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Es stellte sich heraus, dass Kimbles Besuchsmöglichkeiten bereits eingeschränkt waren – und zwar auf Antrag von Staatsanwalt James Longoria, der im Zuge der Ermittlungen gegen mehrere andere Mitglieder der SOUTH BRONX TIGERS den begründeten Verdacht gehabt hatte, dass Kimble seine Besuchszeiten dazu nutzte, um die alten Geschäfte weiter zu führen.

Die Besuchslisten aus der Zeit vor dieser Beschränkung legten das nahe. Ehemalige Gangmitglieder und vermutete Partner im Drogengeschäft hatten sich da die Klinke in die Hand gegeben.

Vor drei Monaten war damit jedoch Schluss gewesen.

Die Besuche waren auf Verwandte ersten Grades und seine Anwältin eingeschränkt worden. Mehr hatte Longoria beim Gericht nicht durchsetzen können.

Außer Cheyenne Masters stand noch eine gewisse Teresa Johnson in den Besucherlisten. Sie war die Mutter seines dreijährigen Sohnes namens Edmond. Nach einem DNA-Gutachten, das Cheyenne Masters bei Gericht vorgelegt hatte, war Kimble der Vater dieses Jungen. Der Richter kam zu dem Schluss, dass es die Rechte dieses Jungen in unzulässiger Weise einschränken würde, wenn man ihm den Umgang mit seinem Vater untersagte. Longorias Argumentation, dass auch Teresa Johnson Teil von Kimbles Organisation sein könnte, wurde seinerzeit als nicht ausreichend belegte Behauptung zurückgewiesen.

Teresa Johnson wohnte in einem Apartmenthaus Ecke East 68th Street und York Avenue in der Upper East Side.

Clive und Orry trafen dort etwa zweieinhalb Stunden nach der Unterredung mit Shane Kimble und seiner Anwältin ein.

Das Haus, in dem Teresa Johnson ihre Wohnung hatte, gehörte der mittleren bis gehobenen Kategorie an. Die Brownstone-Fassade war frisch renoviert, und es gab einen privaten Sicherheitsdienst, der rund um die Uhr die Augen offen hielt.

Flure, Empfangshalle und der Bereich vor dem Eingang waren mit Überwachungskameras bestückt.

Mit dem Aufzug fuhren Orry und Clive in den fünften Stock. Wenig später standen sie vor Teresa Johnsons Wohnungstür.

„Ja, bitte?“, fragte eine weibliche Stimme über die Sprechanlage.

„Sind Sie Teresa Johnson?“

„Ja.“

„Clive Caravaggio, FBI. Mein Kollege und ich haben ein paar Fragen an Sie.“

„Liegt irgend etwas gegen mich vor?“, fragte Teresa. „Falls nicht, bin ich nicht verpflichtet, Ihnen zu öffnen.“

„Wir können Sie auch in unsere Dienstgebäude an der Federal Plaza vorladen oder auch zwangsweise vorführen lassen, wenn Ihnen das lieber ist, Miss Johnson“, sagte Clive. „Aber ich denke, Sie sind klug genug, wegen ein paar Routinefragen nicht gleich so einen Aufstand zu machen. Es beschuldigt Sie im Übrigen auch niemand eines Verbrechens, sondern Sie werden nur als Zeugin befragt!“

„In welcher Sache?“

„Glauben Sie, ich spiele hier mit Ihnen Katz und Maus? Da sind Sie im Irrtum. Also öffnen Sie jetzt!“

Einige Augenblicke lang herrschte Schweigen.

„Die scheint auf Cops aller Art ziemlich allergisch zu reagieren“, meinte Orry.

„Wenn sie tatsächlich in Kimbles Geschäften drin hängt, hat sie dazu auch allen Grund!“

„Ich glaube allerdings ehrlich gesagt nicht so richtig daran. Es ist für Kimble doch viel leichter, über seine ebenfalls inhaftierten Gangbrüder, bei denen es keine Besuchsbeschränkungen gibt, Kontakt nach außen zu bekommen!“

„Warten wir es ab, Orry.“

Teresa Johnson meldete sich schließlich wieder. Im Hintergrund war eine Kinderstimme zu hören.

„Halten Sie Ihre Ausweise in die Überwachungskamera oben rechts!“, verlangte sie.

Diesem Wunsch konnten die beiden G-men natürlich nachkommen. In wie fern Teresa Johnson dazu in der Lage war, auf den üblicherweise ziemlich kleinen Bildschirmen solcher Überwachungsanlagen, noch die Echtheit der ID-Cards zu beurteilen, stand auf einem anderen Blatt.

Sie öffnete.

Teresa Johnson war eine Frau von Ende zwanzig. Das blauschwarze, leicht gelockte Haar fiel ihr bis über die Schultern. Ihr Gesicht war feingeschnitten und die dunkelbraunen Augen beobachteten die beiden FBI-Agenten aufmerksam.

Auf dem Arm trug sie einen etwa dreijährigen Jungen, der den Kopf auf ihre Schulter gelegt hatte.

„Kommen Sie herein“, forderte sie Clive und Orry auf. „Aber schließen Sie die Tür hinter sich.“

Für New Yorker Verhältnisse war Teresas Wohnung sehr groß. Clive schätzte sie über den Daumen auf etwa hundertzwanzig Quadratmeter.

„Was machen Sie beruflich?“, fragte Clive.

„Ich bin Mutter“, erwiderte Teresa. „Ist das nicht auch ein Beruf?“

„Keiner von dem man sich so eine Wohnung leisten kann.“

„Ich dachte, ich wäre nur eine Zeugin und keine Verdächtige.“

„Das ist richtig.“

„Außerdem haben Sie behauptet vom FBI und nicht von der Steuerfahndung zu sein. Ich weiß also nicht, was Ihre Fragen jetzt sollen!“

„Es geht um den Vater Ihres Kindes: Shane Kimble.“

„Das hätte ich mir ja denken können“, murmelte sie. Sie setzte den Kleinen auf den Boden, woraufhin er in den Nachbarraum lief. Teresa verschränkte die Arme vor der Brust und sah Clive direkt in die Augen. „Was wollen Sie Shane denn noch anhängen? Reicht es nicht, dass er für den Rest seines Lebens seinen Sohn nur alle vier Wochen einmal sehen kann? Reicht es nicht, dass Sie ihn nach einem fadenscheinigen Prozess voller Ungereimtheiten verurteilen und lebenslang wegsperren können?“

„Ich will ihm nichts anhängen“, sagte Clive. „Ganz im Gegenteil. Ich möchte ihm helfen.“

„Pah, dass ich nicht lache!“ Sie machte eine wegwerfende Handbewegung und wandte sich ab. Tränen des Zorns stiegen ihr in die Augen. „Ich kann mir schon denken, wie diese Hilfe aussieht! Am Ende wird Shane der Dumme sein und noch schlimmer im Dreck sitzen, als jetzt schon! So enden diese Spielchen doch immer! Na, nur heraus damit! Welche Tricks hat sich die Staatsanwaltschaft denn jetzt ausgedacht, um ihm das Leben zur Hölle zu machen?“

„Es geht um den Mord an Staatsanwalt James Longoria. Sie werden davon gehört haben.“

„Es war unmöglich, nichts davon zu hören“, erwiderte Teresa. „Die Lokalnachrichten im Fernsehen waren davon genauso voll wie die New Yorker Zeitungen und das Radio. Sogar in den überregionalen Networks haben sie davon eine Meldung gebracht.“

„Dann wissen Sie ja, wovon ich rede.“

„Ja – und soll ich Ihnen was sagen? Ich bedaure es kein bisschen, dass es diesen arroganten Sack erwischt hat! Ich sehe ihn noch im Gerichtssaal vor mir. Damals hätte ich ihn umbringen können...“

„Vielleicht sollten Sie überlegen, ob Sie jetzt vielleicht lieber einen Anwalt dabei haben möchten“, mischte sich Orry in ruhigem Tonfall ein.

Sie atmete tief durch und fügte dann hinzu: „Das war damals. Der Zorn ist inzwischen verraucht. Außerdem würde ich so etwas nie tun.“

„Was?“

„Einen Menschen umbringen. Das könnte ich nicht. Selbst jemanden wie Longoria nicht. Außerdem trifft ihn nicht die Hauptschuld.“

„Wen dann?“

„Na, Dustin Jennings natürlich. Um selber nur wegen eines minderschweren Vergehens angeklagt zu werden und schon nach wenigen Jahren wieder raus zu kommen, hat er Shane belastet und dafür gesorgt, dass er lebenslang hinter Gitter kommt. Longoria hätte doch gar nichts gegen ihn in der Hand gehabt, wenn Jennings nicht gewesen wäre! Auf seiner Aussage basierte die Anklage und als klar war, dass sich das Blatt zu Shanes Ungunsten wenden würde, sind natürlich auch andere Zeugen plötzlich umgefallen und haben sich gedacht: Dem können wir ruhig noch mal ans Bein pinkeln, bevor er weggesperrt wird!“

Eine Pause des Schweigens entstand.

Clive entschloss sich, zum eigentlichen Ausgangspunkt des Gesprächs zurückzukehren und noch mal ganz von vorn zu beginnen. Teresa Johnson hatte sich in Rage geredet und wenn bei dieser Befragung noch etwas herauskommen sollte, dann war es an Clive, dafür zu sorgen, dass ihre kochende Seele wieder auf Normaltemperatur herunter gekühlt wurde.

„Shane Kimble wurde damals auf Grund von Jennings’ Zeugenaussage angeklagt, das ist richtig. Aber diese Aussage wurde von weiteren Zeugen bestätigt. Außerdem gab es Sachbeweise dafür, dass Kimble am Tatort war.“

„Aber die Justiz hat damals nie die Mordwaffe gefunden!“

„Genau um die geht es jetzt!“, erklärte Orry. „Mit derselben Waffe, mit der Shane Kimble damals gegen seine Konkurrenz vorgegangen ist, wurde auch Longoria ermordet. Ihnen ist doch klar, welchen Schluss wir daraus ziehen müssen.“

„Sie glauben, dass Shane den Mord an Longoria in Auftrag gegeben hat!“, begriff sie sofort.

„Wir müssen das zumindest als Möglichkeit in Betracht ziehen. Der Vater ihres Kindes liebt theatralische Auftritte – und wenn der Mann, den er für seine Verhaftung verantwortlich machte und deswegen abgrundtief hasste mit einer Waffe erschossen wird, die Longoria damals im Prozess vergeblich aufzutreiben versucht hat, dann ist die Symbolik doch eindeutig – ein später Triumph über den Prozessgewinner im Gerichtssaal.“

Sie hielt Clive ihre Hände über Kreuz hin. „Dann sollten Sie mich auch als Verdächtige betrachten. Schließlich hätte ich genauso ein Motiv, so etwas zu veranlassen!“

„Wir wollen einfach nur wissen, wo die Waffe damals geblieben ist. Dazu gibt es keine vernünftige Aussage in den Prozessunterlagen.“

„Und das fragen Sie ausgerechnet mich?“

„Vielleicht hat Shane Kimble mit Ihnen darüber gesprochen, Miss Johnson. Damals hätten Sie ihm vielleicht geschadet, wenn Sie sich darüber der Polizei oder dem Richter gegenüber geäußert hätten - aber jetzt wohl kaum noch. Shane Kimble sitzt so oder so lebenslänglich, aber falls es jemanden gibt, der ihm vielleicht nur etwas in die Schuhe schieben will, könnten Sie uns helfen, demjenigen einen Strich durch die Rechnung zu machen.“

„Sie würden uns gleichzeitig zeigen, dass nicht Sie selbst diejenige sind, die damals die Waffe aufbewahrt hat!“, ergänzte Orry.

„Dafür haben Sie keine Beweise. Und Sie werden auch keinen Richter finden, der mich auf Grund derart vager Anschuldigungen in Haft nimmt...“

Teresa Johnson ging zu dem Telefon, das auf einer Anrichte stand und nahm den Hörer ab.

„Wen rufen Sie an?“, fragte Clive.

„Meine Anwältin.“

„Heißt die zufällig Cheyenne Masters?“

„Ja. Wieso?“

„Sie vertritt auch Shane Kimble – und Sie sollten sich gut überlegen, ob Ihre Interessen im Moment wirklich identisch sind.“

„Außerdem haben Sie Recht“, fügte Orry hinzu. „Wir finden im Moment sicher keinen Richter, der einen Haftbefehl für Sie unterschreibt. Aber es könnte sein, dass die Besuche von Ihnen und Ihrem Sohn auf Rikers Island jetzt ein Ende haben!“

Teresa Johnson legte den Hörer wieder auf. „Hören Sie, ich habe mit dem Mord an Longoria nichts zu tun, warum ruinieren Sie mich?“

„Inwiefern ruinieren wir Sie denn?“, hakte Clive mit gerunzelter Stirn nach.

Sie atmete tief durch, lief einmal quer durch den Raum und ließ sich dann in einen der Polstersessel fallen. Das Kind kam herbeigelaufen und wollte ihr ein Spielzeugauto zeigen. „Jetzt nicht“, sagte sie gereizt, nahm ihn an der Hand und ging mit ihm in den Nachbarraum.

Wenig später kehrte sie zurück.

Sie strich sich das Haar zurück und vermied den direkten Blickkontakt. Vorsichtig schloss sie die Tür zum Nachbarzimmer hinter sich. „Also gut“, sagte sie schließlich. „Ich werde aussagen. Alles, was ich weiß – aber nur dann, wenn nichts an der Besuchsregelung geändert wird!“

„Das liegt erstens nur bedingt in unserer Hand und zweitens geschieht das auch nur, falls sich die Verdachtsmomente gegen Shane Kimble erhärten sollten“, antwortete Clive.

Orry fragte: „Warum legen Sie eigentlich so großen Wert auf den Kontakt Ihres Sohnes zu Kimble?“

„Er ist sein Vater.“

„Aber finden Sie, dass ein Gang Leader aus der Bronx das richtige Vorbild für ihn ist? Er wird größer werden und Fragen stellen.“

„Das wird er so oder so“, murmelte Teresa Johnson ziemlich niedergeschlagen. Sie machte eine ausholende Handbewegung. „Das alles hier ist ziemlich teuer. Shane zahlt zwar Unterhalt für den Kleinen, aber das würde nicht mal reichen, um sich in irgendeinem Rattenloch in der Bronx einzuquartieren. Solange ich ihn regelmäßig mit dem Jungen besuche komme, fließt genug Geld, um das alles hier zu unterhalten.“

„Shane Kimble ist pleite“, sagte Orry kühl. „Sein Vermögen wurde eingezogen, weil es aus Drogengeschäften stammte!“

Sie zuckte die Schultern. „Ich weiß nicht, woher das Geld letztlich kommt. Ich weiß nur, dass es regelmäßig fließt und das genügt mir.“

„Und was ist mit der Waffe?“, fragte Clive. „Sie sollten uns dazu auch etwas sagen.“

Sie zögerte noch, biss sich auf die Lippen und begann schließlich stockend: „Shane hat die Waffe an Dustin Jennings weitergegeben – und zwar mit dem Auftrag, sie verschwinden zu lassen.“

„Das hat Shane Kimble Ihnen erzählt?“, hakte Clive nach.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich war dabei und habe es selbst mit angehört.“

„Aber Jennings hat die Waffe offensichtlich nicht verschwinden lassen.“

„So muss es gewesen sein.“

„Nun hat aber Jennings keinerlei Anlass, Longoria den Tod zu wünschen. Schließlich verschaffte der Staatsanwalt ihm durch sein Angebot die Möglichkeit, schon nach relativ kurzer Zeit wieder das Gefängnis zu verlassen!“

„Ich kann Ihnen dazu nicht mehr sagen! Jennings sollte die Waffe verschwinden lassen. Es war nicht das erste Mal, dass er für Shane die Drecksarbeit gemacht hat. Aber offensichtlich hat sich Jennings überlegt, dass er die Waffe besser aufbewahrt!“

„Warum hat er das getan?“, fragte Orry.

„Zwei Wochen nach dem Prozess hat Jennings mich aufgesucht.“

„Was wollte er von Ihnen?“

„Ich sollte Shane sagen, dass er die Waffe hätte und dass er dafür gesorgt hätte, dass sie sofort auftaucht, sobald ihm was passieren würde.“

„Er hat also Angst gehabt, dass Kimble ihn aus dem Gefängnis heraus ermorden lässt!“

„Ja. Seine Anwälte haben Shane Hoffnungen im Hinblick auf eine Revision auf Grund ungenügender Beweiswürdigung gemacht und meinten, dass er vielleicht doch noch mal etwas glimpflicher davonkäme. Aber wenn die Waffe aufgetaucht wäre, hätte er das vergessen können. Wahrscheinlich waren sogar seine Fingerabdrücke darauf. Kein Richter der Welt hätte ihm dann noch irgendeinen Strafnachlass gegeben. So lange die Waffe verschwunden blieb, war es ein schwaches Indizienurteil, das vielleicht zu kippen war.“

„So schwach kann dieses Urteil nun auch wieder nicht gewesen sein“, gab Clive zu bedenken. „Immerhin wurde die Revision schon bei der Anhörung vor der Grand Jury niedergeschlagen.“


Die Waffe und der Hass: Zwei Krimis

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