwarzen Färbung seiner Augen erkennbar war. Er starrte auf einen Vater, den die Schläge der Orxanier förmlich zerstückelt hatten. Einen Moment lang glaubte er, den festen Boden unter den Füßen zu verlieren.

„Nein!“, schrie er.

Diesmal war es kein Kraftschrei, sondern ein Schrei aus purer Verzweiflung. Er spürte für einen Augenblick einen fremden Gedanken, der eigentlich nur von seinem Vater stammen konnte. „Bleib stark! Sammle die Kraft!“

Gorian sah Schattenstich am Boden liegen. Die abgehackte, schwarz blutende Faust seines Vaters krallte sich noch immer um den Griff. Gorian konzentrierte all seine Kraft, und die Waffe hob sich in die Luft, aber dann änderte sie ihre Flugrichtung, sie drehte sich auf chaotische Weise um ihren Schwerpunkt und sauste auf den achtbeinigen Bären zu, der sich inzwischen wieder aufgerichtet und von Gorians Angriff einigermaßen erholt hatte.

Sternenklinge steckte ihm zwar immer noch im Auge, trotzdem hatte der Frostgott Kraft genug, Schattenstich zu sich zu holen. Das Schwert landete vor dem riesenhaften Bärenmonstrum auf dem inzwischen gefrorenen Boden. Frogyrr griff mit einer seiner unteren Tatzen danach und verletzte sich dabei. Es zischte, schwarzes Blut spritzte aus der Wunde.

Frogyrr beschrieb daraufhin eine ausholende Bewegung mit dem Elfenbeinstab, woraufhin ein gutes Dutzend der Eiskrähen herbeiflog. Sie fassten die Klinge mit ihren Krallen und trugen sie auf die Eisscholle. Dann kehrten sie zurück, um dem Eisbärengott Sternenklinge aus dem Auge zu ziehen, doch das verursachte Frogyrr offenbar so starke Schmerzen, dass er die Krähenbrut mit fuchtelnden Bewegungen sein Tatzen davonjagte.

––––––––




Gorian war schwindelig. Der verlorene magische Kampf um das Schwert seines Vaters hatte ihn sehr geschwächt. Zu sehr, um selbst den Dolch wieder an sich zu bringen, der noch im Schädel eines untoten Orxaniers steckte und diesen zwar nicht getötet hatte, ihm aber aufgrund der besonderen Eigenschaften des Sternenmetalls große Schmerzen verursachte.

Gleichzeitig stürmten mehrere Frostkrieger waffenschwingend auf ihn zu, die eben noch damit beschäftigt gewesen war, den Körper seines Vaters vollkommen zu zerstückelt, indem sie selbst noch auf die sterblichen Überreste des ehemaligen Schwertmeisters eingehackt hatten, so als fürchteten sie dessen besondere Macht selbst über den Tod hinaus.

Nun aber stürzten sie sich auf Gorian.

Der Erste attackierte Gorian, dieser aber wich rechtzeitig zurück, denn er ahnte den ersten Schwerthieb unmittelbar voraus, und die gespaltene Orxanier-Klinge klirrte gegen den Boden, der sich bereits in einen harten, durchfrosteten Untergrund verwandelt hatte.

Der Schlag war mit solcher Wucht geführt, dass die Orxanier-Klinge brach. Ein zweiter Hieb mit dem abgebrochenen und um etwa ein Drittel verkürzten Schwert senste haarscharf über Gorians Kopf hinweg. Auch diesem Hieb konnte Gorian nur deswegen ausweichen, weil sein Vater ihn nach Art der Schwertmeister darin ausgebildet hatte, den nächsten Schlag seines Gegners vorauszuahnen.

Er stolperte. Ein weiterer Schlag verfehlte ihn nur knapp.

Dann sammelte er alle Kraft, konzentrierte sie auf das abgebrochene Ende des Orxanier-Schwerts und ließ es einer Sense gleich den linken Knöchel des Frostkriegers durchschneiden. Dieser hatte gerade seine Waffe mit beiden Pranken gefasst, um zum entscheidenden Schlag auszuholen, doch der unvermutete Angriff durch die abgebrochene Klinge, der ihm fast den Fuß abtrennte, ließ ihn schwanken, und seine eigene Attacke ging fehl.

Aber ein zweiter Frostkrieger hatte sich genähert, die Axt erhoben, und Gorian sah sie aus den Augenwinkeln auf seinen Kopf zu rasen. Aus irgendeinem Grund hatte er diesen Hieb nicht vorhergesehen. Vielleicht weil er sich zu sehr auf den anderen Gegner konzentriert hatte und außerdem auch seine Ausbildung nicht abgeschlossen war, sodass er noch keineswegs perfekt war. Da mochte sein Talent noch so groß sein, aber Nhorich hatte seinem Sohn gegenüber immer wieder betont, wie wichtig ein anderer Faktor war: die Zeit.

Die Axtklinge verfehlte ihn trotzdem um Haaresbreite.

Aber das lag daran, dass eine gewaltige Kraft den Frostkrieger wie mit unsichtbarer Hand gepackt und fortgeschleudert hatte. Mehrere Pferdelängen weit flog der Untote durch die Luft, verlor dabei seine Waffe und kam entsetzt brüllend auf dem gefrorenem Boden auf.

Gleichzeitig hatte Frogyrr einen Schrei ausgestoßen, der ganz sicher mehr an Kraft herbeizurufen in der Lage war, als es eine ganze Hundertschaft von Schwertmeistern des Ordens vermochte. Zweifellos war er es gewesen, der seinen eigenen Kämpfer aus dem Spiel genommen hatte.

Jener Angreifer, dem Gorian mit dem abgebrochenen Klingenstück beinahe den Fuß abgetrennt hatte, humpelte schleunigst davon, obwohl er sich inzwischen wohl zu Genüge erholt hatte, um erneut anzugreifen. Aber aus irgendeinem Grund schien das nicht dem Willen des Frostgottes zu entsprechen.

Immer noch halb wahnsinnig durch den Schmerz, den ihm Sternenklinge in seinem durchbohrten Auge verursachte, trat Frogyrr näher. Er benutzte dafür diesmal die unteren drei Tatzenpaare und hielt den aus einem Riesenwalrosszahn gefertigten Schädelstab mit dem obersten Paar, sodass der Orxanier-Schädel ständig auf Gorian gerichtet war. Immer noch lief schwarzes Blut aus dem Auge des Eisbärengottes, und ein wütendes dumpfes Knurren drang ihm aus dem Schlund. Ein Laut, so tief, dass er ein Drücken in der Magengegend verursachte.

Warum hat er mich verschont?, ging es Gorian durch den Kopf. Warum hat er nicht zugelassen, dass seine Frostkrieger mich auf die gleiche Weise zerhackten wie meinen Vater?

Das Herz schlug ihm bis in den Hals. Ein Schwall chaotischer Gedanken wirbelte ihm durch den Kopf. Er versuchte, nicht an das zu denken, was mit seinem Vater geschehen war, sich nicht durch den Schrecken lähmen zu lassen und die Klarheit der Gedanken zurückzugewinnen. Selbst in diesem Augenblick, da alles verloren schien, wozu er angeblich bestimmt war, noch bevor es überhaupt begonnen hatte.

Konnte es sein, dass alles nur ein Irrtum gewesen war? Dass seine Geburt und das Herabfallen des Sternenmetalls nichts miteinander zu tun hatten? Hatte am Ende sogar Morygor Gorians Rolle im Gefüge des Netzes der Schicksalslinien überschätzt? Oder hatte der Herr der Frostfeste einmal mehr die ihm eigene Gabe genutzt, und ihm war ein weitreichenderer Blick in die Zukunft gelungen, sodass er sorgfältig die Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten hatte abwägen können? Vielleicht war dies einfach nicht der richtige Zeitpunkt, die Gefahr, die Gorian für ihn darstellte, endgültig zu beseitigen.

Und dann fiel es Gorian wie Schuppen von den Augen, und er erkannte den Grund, warum ihn Frogyrr zunächst vor den Waffen seiner Schergen bewahrt hatte.

Nicht nur der Ort, an dem ich getötet werde, und der Zeitpunkt spielen eine Rolle, sondern auch, wer die Tat ausführt!, ging es ihm siedend heiß durch den Kopf.

In all diesen Punkten hatte Morygor seinem Knecht, dem Frostgott Frogyrr, offenbar äußerst präzise Vorgaben gemacht.

Gorian hob den Kopf und überlegte, was er tun konnte. Er streckte die Hand aus, entriss den Dolch aus Sternenmetall mithilfe der Alten Kraft der Hand des Frostkriegers, der es inzwischen endlich geschafft hatte, sich ihn aus dem Schädel zu ziehen, und einen Lidschlag später befand sich die Waffe wieder in Gorians Hand. Ob sie ihm helfen konnte, wusste er nicht. Es war einfach nur ein Akt der Verzweiflung.

Annähernd im selben Moment schoss schwarzes Licht aus dem Schädel am Ende des Elfenbeinstabs, den Frogyrr auf Gorian gerichtet hielt.

Eine ungeheuer starke Kraft warf Gorian um und drückte ihn an den Boden wie zuvor seinen Vater. Für einige Augenblicke bekam er keine Luft und glaubte zu ersticken. Es war unmöglich, sich auch nur einen Fingerbreit zu bewegen.

Er versuchte, den Dolch zu schleudern, um damit das zweite Auge des Frostgottes zu treffen. Aber der Dolch wurde ebenso an den Boden gedrückt wie er selbst.

Frogyrr näherte sich Gorian bis auf wenige Schritte und richtete sich zur Gänze auf, wobei ein Teil des Eiskrähenschwarms genau über seinem Kopf kreiste. Zischend tropfte schwarzes Blut aus dem Auge, in dem noch immer Gorians Schwert steckte. Immer dann, wenn ein Tropfen den Erdboden berührte, stiegen von dieser Stelle äußerst übel riechende Dämpfe auf, deren Geruch mit nichts zu vergleichen war, was Gorian bis dahin kennengelernt hatte.

Die ganze Zeit über verharrte er in der Gewalt des schwarzen Lichts, das ihn vollkommen lähmte. Er vermochte nicht einmal mehr die Augen zu bewegen, sodass sein Blick starr und tot wirkte. Wie dunkler Rauch umgab dieses schwarze Licht seinen Körper.

Dann brach der Strahl aus dem Schädel am Ende des Elfenbeinstabs plötzlich ab. Doch das bedeutete nicht, dass Gorian wieder im Vollbesitz seiner Kräfte war und sich etwa hätte aufrichten können.

Er versuchte die Muskeln und Sehnen seines Körpers anzuspannen und gleichzeitig all das an magischer Kraft, das noch in ihm sein mochte, zu sammeln. Doch er fühlte sich auf eine seltsame Weise leer und kraftlos. Nie zuvor war ihm so elend gewesen.

Ein Gedanke erreichte ihn, so bedrängend, dass Gorian am liebsten laut aufgeschrien hätte, wäre er dazu in der Lage gewesen.

„Da liegst du also, du verfluchtes Menschenkind!“, vernahm er den Gedanken des Frostgottes, und Gorian glaubte, dass ihm der Kopf zerspringen müsste.

Der Frostgott fasste sich mit einer seiner Pranken an die Augenhöhle, aus der noch immer der Griff von Sternenklinge ragte. Bläuliches Blitzfeuer umflorte den Griff, und Frogyrr brüllte auf. Noch schrecklicher war der Gedanke, den er im selben Moment aussandte und an dem er Gorian in seiner vollen Wucht teilhaben ließ.

Dann zog er Sternenklinge aus der Augenhöhle. Ein Schwall von schwarzem Blut folgte, und Frogyrr überschüttete Gorian mit Gedanken des Schmerzes. Er wollte, dass Nhorichs Sohn daran wenigstens auf geistiger Ebene teilhatte. Es war seine Rache für das, was Gorian ihm angetan hatte.

Gorian glaubte für einen Augenblick schier wahnsinnig zu werden, als ihn die Wellen des Schmerzes durchfluteten. Und es gab im Moment nichts, womit er sich dagegen schützen konnte.

Frogyrr fasste Sternenklinge mit zwei Fingern seiner Tatze und schleuderte das Schwert, das kaum die Größe seiner Reißzähne hatte, wie angewidert von sich.

Mehrere der Eiskrähen stürzten sich augenblicklich darauf und fingen es aus der Luft, ehe es den Boden berührt hätte. Sie trugen es zur Eisscholle, wie es schon mit Schattenstich geschehen war. Morygor wollte offenbar die aus dem Bruchstück des Schattenbringers geschmiedeten Klingen für sich selbst haben, und Frogyrr sollte sie auf seiner Eisscholle nach Norden bringen.

Der Bärengott nahm den Orxanier-Schädel von dem Riesenwalrosszahn. Die unzähligen in das Elfenbein geschnitzten fratzenhaften Gesichter veränderten sich und erwachten für Augenblicke zu einem schaurigen Scheinleben.

Frogyrr rollte den Orxanier-Schädel über den Boden, und er verwandelte sich: Die Form blieb zwar erhalten, aber es bildeten sich acht mehrgliedrige Beine wie bei einer Spinne.

„Fessle ihn!“, lautete der Gedankenbefehl des achtbeinigen Eisbären. Die Blutung aus seiner Augenhöhle hörte zwar auf, aber selbst er als Frostgott schien nicht über die Macht zu verfügen, das Auge, das Gorian ihm durch seinen Schwertwurf genommen hatte, so einfach wieder entstehen zu lassen. Dem Sternenmetall schienen tatsächlich besondere magische Eigenschaften eigen zu sein. Vielleicht stimmte es ja, dass die Finsternis mit Finsternis und die Macht des Schattenbringers mit seinem Metall zu bekämpfen war.

Gorian versuchte den Schmerz zu unterdrücken. Er konzentrierte sich auf die Alte Kraft und auf den Dolch aus Sternenmetall, den er nach wie vor mit seiner Faust umklammert hielt. Auch wenn beides – Faust und Dolch - nicht zu bewegen waren, so war Gorian davon überzeugt, dass diese Waffe im Moment die einzige Option darstellte, die er hatte.

Er hätte ihr einen Namen geben sollen, ging es ihm durch den Sinn. Es war der erste klare Gedanke seit einer unendlich langen Zeit, wie es ihm schien. Allerdings lag dies wohl eher daran, dass ihm die letzten Momente aufgrund der unglaublichen Schmerzen, mit denen sein Gegner ihn überschüttet hatte, wie eine halbe Ewigkeit vorgekommen waren.

Einer Waffe einen Name zu geben, das bedeutete auch immer, ihre Macht zu erhöhen. Jedenfalls dann, wenn sie voller Magie war, wie es bei den Schwertern Sternenklinge und Schattenstich der Fall war. Die Axiome der Ordensmeister stimmten in diesem Punkt mit den Lehren der Priesterschaft des verborgenen Gottes überein. Nhorich hatte seinem Sohn aber gesagt, dass sowohl der Name als auch der Augenblick und der Ort, an dem er verliehen wurde, Einfluss auf die Kräfte der Waffe habe. In seiner Erinnerung vernahm er noch einmal, was sein Vater darüber gesagt hatte: „Nur du kannst den Moment, den Ort und den Namen bestimmen, mein Sohn. Verlass dich auf dein Gefühl. Achte auf die Schwingungen der Alten Kraft und darauf, was dir deine innere Stimme eingibt. Wenn du einen Zweifel hast, dann ist es nicht der richtige Moment, und der Dolch wird seine volle Kraft nie entfalten.“

„Und bei den Schwertern warst du dir vollkommen sicher?“, hatte Gorian daraufhin gefragt.

„Vollkommen“, war die Erwiderung seines Vaters gewesen. „Ich gab ihnen ihre Namen bereits, bevor sie ganz zu Ende geschmiedet waren – und nur deshalb habe ich den Kampf gegen die Gargoyle bestanden.“

Wann, wenn nicht jetzt, war der richtige Moment, um dem Dolch einen Namen zu gehen?

Frostgotttöter, überlegte Gorian. Aber dann verwarf er den Gedanken. Nein, damit hätte er nur diesen einäugigen Rieseneisbären unnötig aufgewertet und den Axiomen des Ordens zufolge sogar noch mächtiger werden lassen.

Rächer, dachte Gorian. Ich werde ihn Rächer nennen ...

Die Klinge zuckte ein Stück. Aber so sehr Gorian auch die Alte Kraft zu sammeln versuchte, er schaffte es einfach nicht, die Waffe dem Frostgott entgegenzuschleudern, geschweige denn sein zweites Auge zu treffen, um ihn entscheidend zu schwächen, vielleicht sogar zu töten, falls das auf diese Weise überhaupt bei einer Wesenheit wie Frogyrr möglich war, worin sich Gorian alles andere als sicher war.

Doch der Respekt vor dem Sternenmetall schien bei Frogyrr stark genug, um nicht einfach selbst nach dem Dolch zu greifen. Schon an Schattenstich hatte er sich schwer die Tatze verletzt. Geronnenes schwarzes Blut verschloss inzwischen die Wunde, wie Gorian sehen konnte.

Nein, in dieser Hinsicht schien Frogyrr nicht noch mal ein Risiko eingehen zu wollen. Und so überließ er das, was es zu tun gab, seiner Diener-Kreatur.

Die Spinne, die sich aus dem Orxanier-Schädel gebildet hatte und zu einem untoten Halbleben erwacht war, kroch auf Gorian zu. Dieser spürte die dunkle Kraft, die in diesem Wesen konzentriert war. Er musste unwillkürlich an Ar-Don denken, denn in seiner Gegenwart hatte Gorian eine ganz ähnliche Empfindung beherrscht.

Die Schädelspinne kroch seinen Körper entlang, kletterte auf seine Brust. Aus den Hauern des Orxanier-Schädels, der auch das Hauptelement ihrer Spinnengestalt darstellte, quoll etwas Dunkles hervor. Erst dachte Gorian, dass es schwarzes Blut wäre, aber dann sah er, dass sich daraus ein dunkler, klebriger Faden bildete.

„Pack ihn gut ein!“, erreichte Gorian ein sehr klarer und überraschenderweise einmal nicht mit Schmerz getränkter Gedanke des Frostgottes, der eigentlich an die Schädelspinne gerichtet war. „Und dann bringen wir ihn an den Ort, an dem er sterben muss, damit der Plan unseres Herrn und Meisters Wirklichkeit werden kann. Beeile dich, Spinnentier! Der richtige Ort, die richtige Zeit, die richtige Waffe und die richtige Hand, die sie führt ... Es kommt auf all das an, damit das Schicksal den richtigen Lauf nimmt ...“

Die Schädelspinne stieß einen schrillen Pfeiflaut aus, der Gorian schier unerträglich schien.

Und gleichzeitig sandte dieses Wesen Gedanken aus, die an Eindeutigkeit kaum zu übertreffen waren.

„Töten ... fesseln ... ersticken ...“

„Beherrsche dich, Spinnentier!“

„Oder doch der Tod durch den eigenen Dolch?“

„Still! Kein Gedanke mehr!“ Der Frostgott unterstützte seinen Gedankenbefehl mit einem Brummen, das so tief war, dass es die Schädelspinne vibrieren ließ und auf Gorian wie ein Schlag in die Magengrube wirkte.



Schwertmeister der Magie: Drei Fantasy Sagas auf 2500 Seiten

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