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Drittes Kapitel

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Der breite Abfahrtsperron de D. L. E. (Dover-London-Expreß) war von hunderten gestikulierender, hastender, in allen Sprachen durcheinanderrufender Menschen besetzt. Die niederen, dreirädrigen Gepäckloren ratterten vom Registriersaal über den betonierten Damm zu den beiden unendlich langen Postwagen, die am Kopf des Zuges hinter die Maschine gekuppelt waren. Die Linie Dover–London war, wie London–Folkstone, London–Harwich und die anderen Kontinentallinien, seit fast zwei Jahren nach dem Schnellverkehrssystem des deutschen Ingenieurs Daniel Forster eingerichtet. Die Forster-Züge waren einschienig. Der ganze Zug war grau wie ein Gigantenmaulwurf, die Untergestelle, Achsen und Räder aus Stahl, alles übrige aus Aluminium. Die Reflektoren, die das Licht von der Bahnhofsdecke herabschleuderten und die Signalaugen der Maschine abblendeten, gossen wellige Strahlenschnüre über die flachen Dächer der Cars. Der Führungswagen empfing seine letzte Ladung Elektrizität aus den Akkumulatoren, es surrte in den Kautschukisolatoren der Kabel, den ganzen Zug entlang surrte der elektrische Strom, die Gleichgewichtskreisel zwischen den Tragachsen der Wagen feilten denselben feinen, rastlosen Ton. Die große Hauptuhr zeigte 11:24 – um 11:25 mußte der Zug ausfahren.

Bell kam als einer der letzten durch die Sperre. Er überblickte unschlüssig die Knäuel der Einsteigenden und sprang erst im letzten Augenblick auf den nächsten Wagentritt. Die Kupplungen ächzten knirschend unter der plötzlichen Anspannung, das Feilen der Kreisel setzte lauter ein und stieg einen Ton höher, die Bahnhofsmauer glitt vorbei. Auf dem Bahnsteig lief ein halbwüchsiger Junge neben dem Zug her und warf die Türe hinter Bell zu.

Bell hatte die Ellbogen auf die gepolsterten Lehnen gestützt. Er legte ein Bein über das andere und genoß die Ruhe. Nun, da sie mit ganzer Kraft dahinschnurrten, verspürte man kaum eine Bewegung, es war, als glitte man auf stählernem Schlitten über eine magnetische Fläche. Manchmal fuhr ein blauer oder grüner Riß durch die Dunkelheit … die Telephonhäuschen der Streckenwächter.

Bell drehte sich von der Scheibe weg und senkte den Kopf. Die Spannung der letzten drei Tage begann nun zu wirken, eine leichte Erschlaffung ließ ihn fröstelnd zusammenschauern. Der helle Wagenraum versank vor seinen müden Augen in farblose, verschobene Umrisse. Sein Kopf schmerzte. Mancherlei Erwägungen kreuzten durch sein Bewußtsein. Er überdachte den Lauf dieser Reise: abgeschlossen … das war vorbei, ja … Und eigentlich war es nicht einmal überraschend – durchaus nicht! Dennoch – es war Raum für sein Projekt in dieser Welt! Und wenn dieser Raum sich nicht selbst bot, so würde er ihn schaffen! Er fühlte die Schnelligkeit der Fahrt in allen Nerven, und das beruhigte ihn. Er rechnete flüchtig und in losen Zusammenhängen seine Aussichten durch, und es dünkte ihn, daß die Rechnung stimmte. Sie mußte stimmen. Bell zog unwillkürlich die Stirne hoch und kniff die Augen zusammen. Dann wurde er innerlich ganz kühl, während er seinen Betrachtungen folgte … Und plötzlich mußte er lächeln – schon halb im Schlaf – als er sich Bourdiers erinnerte, wie er vor ihm stand und sich spreizte, knallrot und ohnmächtig; und die letzten Worte des Professors klangen ihm in den Ohren. Dann verloren auch sie ihren Sinn, und es war nur der Klang, der nachwirkte …

Der Zug flog mit bebenden Flanken. Er fraß sich durch das Dunkel, er schluckte die Kilometer, er flitzte durch sie durch und stieß sie hinter sich ab in einen lustleeren, pfeifenden Raum, der nach ihm über die Strecke fegte. Er legte sich in die Kurven, schleuderte die blanke Barre der Schiene unter sich zurück und schoß in die Schwärze wie ein spiegelglatter Pfeil.

Bell schlummerte ein.

Die Unterhaltung der Mitreisenden zirkulierte gleichförmig um ihn von Drehstuhl zu Drehstuhl. Der Geruch glimmender Zigarren krieselte von den Aschbechern auf den Mahagonitischchen. Die livrierten Diener kamen und gingen mit Teekannen und Toasttabletts.

Bell schlief. Er schlief noch immer, als unter ihnen, wie aus der Erde heraus, ein Dröhnen barst, und die Schiene splitternd sprang, und der lange Wagen wankte.

Er erwachte erst, als es ihn heiß und kalt umwehte. Irgendetwas stürzte tosend zusammen.

Bell spürte etwas Hartes, Schneidendes in den Handflächen. Es war eine aus dem Bahndamm ragende Wagenachse, die er umklammert hielt. Die scharfen Kanten des Metalls schnitten ihn ins Fleisch und verursachten ihm heftige Schmerzen – während ein marternder, an seinen Nerven rüttelnder Lärm wie eine klagende Woge um ihn brandete. Er biß die Zähne zusammen und suchte Erleichterung, indem er abwechselnd den Griff der einen Faust lockerte und die andere dem Gewicht seines Körpers standhalten ließ. Schwelende Wärme stieg unter ihm auf. Ein brandiges Etwas hinderte ihn, frei zu atmen, es legte sich um sein Bewußtsein wie eine zerfließende Wolke. Einen Augenblick war ihm, als müßte er alles verschließen, was noch an Empfindung in ihm lebte, aber dann griff er stärker um das Metall, das seine Haut zu sengen begann, er wollte durchhalten, und gleich darauf ließ er dennoch los. Aber er stürzte nicht; er rollte ganz sanft den Bahndamm hinab und blieb liegen.

Der Boden war weich und feucht. Bell genoß diese plötzliche erfrischende Nässe mit einem Dehnen der Glieder. Er öffnete angestrengt die Augen und sah, daß es hohe, betaute Grashalme waren, die seinen Kopf umstanden und ihm Stirn und Wangen streiften. Er empfand den Duft des Wachstums, der mit jedem Halm aus der Erde stieg, er bewegte den Kopf nach beiden Seiten im Grase, er hätte sich am liebsten daran gelehnt, und er dachte, daß es wüchse ohne innezuhalten, so zart war es und empfindlich vom Tau.

Bell drückte aufatmend die Schulterblätter tief in das auseinanderweichende Gras und richtete den Blick gerade empor. Über ihm ruhte die Wölbung des Himmels wie ein sehr dunkles, straff gespanntes Tuch ohne Falte; da und dort stand ein Leuchten auf dem Stoff, nicht größer als ein Punkt, aber bleich und mild wie Silber – die unendlich ferne Iris der Sterne …

Bell saß aufrecht; und als er den Kopf wandte, gewahrte er den Damm, auf dem umgestürzte und zerbrochene Waggons die hilflosen Räder ins Leere streckten. Flammen stiegen aus der Verwüstung empor, kurze Feuersäulen, aus denen es gierig tönte von knackendem Holz und schmelzendem Aluminium. Und da – während er mit einem Sprung stand und voll Verwunderung feststellte, daß er heil war und kein Knochen fehlte – hörte Bell den Chor von Rufen und Wimmern. Er unterschied – erst wie ein entferntes Gewirr, und dann entsetzlich wirklich und nah – die Stimmen, von hüben und drüben, von dem Abhang und von dem aufgerissenen Weg der Schiene; sie kamen von oben und unten, vorn vorne und rückwärts, aus dem Wust gekrümmter Metallrücken, aus den Flammen, überall her … Es war der verunglückte Zug, der schrie – oder waren es die Menschen? –, es war der Schauplatz eines Kampfes, der kurz, aber furchtbar gewesen sein mußte. Bell schritt, unsicher noch und betäubt, dem Bahndamm zu. Er kletterte über Haufen zerstörter Wagenteile, er stieg über Schuttmassen, er bückte sich unter Schwellen, er trat in Asche und Blut, und das Schreien, das Schreien des Zuges folgte ihm. Ja, das war der Nachtexpreß Dover–London, sein Zug. Er war entgleist infolge falscher Weichenstellung.

Lichter huschten an Bell vorbei – es klapperte neben ihnen von eiligen Schritten – und kletterten den Abhang hinauf. Die von der nächsten Zwischenstation telephonisch gerufene Rettungsmannschaft war an der Arbeit. Tragebahren standen auf der Wiese. Zwei Männer brachten eine durch Bandagen unkenntliche Gestalt und legten sie behutsam auf ein Feldbett. Die Wasserstrahlen der Handpritschen zischten durch die Luft und jagten den Rauch aus den Brandstellen auf. Unter halbverkohlten Wagen, zwischen den abgesplitterten Platten der Dächer, zwischen zerrissenen Kabeln und geborstenem Glas waren Menschen – sie schrien laut, sie klagten monoton oder jammerten leise, sie streckten die Hände und suchten sich herauszuarbeiten.

Bell hielt neben der Maschine. Sie hatte den Kopf, diesen Maulwurfskopf mit den stählernen Kiefern, zur Hälfte in den Sand gebohrt. Die eine der beiden Laternen war erloschen, die andere fehlte; die Öffnung, aus der sie im Sturz gebrochen war, glich einer leergeronnenen Augenhöhle. Der Leib, der noch vor kurzem von elektrischen Energien gebebt hatte wie ein Wesen, das lebendig ist und stark, der Leib, der gewohnt war zu schweben vor Geschwindigkeit, war nun still – ein breiter Riß ging mitten durch, und daraus quollen die Drähte und Kabel, Bündel von Eingeweiden. – Die Postcars waren umgekippt, die Kuppelung hielt sie noch zusammen, und vor ihnen häuften sich Stapel eingedrückter Koffer und geplatzter Pakethüllen. Der erste Passagierwagen – ein Sonderwagen der »Compagnie de Luxe« – ruhte mit dem vorderen Teil auf einer Schicht von Trümmern, der hintere Teil hing frei über den Abhang. Die Räumungsarbeiten waren an dieser Stelle in vollstem Gang. Der Wagen, dessen gewichtiger Bau sich ruckweise, aber unaufhaltsam senkte, wurde durch Pfosten gestützt, deren Holz sich bog und jeden Augenblick entzweizubrechen drohte. Eine Schar Geretteter umstand den Platz – bereit, auf das erste Warnungszeichen zurückzuspringen. Ihre Gesichter erschienen merkwürdig weiß und leer in der wechselnden Beleuchtung. Der Schutt oben auf dem Damm bewegte sich, kam ins Rutschen, ein Geröll von Steinen klinkerte herab – und dann brach ein vielstimmiger Schrei aus der Schar, er keuchte aus dem Kreis, den die Erwartung wie ein fiebriger Strom umfloß, er hallte in die Nachtluft –: zwischen den verschobenen Trümmerteilen wurde ein menschlicher Körper sichtbar. Der Unterleib war festgeklemmt, und gerade darüber schwebte der gewaltige Achsenbau des Wagens. Es war ein Mädchen. Das offene blonde Haar wehte von ihrem vorneüber geworfenen Kopf herab, das Gesicht war unkenntlich, zur Erde gerichtet. Eine Bewegung ging durch die Zuschauer, wie das erste Signal einer Panik. Die Frauen drückten sich aneinander, die Männer zauderten, sie wollten retten und wagten sich doch nicht vorwärts in den Bereich des drohenden Sturzes. In den Stützbalken knackte es von zerspringenden Holzfibern, der schwere Wagen gab ein Dröhnen von sich. Auch die Beamten wichen zurück, und die Balken, die nicht mehr festgestemmt wurden, begannen zu wanken.

Bell hatte sich mit zwei Stößen der Ellbogen in die erste Reihe gedrängt. Er stand da und starrte wie festgebannt auf dieses blonde Haar, das die Steine berührte. Er schnob in die Luft, und in seinem betäubten Hirn quälte ihn ein unsicherer, blitzartiger Gedanke. Er sah das blonde Gold dieser Haare, und es jagte wie ein Dämmer durch seine Erinnerung – er beugte sich vor, seine Füße berührten den Boden – da löste sich eine weiße, schmale Hand aus dem Geröll, und er wußte: es war das Mädchen von Bord der »Lady Grace«! Und im selben Augenblick stieß er gleichsam von dem Fleck Erde ab, auf dem er stand, und fuhr voran – er landete auf dem Anhang, der unter ihm fortzugleiten schien, er hieb mit drehenden Armschwingungen in das Geröll, er riß das Mädchen empor und an sich, er schnellte in zwei, drei Sätzen wieder hinab – und gleich darauf erschütterte der Sturz des Wagens das Gelände – die Erde bebte – und ein prasselnder Regen von Erdstücken, ein Wirbel von Staub hüllte ihn ein. Er stand aufrecht in diesem Luftkreisel, er wußte nicht, daß seine Augen brannten, er hörte nicht die Rufe, er fühlte nur das lebende, elastische Gewicht der Last auf seinen Armen – die Augenlider fielen ihm herab, ein Strahl von Stärke und Unbändigkeit rann durch ihn. Dann, als er wieder zu sehen vermochte, schritt er durch eine Gasse von Menschen zum Wiesenrain und bettete das Mädchen ins Gras. Ein Arzt kniete neben ihr. Er horchte auf den Herzschlag und konstatierte einen vorübergehenden Schwächeanfall. Bell war gezwungen, den Druck zahlloser Hände zu erwidern. Doch sein Blick suchte die Gestalt des Mädchens, das schlank und leicht auf dem Rasen ruhte, kühle Tautropfen in dem blonden Haar.

Eine kurze Strecke voran wartete der Hilfszug. Er glich seinem (nun durch den Tod entstellten) Kollegen wie ein Bruder dem anderen. Er funkelte von der Schnauze seiner Maschine bis zu den roten Lichtern am Schwanz. Er brummte aus den Dynamos und sprühte zurückgehaltene Lebendigkeit, als könne ihm so etwas nie und nimmer passieren. Und als er anzog und absurrte, schleiften die immer kleiner werdenden Schlußlaternen hochmütig ihren Schein hinterher.

Bell hatte ein getrenntes Abteil entdeckt und die junge Dame, der er in dieser Nacht auf so merkwürdige Weise zum zweiten Male begegnet war, hineingehoben. Da saß er nun. Auf der Bank gegenüber lag sie und bewegte sich nicht. Und im Grunde war er heilfroh, daß sie sich so hervorragend still verhielt, den Kopf zwischen den Kissen verborgen. Während der Zug wie ein Pfeil flog – als wollte er gutmachen, was der andere versäumt hatte –, sandte Bell zuweilen einen raschen Seitenblick hinüber zur anderen Bank und lächelte, beruhigt darüber, daß sich dort nichts regte. Er kam sich ganz unwirklich und wie aus der Welt verschlagen vor, allein mit dieser kleinen Dame, die so vornehm und zierlich war und so überaus gebrechlich erschien unter den Falten der Decke, die er über sie gebreitet hatte. Bell war nie dazu gekommen, sich mit Frauen abzugeben, und nun saß er da und betrachtete die Situation wie ein heimliches Wunder. Er konnte sich nicht recht darein finden, daß er sie soeben in seinen Händen gehalten hatte, die ihm so grob und rauh vorkamen, so daß er niemals gewagt hätte, ihr mit ihnen das Haar aus der Stirn zu streichen. Er scharrte mit den Füßen und hielt gleich wieder erschrocken inne, damit sie nicht erwache. Er studierte die verschlungenen Buchstaben D. L. E., die auf die Polsterung gepreßt waren. Er bemühte sich, die vorbeihüpfenden Telegraphenstangen zu zählen, und schließlich pfiff er zwischen den Zähnen zum Takt der Radschwingungen eine kleine vorsichtige Melodie.

Das Unglück hatte mehr als drei Stunden Zeitverlust gekostet. Der Tag tastete bereits herauf. Die Ausdünstung der Morgenstunde hob sich von den Feldern und wälzte sich neben dem Zuge mit. Milchweiße Schwaden verdeckten die Vegetation; es sah aus, als führe man zwischen Wassern.

Wieder glitten sie dahin wie auf einer magnetischen Ebene.

Draußen wurde es immer heller. Baumkronen und Dächer stiegen aus dem Dunst wie treibende Inseln. Bald war es ein fliegender Dunst von schwebenden Streifen, die sich über der grünen und braunen Landschaft zerteilten. Auch in dem Abteil wurde es hell und sonnenwarm. Bell pfiff auf einmal ganz unbekümmert, er wurde froh in all der Helligkeit. Aber dann verschluckte er den Ton in der Kehle und erhob sich unbeholfen: das fremde Mädchen sah ihn aus weit geöffneten Augen an und richtete sich langsam auf. Er war sogleich bei ihr, ließ sich auf dem Fensterplatz nieder und stützte sie mit einer Sorgfalt, über die er selbst erstaunt war. Sie faßte nach seinem Arm, ohne ein Wort zu sprechen; – er war ihr dankbar dafür. So lehnten sie am Fenster, der Sonne entgegen. Es war Bell, als tönte ein hüpfendes, übermütiges Morgenlied an sein Ohr, aus dem Summsen des Wagens, aus den Feldern dort draußen, aus der atmenden Berührung der Gestalt neben ihm. Der Linoleumboden zu ihren Füßen, die Bank, der Fensterrahmen sausten noch schneller als früher an der Landschaft vorbei. Sie fuhren eine Biegung – und dann sah man weit voraus, in einer Welt von Himmel und Schimmer, den riesenhaft gedehnten Umriß Londons. Zwei gleißende Türme stiegen vor der Stadt schwindelnd in die Atmosphäre, eine gleißende Wölbung spannte sich zwischen ihnen. Das war der Kristallpalast – die weiten Bogen standen flimmernd im Morgen, und es schien, als klängen sie in der Luft.

Der Zug raste mächtiger denn zuvor. Er knatterte über eine Hängebrücke, er hob und senkte sich wie ein fliegendes Fahrzeug, er hämmerte über Land, er knallte pfeifend zwischen zwei kilometerlange Zäune von Plakaten – er nahm keine Notiz davon, daß Madame Feodorowna in der »Alhambra« tanzte, und es wunderte ihn nicht, daß »Pink-Flower« das beste Mundwasser ist – er preßte sich in einem Nu durch diese bemalten Wände, die schon hier draußen für die große Stadt Reklame brüllten, er fuhr – wie ein Bolzen aus dem Blasrohr – wieder aus ihnen heraus, er hatte alle Besinnung verloren, er war nicht mehr zu halten, er witterte das Ziel, er stürmte darauf los – und er streckte sich flach vor Übereilung, als die Halle der Victoria-Station sich vor ihm auftat … hinter ihrem gläsernen Abschluß konnte man den Verkehr der Straße erblicken … er sprang gleichsam in einem Satz aus dem Flachland mitten in das Herz von London, und er wieherte aus den angerissenen Bremsen, als er betäubt stillstand, atemlos und mit zitternden Aluminiumflanken – zwischen den Kolonnen von Omnibussen und Autos, die von der Straße in die Halle gefahren waren.

Bereits um fünf Uhr hatte der Draht das Unglück in die Hauptstadt gemeldet. Die Morgenausgaben der Zeitungen brachten fett gedruckte Titelblätter. Und jetzt – neun Uhr vormittag – staute sich in der Halle von Victoria eine erregte und neugierige Menge. Verwandte und Freunde der Reisenden (man hatte die Namen der Toten und Verletzten noch nicht melden können), mühsam beherrschte Menschen, Nichtstuer, Schreiber, die auf dem Wege zum Bureau eine kleine Frühstückssensation aufschnappen wollten, Reporter, Photographen. Sie stürzten sich auf den Zug, als müßten sie ihn verschlingen, sie kletterten auf die Plattformen … unterdrücktes Aufschluchzen, Freudenschreie … die Photographen knipsten, die Redaktionsautos fuhren davon.

Bell half seiner Reisegefährtin auf den Bahnsteig. Noch einen Augenblick hielt er eine kleine, weiße Hand in der seinen – dann drehte er sich unvermittelt herum, wie jemand, der nach einer traumhaften Luftfahrt gelandet ist und merkt, daß er wieder auf nüchterner Erde steht.

Die junge Dame aber flog von seiner Seite, einem Herrn entgegen und an die Brust, der – elegant und massiv – die Umstehenden um einen Kopf überragte. Gleich darauf standen beide vor Bell – er hörte, wie sie »Papa« sagte, und er murmelte seinen Namen – der Herr sprach einige Worte … er hieß C. W. Graham … ja, und er sei Bell zu außerordentlichem Dank verpflichtet, da seine Tochter … Bell dachte, daß er noch nie einen so imponierenden Kopf gesehen habe – und die junge Dame reichte ihm eine Karte und forderte ihn auf, sie nachmittags zu besuchen – »ganz bestimmt, nicht wahr?«

Als der Tumult schon lange aus dem Bahnhof geebbt war, stand Bell noch immer neben dem Zug und drehte eine kleine, bedruckte Karte zwischen den Händen.

Die Welt ohne Hunger

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