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Wir erreichten die Adresse, unter der Dustin Jennings laut Angaben seines Bewährungshelfers zu erreichen war. Sie lag in einem Apartmenthaus mit der Nummer 15 an der Elizabeth Road - nicht zu verwechseln mit der Elizabeth Street in Manhattan.

Jennings wohnte damit mitten in jenem Gebiet in der South Bronx, das bis vor einiger Zeit das Kerngebiet von Kimbles Gang gewesen war.

Aber die Zeiten hatten sich geändert. In der South Bronx bedeutete dies, dass sich die Grenzen zwischen den einzelnen Gang-Territorien immer wieder verschoben. Ganze Straßenzüge wechselten den „Besitzer“, der dann das Recht zu haben glaubte, in dem jeweiligen Gebiet Schutzgelder erpressen und Drogen verkaufen zu können.

Die SOUTH BRONX TIGERS hatten sich ziemlich weit in den Süden zurückziehen müssen. Die Abwesenheit ihres Chefs war dieser Gang offenbar nicht gut bekommen und andere hatten das ausgenutzt.

Wir hatten uns bei den Kollegen der Drogenpolizei DEA schlau gemacht, die diese Szene laufend beobachtete, weil sich daraus immer auch Rückschlüsse auf Verschiebungen bei den großen Syndikaten ziehen ließen. Im Moment gehörte die Elizabeth Road zum Einflussgebiet der BRONX DEVILS, einer Gang die schon früher zu Kimbles stärksten Konkurrenten gehört hatte.

Dass Jennings in deren Gebiet lebte, sprach Bände, wenn man die die Erkenntnisse aus der Befragung von Teresa Johnson berücksichtigte.

Die Elizabeth Road wirkte nicht ganz so schmucklos und heruntergekommen, wie man es von anderen Straßenzügen der South Bronx kannte.

In den letzten Jahren hatte sich hier – zumindest rein äußerlich – eine Menge getan. Aber auch wenn Teile der South Bronx inzwischen saniert waren, so war der Einfluss des organisierten Verbrechens deswegen nicht verschwunden. Er war vielfach nur nicht mehr so offensichtlich.

Ich parkte den Sportwagen direkt vor dem Apartmenthaus, in dem Jennings gemeldet war. Einmal in der Woche musste er sich noch zwei Jahre lang bei seinem Bewährungshelfer melden.

In dem Mietshaus gab es keinerlei Sicherheitselektronik, dafür Graffiti an den Korridorwänden.

Jennings Wohnung lag im dritten Stock und trug die Nummer A 211. Es stand kein Name an der Tür, dafür in großen verschnörkelten Buchstaben FUCK OFF auf der frisch gestrichenen Wand daneben. Für den Sprayer war die weiße Fläche wohl einfach eine zu große Versuchung gewesen.

Ich drückte auf die Klingel.

„Wer ist da?“, rief jemand durch die Tür.

„Mister Dustin Jennings?“

„Kommt drauf an, wer fragt!“

Milo und ich traten zur Seite. Wir hatten die Hände an den Dienstpistolen.

„FBI! Bitte machen Sie die Tür auf!“

Ein ratschender Laut, als ob eine Pump Gun durchgeladen wurde, warnte uns.

Zwei Schüsse krachten kurz hintereinander.

Der Kerl auf der anderen Seite der Tür hatte aus nächster Nähe das dünne Holz durchschossen. Zwei Löcher waren im Holz entstanden. Ich schnellte vor, trat die Tür ein. Sie flog zur Seite.

Ein Mann Anfang dreißig stand dort. Er trug einen dünnen Oberlippenbart und gelocktes, leicht welliges Haar, das er im Nacken zu einem Zopf zusammengefasst hatte.

In dem Moment, als ich ihm gegenübertrat, lud er gerade die Pump Gun zu dritten Mal durch.

„Waffe weg!“, rief ich.

Er feuerte.

Aber mein Schuss traf ihn zuerst, erwischte ihn am Arm, sodass er zur Seite gerissen wurde und sein Schuss daneben ging. Der Oberarm färbte sich blutrot.

Ich trat auf ihn zu und richtete dabei die Dienstpistole vom Typ SIG Sauer P 226 auf seinen Kopf.

Er lehnte gegen die Wand. Seine Hände krallten sich um die Pump Gun. Außerdem trug er noch eine Automatik hinter dem Hosenbund.

Er ließ die Pump Gun sinken und sah offensichtlich ein, dass er keine Chance hatte. Ich nahm ihm nacheinander die Pump Gun und die Automatik ab. Beide Waffen warf ich zur Seite. Milo trat hinzu. Wir durchsuchten den Zopfträger und fanden außerdem noch ein Messer in einem Futteral, das er um den Unterschenkel geschnallt trug. Der Griff ragte dabei nach unten, sodass man es bequem unter dem Hosenbein hervorziehen konnte.

In den Taschen der Jeans steckten ein paar Briefchen mit einem weißen Pulver.

Mit hoher Wahrscheinlichkeit handelte es sich um Kokain. Die geschätzte Menge betrug etwa das Doppelte von dem was die Gerichte als Rauschgiftbesitz für den Eigenbedarf durchgehen ließen.

Ich klärte ihn über seine Rechte auf, damit alles seine Ordnung hatte.

Er kannte die entsprechenden Sätze bei seiner zu vermutenden Vergangenheit sicher in- und auswendig. Jedenfalls hörte er mir nicht zu, sondern fluchte die ganze Zeit leise vor sich hin. Es war wohl einfach nicht sein Tag gewesen.

In der Gesäßtasche steckte ein Motorradführerschein.

Ausgestellt auf den Namen Lucas J. Fielding.

„Wo finden wir Dustin Jennings?“, fragte ich.

„Keine Ahnung! Ich brauche einen Arzt!“, rief Fielding.

„Den bekommen Sie auch – keine Sorge!“ Ich hielt die Kokain-Päckchen hoch. „Aber von hier aus wird es wohl geradewegs in die Gefängnisklinik von Rikers Island gehen!“

Milo hatte schon sein Handy am Ohr, um im Field Office von Fieldings Verhaftung zu berichten, Verstärkung anzufordern und dafür zu sorgen, dass ein Wagen des Emergency Service möglichst bald eintraf.

Fielding presste die Hand gegen die Wunde an seinem Arm. Sein Hemdsärmel war bereits blutdurchtränkt. Ich leistete Erste Hilfe. Im Bad fand ich Verbandszeug. Milo achtete derweil darauf, dass Fielding keine Dummheiten machte.

In dem ziemlich unaufgeräumten Wohnzimmer stand der Tisch voller Bierflaschen und Schachteln eines Pizza-Service. Auf der Couch lag eine Lederjacke herum, auf deren Rückseite die Aufschrift BRONX DEVILS WILL GET YOU!!! stand – mit drei Ausrufungszeichen.

In der Küche fand ich eine Apparatur zur Herstellung von Crack. Kokain wurde mit Backpulver vermengt und aufgekocht. Crack machte sofort süchtig. Da es auf Grund des geringen Kokaingehalts viel billiger war als normales Kokain, war es vor allem die Droge der Armen geworden.

Ein wahres Teufelszeug, das aus den Süchtigen Zombies machte, die kaum noch einen Gedanken fassen konnten, der sich nicht darum drehte, wie sie an den nächsten „Stein“ gelangen konnten, wie man die braunen Crack-Würfel auf der Straße nannte.

Als ich zurückkehrte sprach ich Fielding darauf an.

„Hey, das gehört alles nicht mir!“, behauptete er.

„Schon klar“, sagte ich. „Das gehört wahrscheinlich alles Dustin Jennings!“

„Natürlich gehört es ihm! Nehmen Sie doch Fingerabdrücke, machen Sie DNA-Tests oder weiß der Geier was noch! Sie werden sehen, dass ich die Wahrheit sage!“

„Aber an den Kokain-Päckchen in Ihren Hosentaschen werden wir wohl Ihre Abdrücke finden, oder?“, hielt ich im entgegen.

Er schluckte.

„Dazu kommt ein bewaffneter Angriff auf zwei FBI-Agenten“, hielt Milo im entgegen. „Da kommt einiges zusammen. Ich würde sagen, dass Sie diesen Stadtteil so schnell nicht wieder sehen werden. Besser Sie geben Ihr Motorrad schon mal in Zahlung. Sie werden das Geld für einen guten Anwalt brauchen!“

„Das ist alles nicht so, wie Sie denken!“, zeterte er und machte eine heftige Bewegung, bei der er sich beinahe den provisorischen Verband wieder herunterriss, den wir ihm angelegt hatten.

„Vorsichtig!“, warnte ich ihn. „Wenn Sie ihre Hände nicht unter Kontrolle haben, müssen wir Ihnen Handschellen anlegen, auf die wir angesichts Ihrer Verletzung verzichtet haben!“

„Ist ja schon gut!“, knurrte er.

„Ich würde sagen, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, zu kooperieren und uns nicht mit lächerlichen Märchen abzuspeisen. Wir kriegen das, was wir hier herausbekommen wollen, auch ohne Sie raus und es könnte sein, das wir in ein paar Stunden Ihre Hilfe schon gar nicht mehr brauchen! Sie können dann auch logischerweise vor Gericht nicht mehr davon profitieren! Ist Ihnen das klar?“

Er schwieg jetzt erst einmal. Der dauernde Strom von Flüchen und Gemeinheiten, die über seine Lippen kam, verebbte.

Ich hielt das für ein gutes Zeichen.

„Erste Frage: Was machen Sie in der Wohnung von Dustin Jennings?“, wollte ich wissen.

„Dusty – Dustin – hat mir erlaubt, hier ein paar Tage zu wohnen. Das ist alles. Ich hatte Stress mit ein paar Jungs aus der Nachbarschaft und meine Kumpels meinten, es wäre besser, ich würde für eine Weile den Wohnort wechseln.“

„Jungs aus der Nachbarschaft?“, hakte ich nach. „Sie meinen Angehörige einer anderen Gang!“

„Ach hören Sie doch auf!“

„Sie tragen eine Jacke der BRONX DEVILS!“

„Aber das sagt nichts darüber, ob ich auch Mitglied dieser Gang bin, oder? Ich trage nur eine Jacke mit der Aufschrift BRONX DEVILS – das ist schließlich nicht verboten...“

„Sparen Sie sich den Mist für Ihre Verteidigung“, schnitt ich ihm das Wort ab. „Mit welcher Gang hatten Sie Ärger?“

Er sah mich einen Augenblick lang an.

Offenbar begriff er nun, dass er mir keinen Bären aufbinden konnte.

„Da waren ein paar SOUTH BRONX TIGERS, die auf Ärger aus waren“, berichtete er schließlich nach längerer Pause. „Ich habe einen von denen verdroschen, als er die Grenze überschritt. Das fanden seine Leute nicht so besonders.“

„Die SOUTH BRONX TIGERS – das ist doch die Gang von Shane Kimble“, stellte ich fest.

„Ja, aber seit Kimble hinter Gittern sitzt, hat sich ihr Gebiet halbiert. In zwei Jahren gibt es die nicht mehr, wenn Sie mich fragen.“

Milo sah mich an. „Offenbar hat Dustin Jennings die Seiten gewechselt und lebt hier unter dem Schutz der BRONX DEVILS!“

Ich wandte mich an Fielding.

„Ist das so?“

„Ja“, presste dieser zwischen den Zähnen hindurch.

„Wo ist er?“

„Wahrscheinlich bei seiner Freundin. Rita Aldosari. Lebt ein paar Blocks weiter über einem Billard-Lokal, das ‚The Poole’ heißt. Man muss durch das Lokal gehen, um zu ihrem Apartment zu gelangen. Ich glaube, es liegt im zweiten Stock, aber hundertprozentig sicher bin ich mir nicht. Eigentlich lebt Dusty dort ständig, deswegen hat er auch nichts dagegen, dass ich hier untertauche.“

„Dann gehört das Crack-Kochgeschirr doch Ihnen!“, stellte ich fest.

„Nein!“, widersprach er. „Das müssen Sie mir glauben.“

Ich schüttelte den Kopf.

„Ich muss Ihnen das nicht glauben, Fielding. Und ich denke, Sie brauchen schon ganz großes Glück, wenn Sie eine Jury dazu bewegen wollen!“


Die Waffe und der Hass: Zwei Krimis

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