Читать книгу Krimi Doppelband 2225 - Alfred Bekker - Страница 10
Zweites Kapitel
ОглавлениеAm nächsten Morgen dehnte Landau das Frühstück bis nach zehn Uhr aus. Es war herrlich, in aller Ruhe die Zeitung zu lesen, Kaffee nachzukochen, die Sonne durch das offene Fenster zu genießen und nach Herzenslust zu gähnen. Niemand drängte oder quengelte, keine Vera wollte wissen, was sie heute unternehmen sollten, er musste seine Faulheit weder entschuldigen noch rechtfertigen. Gegen zwölf Uhr rief Susi an. „Ich hatte versprochen, mich für den Austern-Kaviar-Exzess an der Autobahn zu revanchieren. Ihre Nummer hat mir eine junge Frau in Ihrem Büro gegeben. Sie ist etwas neugierig, nicht wahr?“
„ Etwas, ja.“
„ Um eins in der Laacher Mühle ?“
„ Einverstanden.“
Also musste er sich heute doch rasieren.
Susi hatte sich in Schale geworfen. Blauer, kurzer und weiter Rock, eine weiße Bluse, die Haare gewaschen und gekämmt, weiße Sandalen mit halbhohem Absatz, Fuß- und Fingernägel lackiert und sogar ein Hauch von Lippenstift. Vor Bewunderung pfiff er und sagte ehrlich begeistert: „Du siehst großartig aus!“
„ Störe ich Sie auch nicht?“
Der ängstliche Tonfall gefiel ihm so wenig wie ihr Gesicht. Geschwollene Augen, als ob sie viel geweint hätte, und zitternde Lippen; außerdem mied sie seinen Blick.
„ Nein. Sonne oder Schatten?“
„ Lieber Schatten.“
Während er einen Stuhl heranrückte, stand sie mit gesenktem Kopf vor der Buche, die Hände fest um den weißen Lederbeutel geklammert.
„ So, setz’ dich! Hast du schon gefrühstückt?“
„ Nei – ein.“ Sie schluckte. „Ich wollte – ich muss mich doch revanchieren.“
„ Hast du deswegen in der Detektei angerufen?“
Noch immer stand sie wie verloren neben ihrem Stuhl und schüttelte zaghaft den Kopf: „Ja, aber nicht nur …“
„ Gut. Dann machen wir es so: Wir frühstücken jetzt, dann erzählst du mir, was du auf dem Herzen hast, und danach überlegen wir, was zu tun ist.“
„ Ja – aa?“ Sie drehte den Lederbeutel sinnlos hin und her. „Störe ich Sie wirklich nicht?“
„ Nein. Ich habe noch Urlaub, und wenn ich keine Zeit für dich hätte, würde ich dir das sagen.“ Sie schaute schnell hoch, schlug aber sofort wieder die Augen nieder. „Was trinkst du? Kaffee? Tee? Milch – es gibt auch O-Saft.“
Vorsichtig ließ sie sich nieder und rutschte ganz nach vorn. „Wenn wir noch etwas Kaffee …? Und O-Saft …?“
„ Aber sicher!“ Wo war bloß ihre ganze Selbstsicherheit geblieben? Wie sie da halb verschüchtert, halb verängstigt hockte, tat sie ihm leid, aber irgendwie hatte er auch das Gefühl, dass sie nicht bedauert werden wollte.
„ Musst du nicht zur Schule?“
„ Nein, wir haben doch noch Ferien.“
„ Richtig! So was vergesse ich immer wieder.“
„ Haben Sie keine Kinder?“
„ Nein, ich bin ein gelernter Junggeselle und von unehelichen Kindern weiß ich nichts.“
Sie blieb ernst und langte zaghaft nach dem Glas.
„ Guten Appetit!“
Darauf nickte sie geistesabwesend, trank Schluck für Schluck und schaute in den Mühlengarten, der sich langsam mit Essensgästen füllte. Was sie dachte, war ihrem Gesicht nicht anzusehen, und er geduldete sich. Eine fünfzehnjährige Ausreißerin besuchte freiwillig einen Privatdetektiv, der sie tags zuvor im Elternhaus abgeliefert hatte, und benutzte als Vorwand ihr Versprechen, sich für ein mäßiges Essen in einer überfüllten Autobahn-Raststätte zu „revanchieren“. Deutlicher konnte sie nicht signalisieren, dass sie mit ihm reden wollte, aber jetzt schien sie der Mut wieder verlassen zu haben.
Nach dem ersten Schluck Kaffee schüttelte sie sich: „Puhh, der ist mir zu stark.“
„ Wie willst du ihn verdünnen? Mit Milch oder warmem Wasser?“
„ Mit etwas Wasser bitte – nein, nein, das mach’ ich schon!“ Sie drehte sich um und winkte ihrer Bedienung.
„ Hast du für heute schon was vor?“
„ Ich? – nein.“
„ Es ist noch etwas früh, um Essen zu gehen. Kennst du das Thermalbad in Dreschbach?“
Ein Kollege, der später von einem entlassenen Sträfling erschossen wurde, hatte es ihm empfohlen.
„ Ja.“
„ Was meinst du? Fährst du mit?“
„ Das wäre – oh, verflixt, ich habe keinen Badeanzug.“
„ Den holen wir vorher bei dir zu Hause.“
„ Nein!“, widersprach sie so scharf, dass er sie verblüfft musterte, und zum ersten Mal hielt sie seinem Blick stand. Mit keinem Argument würde er sie dazu bringen, jetzt in das Elternhaus zu gehen; eher verließ sie ihn auf der Stelle. Sie machte sich nicht klar, dass sie mit ihrem Verhalten mehr von ihren Problemen verraten hatte als mit einer langen Rede.
„ Okay“, gab er schließlich nach, „da ich aber auf das Thermalbad nicht verzichten möchte, mache ich dir einen Vorschlag: Von dem Essensgeld kaufst du dir einen neuen Badeanzug, und ich zahle unser Mittag- oder Abendessen. Einverstanden?“
„ Können Sie sich das denn leisten?“
Gong; die Runde ging nach Punkten an sie, er klappte sprachlos den Mund auf und zu, und sie errötete: „Hab’ ich Sie jetzt beleidigt?“
„ Nei – ein!“, krächzte er.
„ Das täte mir leid. Aber Hannes sagt auch immer, ich würde langsam fettsüchtig.“
„ Du würdest – was?“
„ Fettsüchtig. Ich fände jeden Fettnapf, um voll reinzutrampeln.“
Der Teufel sollte ihn holen, wenn er je die Psyche junger Mädchen verstehen würde. Mit einem Mal kam er sich sehr, sehr alt vor. Trotzdem war ihr strahlendes Lächeln schön, weil es unendlich viel Vertrauen ausdrückte.
In dem Geschäft am Bühler Markt schnappte er sich einen Hocker neben der Kasse und wartete amüsiert. Sie war sehr stolz mit ihm in den Laden marschiert, hatte aber nicht verraten, welche Rolle sie gerade spielte. Als sie seine Erheiterung registrierte, warf sie sehr damenhaft den Kopf in den Nacken. Schade nur, dass ihr dabei die eine Stufe aus dem Blickfeld geriet; er musste schnell zugreifen, und sie kicherte nervös, als sie sich hinterher den Oberarm rieb.
Bald erschien sie mit der leicht trotzigen und zugleich verlegenen Miene, die er nun schon an ihr kannte. „Hätten Sie was dagegen, wenn ich mir einen Bikini kaufe?“
„ Nein. Wenn er dir gefällt – warum nicht?“
„ Danke“, hauchte sie und sauste davon.
Das gute Stück war verdammt teuer, aber er sagte nichts, als sie hektisch die letzten Münzen aus dem Portemonnaie zusammenklaubte. Zum Geld hatte sie kein Verhältnis, darauf wollte er wetten, teuer war, was mehr kostete, als sie im Moment an Geld bei sich hatte. Eine Fünfzehnjährige , so dachte er missbilligend, sollte in diesem Punkt rationaler handeln.
Kurz vor Dreschbach sagte sie unvermittelt: „Ich hab’ mir schon immer einen Bikini gewünscht.“
„ Wieso?“, fragte er verständnislos.
„ Wir haben einen schönen großen Swimmingpool im Garten.“
„ Ich verstehe nicht, was …“
„ Aber bei Hannes zieh’ ich keinen Bikini an!“
Weil ein Lebensmüder auf der Gegenfahrbahn plötzlich ausscherte, bremste Landau scharf und verriss den Wagen nach rechts, die Reifen quietschten markerschütternd, Steine polterten gegen das Bodenblech, der Ruck schleuderte sie in den Gurt, aber das alles drang nicht zu ihr durch.
„ Der starrt mich schon im Badeanzug an, als ob …“
Sein Auto rumpelte und schwankte über die Kante zurück auf die befestigte Fahrbahn.
„ Und dieser Oliver ist noch schlimmer.“
„ Wer ist Oliver?“
„ Oliver Rendel. Ein Freund und früherer Kollege von Hannes. Sie haben ihn doch gestern gesehen.“ Nach dem Schreck mit dem Kamikazefahrer holte er tief Luft. „Er wohnt seit zwei Wochen bei uns. Das ist vielleicht ein Widerling. Ein richtig geiles Schwein.“
Er drehte kurz den Kopf, aber sie saß wieder sehr steif, sehr gerade und schaute starr nach vorn. Den „geilen, schweinischen Widerling“ hatte sie unbedingt loswerden wollen, und zum ersten Mal kam Landau eine Idee, was Susi bedrücken mochte.
Das Bad war nicht so voll, wie er befürchtet hatte, er schleppte immer eine halbe Expeditionsausrüstung mit, und Susi entfernte sich hoheitsvoll Richtung Umkleidekabinen. Mit ihren Stimmungsschwankungen aus heiterem Himmel verwirrte sie ihn immer noch. Vielleicht testete sie ihn auch nur, um die Grenzen seiner Geduld herauszufinden, das kannte er von jugendlichen Delinquenten im Gespräch; und sollte das der Fall sein, war Schweigen beruflich und vielleicht auch privat die beste und einfachste Antwort.
„ Gefällt er Ihnen?“ Kokett drehte sie sich herum.
„ Sehr schön. Aber ich kapiere nicht, warum so wenig Stoff so teuer sein muss.“
Ihr Zwinkern kam einem gelungenen Flirt sehr nahe, und schmunzelnd sprang er ins Wasser. Fünf Bahnen hielt sie mit, sie schwamm mit viel zu viel Kraft und Bewegung, die Langstrecken-Ökonomie beherrschte sie noch nicht. Eine Hälfte des Beckens war abgesperrt, seine Nachbarn zogen wie er gleichmäßig dahin, tausend Meter waren ein so anständiges wie ernsthaftes Maß. Als er sich abtrocknete, entdeckte er sie im anderen Becken, wo sie mit einer Gruppe Gleichaltriger herumtobte. Die Jungen versuchten, die Mädchen unter Wasser zu tunken; die Mädchen rächten sich mit gezielten Spritzern, die Hand flach aufs Wasser geschlagen, laute Schreie begleiteten Erfolge wie Misserfolge.
Eine halbe Stunde später wankte sie schwer atmend heran und ließ sich auf die Decke plumpsen: „Uff, bin ich fertig.“
„ Hunger? Durst?“
„ Weder – noch.“ Dabei sprang sie hoch, zerrte ihre Decke aus dem Schatten und streckte sich in der Sonne aus: „Ich brate mich jetzt.“
„ Viel Spaß. Ich weck’ dich, wenn du medium durch bist.“
Diese Aufgabe wurde ihm abgenommen, ein stämmiger Lockenkopf schlich durch die Reihen, sichtlich auf der Suche nach einer bestimmten Person, entdeckte sie und goss Susi das kalte Wasser aus seiner Badekappe über ihren Rücken. Wie von der Tarantel gestochen schnellte sie hoch und brüllte wüste Morddrohungen, der Junge stolperte vor Lachen, sie raste laut kreischend hinter ihm her, und Landau sah noch, wie sie gemeinsam ins Wasser stürzten. In aller Ruhe absolvierte er seine zweiten tausend Meter und bewunderte neidvoll Energie und Ausdauer der jungen Leute.
Nachdem sie sich das zweite Mal von der Sonne hatte trocknen lassen, zog sie ihre Decke auch in den Schatten, legte sich auf den Bauch, den Kopf auf die Fäuste gestemmt, und sagte tonlos: „Es war schlimm.“
„ Was war schlimm?“
„ Gestern, zu Hause. Ich hab’ mich in meinem Zimmer eingeschlossen, Hannes wollte mich verhauen, weil ich wieder ausgerissen war. Dann hat er sich mit Oliver betrunken, und zum Schluss haben sich die beiden geprügelt.“
„ Was hat denn deine Mutter gesagt?“
„ Mutter ist erst am Morgen nach Hause gekommen.“ Eine ruhige, fast sachliche Feststellung, und ihre Stimme ließ nicht erkennen, was sie wirklich meinte. „Hannes und sie haben sich fürchterlich in die Wolle gekriegt. Wieder einmal. Und da bin ich abgehauen.“
„ Dann wissen die beiden nicht, wo du jetzt bist?“
„ Nein. Das kümmert sie sowieso nicht.“ Auch das klang nicht einmal bitter, es war einfach eine Tatsache. Mutter Sina Döhle und Vater Hannes Döhle waren mit ihren eigenen Problemen beschäftigt und hatten weder Zeit noch Aufmerksamkeit für Susi übrig.
„ Bist du auch schon während der Schulzeit ausgerissen?“
„ Und ob! Beim nächsten Mal muss ich in ein Internat.“
„ Was meinst du dazu?“
„ Ach, ich weiß nicht. Mehr Ärger kann ich nicht mehr kriegen.“ Danach blinzelte sie ihm zu, legte den Kopf auf die verschränkten Arme und schloss die Augen.
Er lud sie zum Essen ein, was sie zerknirscht, aber hungrig annahm, und auf ihr Versprechen, sich jetzt zweimal zu „revanchieren“, erwiderte er nichts. Schließlich war es nur ein Vorwand für sie, und warum sollte er sie zwingen, diese Wahrheit auszusprechen, die sie ohnehin kannte? Allerdings – was immer sie an Kummer mit sich herumschleppte, ihren Appetit beeinträchtigte es nicht. In den Stunden hatte sie Farbe bekommen, und dass er schwieg, störte sie nicht; sie war zufrieden, dass er kurz lächelte, wenn sie ihn anschaute.
Auf der Fahrt zur Waldparkallee seufzte sie plötzlich: „Bringen Sie mich noch an die Tür?“
„ Wenn du das möchtest – okay.“
Von der Seite sah er, dass sie auf den Lippen kaute. Endlich gestand sie: „Es hilft mir.“
„ Was hilft dir?“
„ Wenn Hannes oder Mutter sehen, dass Sie mich nach Hause bringen.“
„ Wie meinst du das?“
„ Hannes hat Angst vor Ihnen.“
„ Warum sollte er Angst vor mir haben? Er kennt mich doch gar nicht.“
„ Ich hab’ Ihnen doch erzählt, dass sich Hannes und Oliver fürchterlich besoffen haben. Und Hannes hat den Oliver angebrüllt, er sollte mal bloß vorsichtig sein, Sie wären so ein Scheißkerl, der nie Ruhe geben würde. Und heute Morgen hat er mit Mutter rumgeschrien, das sähe ihrer Tochter ähnlich, ausgerechnet mit Dirk Landau aufzukreuzen.“
„ Das ist ja lustig“, murmelte er.
„ Mutter mag Sie auch nicht leiden.“
„ Ach nee!“
„ Woher kennen Sie Hannes und Mutter?“
„ Du warst mal wieder abgehauen, und deine Mutter kam zu uns in die Detektei, wir sollten dich suchen. Meine Partnerin hat dich dann gefunden. Du hattest gerade deiner Großmutter das Leben gerettet. Ich habe deine Mutter ein Mal kurz gesehen und gesprochen, deinen Vater kenne ich überhaupt nicht.