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Erstes Kapitel

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Auf dem Tisch in der Mitte des Laboratoriums stand ein physikalischer Apparat.

Über der kochenden Flüssigkeit in dem Behälter stieg langsam weißlicher Dampf in die Höhe, wie eine dichte, in sich selbst kreiselnde Wolke. Die Glaswand drohte von Sekunde zu Sekunde zu bersten. Plötzlich hob sich der Dampf bis zu dem nadeldünnen Ende der Röhre und fuhr in einem boshaften, singenden Strahl heraus – geradewegs in eine neugierig über die Retorte gebeugte Nase. Der so unvermittelt attackierte Gesichtsteil zog sich schnaubend zurück und krümmte sich nach unten zu einer wulstigen Oberlippe. Aufwärts mündete der Nasenrücken in eine schmale, aber sehr fleischige Stirn. Der Schädel, auf dem eine einsame Silberlocke wippte, war im übrigen kahl und saß auf einem fettigen Nacken, der sich zwischen runde Schultern duckte. Das Ganze basierte auf zwei kurzen Säulenbeinen und hieß Thomas François Bourdier, Professor an der Pariser Sorbonne.

Mit der Entschlossenheit eines Mannes, der die Materie beherrscht, zugleich aber mit einem leichten Zittern der Hände, die nicht ganz sicher schienen, drehte der Professor eine Schraube zu. Die flüssige Substanz in der Röhre warf noch einige widerspenstige Blasen und sank dann auf den Boden des Gefäßes zurück. Der Professor zog geräuschvoll den Atem, trocknete sich ab und hielt dann mit einem Ruck des erhobenen Armes inne. Es klopfte.

Der Laboratoriumsdiener trat ein und überreichte eine Karte.

Der Professor hielt sie dicht vor die Augen und las: »Alfred Bell«.

Er bog die Karte zwischen den Fingern und glättete sie wieder: »Ihnen bekannt?«

»Nein, Herr Professor.«

»Warten lassen!«

Der Diener ging zur Türe.

Bourdier blickte auf. Es dunkelte bereits.

»Pierre …«

Der Diener wandte sich um und wartete, die Hand auf dem Türgriff.

Der Professor war an das Fenster getreten. Er sah durch das zitternd einströmende Abendlicht hinab auf die Züge der neuen Expreß-Stadtbahn, die – zwei Stockwerke tiefer – auf in der Luft schwebenden Schienensträngen vorbeidonnerten. Die eisernen Traversen der Hochbahnstrecke liefen quer von Haus zu Haus und überspannten die Straße mit einem Netz von Metall, so daß die Wände des Laboratoriums bei jedem vorüberratternden Zug leise dröhnend den Schall zurückgaben. Die Straße selbst lag sieben Stockwerke tief. Sie war schmal und erschien durch zwei ununterbrochen fortgleitende Reihen gedrängter Automobildächer noch enger.

Der Professor blickte gedankenlos in diesen kribbelnden Kessel zwischen den schroffen Häuserfronten. So gedankenlos, wie er dies durch zehn Jahre Tag für Tag getan.

Er hielt die Hände tief in die Taschen seines weißen Kittels versenkt; mit der Festigkeit eines Mannes, der sich Zeit läßt.

Er hatte sich stets Zeit gelassen. Und nicht zu seinem Nachteil.

Herrgott, ja, wenn man einen Namen trägt …

Keine einfache Sache. Keineswegs. Man altert und muß sich auf den Nachwuchs stützen.

Und die jungen Kräfte, deren man sich bedienen könnte, sind nicht immer zur Stelle.

Thomas François Bourdier gehörte zu jenen Wissenschaftlern, die es mit außerordentlichem Spürsinn und einer bewunderungswürdigen Anpassungsfähigkeit verstehen, Talente zu – entdecken. Er hatte es stets für vernünftiger gehalten, die Leistungen Unbekannter gewinnbringend zu verwerten, als selbst allzu tief in die so verwirrten und verwirrenden Regionen der Elemente einzudringen.

Denn es ist unbestreitbar bequemer und keineswegs weniger amüsant, diese komplizierten Neuerungen anderen zu überlassen. Wenn man nur die Glorie auf seine Seite bringt!

Man muß die Welt kennen – das ist es. Thomas François Bourdier kannte die Welt.

Auf diesem mehr ehren- als dornenvollen Wege war er mit dem Vollgewicht seiner Person die steilen Stufen zur Professur und zum Sitz und Titel eines Akademikers emporgestiegen. Seine Abstammung aus der Gascogne, die ihn mit einer nicht unbeträchtlichen Redegewandtheit begabt hatte, trug keineswegs den kleinsten Teil an seinen Erfolgen. Zudem ist häufig genug beobachtet worden, wenn auch noch nicht ganz aufgeklärt, daß fette Leute dem Fatum sympathischer sind als magere. Und in Bezug auf die erstere Eigenschaft hatte Thomas François Bourdier sich nichts vorzuwerfen. Seine von harten Fleischmassen zusammengepreßte Gestalt mit den merkwürdig beweglichen Armen und Beinen, dem zugespitzten Kopf und den runden, gleichsam auf unsichtbaren Stielen hervorquellenden Augen glich wahr- und leibhaftig dem tausendfach vergrößerten Exemplar jenes merkwürdigen Tieres, das die Zoologen Ameisenlöwe nennen. Man weiß, daß dies anmutige und ansprechende Geschöpf seine Zeit damit verbringt, eine trichterförmige Öffnung in den Sandboden zu bohren und hier auf die Ameisen zu warten, die sich etwa freundlicherweise dem Trichterrand nähern und herabfallen möchten. Das ganze Leben des Professors Bourdier war sozusagen ein solcher Raubtiertrichter, in dessen Mittelpunkt er unablässig saß und gierig eine Karriere bohrte.

Vor dem hohen Laboratoriumsfenster stehend, blickte Bourdier in einen Sonnenuntergang, der die Giebel der gegenüberliegenden Häuser, die schwanken Stahlsparren der Hochbahngleise und die Motorhauben der in der Tiefe schwirrenden Automobile in rötliche und gelbliche Linien zerflimmerte. Der sacht streichende Hauch des Abends, jener Hauch vom ersten Wipfelgrün des Bois de Boulogne und dem sanften Schlag des Seinewassers an schlammige Kaimauern, vom Brodem der in Dunstschleiern versinkenden Verkehrsplätze und der schüchternen Melodie einsamer Vorstadtgassen, von Lachen und Parfüm, von Hupenklang und dem Ruf versprengter Camelots mit druckfeuchten Zeitungen auf dem Arm – dieser aus hunderterlei Geruch- und Lautempfindungen gemengte Hauch, den jeder Pariser Frühjahrsabend in seinem Atem mitschwingt, drang nicht bis herauf in den kahlen Raum. Er berührte nur mit einem kaum sichtbaren Nebel die geschliffene Fensterplatte, flüchtig wie ein halber Gruß.

Der Professor legte den Kopf asthmatisch über die rechte Schulter: die Wartezeit schien ihm genügend lange.

»Pierre … lassen Sie den Herrn eintreten!«

Der Diener drückte den Türgriff nieder und verschwand.

Bourdier begab sich an den Schreibtisch. Er rückte den Armsessel noch tiefer in den Schatten der Ecke und schob einen zweiten Stuhl für den Besucher nach vorne in die letzte kalte Helle. Dann nahm er Platz – verborgen im Dunkel der Wand, so daß er, selbst kaum kenntlich, den Gegenübersitzenden scharf fixieren, jede Falte, jeden Muskel seines Gesichts in der prallen Beleuchtung beobachten konnte – und rief, ohne ein zweites Klopfen abzuwarten: »Herein …«

Als Alfred Bell das Laboratorium betrat, vermochte er niemand zu erblicken. Erst auf ein Räuspern des Professors bemerkte er eine Gestalt, die sich hinter dem Schreibtisch bewegte.

»Guten Abend, mein Herr.« Es klang ölig jovial aus der Ecke.

»Herr Professor Bourdier? …«

»Sehr wohl.« Der Professor hob den rechten Arm und ließ ihn gleich wieder herabfallen. »Hier, bitte.«

Der Fremde setzte sich. Das schwindende Tageslicht fiel auf sein kantig geschnittenes, knochiges Gesicht und die glattgescheitelten braunen Haare.

Der Professor warf einen beflissen interessierten Blick auf die Karte, die vor ihm auf der Tischplatte lag.

»Herr Bell, nicht wahr?«

»Ja.« – Der Fremde blickte dem Professor kühl und ruhig in die Augen.

Bourdier fühlte, daß dieser Blick ohne Scheu durch das Dunkel der Ecke bis zu ihm drang.

»Erfreut«, murmelte er. Und dann laut: »Womit kann ich Ihnen dienen?«

Die Welt ohne Hunger

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