Читать книгу Die Welt ohne Hunger - Alfred Bratt - Страница 20

Оглавление

Im ersten Augenblick wollte Bell eine jähe Bewegung machen, wie die Überraschung sie eingibt; gleichzeitig empfand er wie ein flüchtiges Aufleuchten das Bedürfnis der Abwehr. Doch schon in der nächsten Sekunde – da ihn ein stechend klarer Blick aus den Augen Schebekoffs traf, gab Bell automatisch jede Lust zu irgendeiner Aktivität auf. Er blieb nur halb emporgerichtet, den Oberkörper schwer auf die Ellenbogen gestützt, und betrachtete den Mann, der – sichtbar darauf bedacht, kein überflüssiges Geräusch zu verursachen – geradewegs auf ihn zukam.

Dann, als Schebekoff vor der Bettstatt stehen blieb, stumm, hager und in der ganzen Länge seiner knochigen Gestalt, hatte Bell gute Lust, dieses beharrliche Phantom mit einem kräftigen Wort anzufahren und den Mann aus dem theaterhaften Dunst, den er um sich zu verbreiten beliebte, in eine sehr reale Wirklichkeit zu versetzen, an den wenig gewählten Platz, der ihm gebühren mochte.

Da stand dieser Bursche und schwieg! Es war lächerlich und ärgerlich … ja, das war es.

Doch als Bell sprechen wollte, ohne sich seine Worte weiter überlegt zu haben, begegnete er plötzlich den Augen des anderen, die fest auf ihn gerichtet waren. In diesen Augen aber ward plötzlich eine so intensive, merkwürdig vertiefte Trauer lebendig, eine solche Welt von fast erschreckender Trauer war in ihnen, die das häßliche Gesicht seltsam warm und ausdrucksvoll werden ließ, daß Bell in einer Anwandlung unbewußten Mitgefühls die sich geöffneten Lippen über dem noch unausgesprochenen Wort schloß. Er verzichtete auf jede Äußerung, er wollte nur Ruhe haben, er ließ sich wieder auf das harte Lager zurücksinken und schloß die Augen.

Einige Sekunden lag er so, ohne sich zu bewegen. Aber er fühlte, daß der andere an seiner Seite blieb.

Und diese stumme und darum doppelt eindringliche Gegenwart stachelte Bell innerlich auf. Er suchte nach einem Grund, diesen Mann, der da war und nichts weiter tat, als da zu sein, anzugreifen, ihn irgendwie irgendwo anzupacken, mit Worten oder – wenn es sein mußte – mit der Faust. Bell war sich darüber klar, daß er, wenn Schebekoff sich jetzt regte oder den Mund aufmachte, mit einemmal die Spannung überwunden haben würde, die ihn zurückhielt. Daß er aufspringen oder sonst etwas tun würde, und daß er damit im Nu die »Oberhand« haben müßte.

Aber Schebekoff regte sich nicht, er schien nicht zu leben, er war nur da – weiter nichts.

So verhielten sich beide stumm und bewegungslos in dieser mit Särgen angefüllten unterirdischen Wölbung. Beide wußten, daß dies Kampf war. Und beide warteten.

Doch eben dieses Warten löste in Bell die Spannung, indem er sich mit einemmal unsagbar lächerlich vorkam. Er blickte wieder auf und sah Schebekoff an, der mit ruhiger Miene vor dem Lager stand und ihn unverwandt betrachtete. In dem Gefühl, sich selbst wieder zu besitzen, das ihm mit dem Erkennen der theatralischen Abgeschmacktheit der ganzen Situation zurückgekehrt war, wollte Bell seinem Drang nach freiem, kräftigem Atemzug durch ein starkes Wort Luft machen, als er wieder den Augen Schebekoffs begegnete. Und dieser Blick zwang ihn abermals, zu schweigen.

Dies war das erste Duell zwischen Alfred Bell und Sergej Schebekoff. Und Bell unterlag.

»Ja, ich bin es!«, sagte Schebekoff einfach und mit einer zu seiner Erscheinung nicht recht passenden Milde in der Stimme, die jedes Wort gleichmäßig betonte und darum völlig unpersönlich klang.

»Ich bin es … und ich glaube nicht, daß Sie etwas dagegen unternehmen können.«

Bell wollte antworten – er hatte das ehrliche Bedürfnis, sich endlich sprechen zu hören –, aber Schebekoff, der dies gewissermaßen vorauszuahnen schien, fuhr gleich wieder fort, wobei er den Ton seiner Stimme zu einem intimen Flüstern herabsinken ließ, im übrigen aber eine durchaus ungezwungene Haltung annahm:

»Da wären wir also auf dem neutralen Terrain, auf welchem ich Sie zu treffen wünschte. Oder meinen Sie, daß es etwas Neutraleres, ich möchte sagen Kosmopolitischeres gibt als diese … Herberge?«

Wieder machte Bell den Versuch, zu sprechen – nur um sich seiner Stimme zu vergewissern –, aber wieder ließ Schebekoff dieses Beginnen im Keim ersticken, indem er mit der hemmungslosen Ruhe eines Mannes fortfuhr, der sich allein dünkt und zu sich selbst redet:

»Blicken Sie um sich! Haben Sie jemals Menschen gesehen, die nackter waren? Die Leute, die hier auf halbverfaulten Brettern liegen und die üble Luft ausschnarchen, die sie tagsüber eingeatmet haben, sind ehrlich nackt … nackt bis auf das Mark ihrer Knochen. Sie haben nichts, absolut nichts, was sie kennzeichnen könnte; sie schlafen nicht wie andere Menschen, kein Traum, der sie in den Wolkenzügen zerrissener Erinnerungen mit dem Leben verbindet, qualmt in ihren Köpfen. Sie sind zu müde gehetzt, um träumen zu können, sie haben bedingungslos alle Viere von sich gestreckt, sie sind ganz einfach ausgeschaltet.«

Schebekoff hielt an, um sich von der Wirkung seiner Worte zu überzeugen; und da Bell schwieg, nickte er befriedigt mit dem Kopf, wie einer, der ein kleines Rechenexempel überprüft und richtig gefunden hat.

»Nackte Menschen –«, wiederholte er, »welch prachtvoller Arbeitston für einen Bildhauer, der sein Geschäft versteht! Welch großartiges Material für einen, der es zu kneten und zu formen weiß.«

Seine Stimme war voller, wärmer geworden, und er schmatzte, als kitzelte ein schätzbarer Geschmack seinen Gaumen.

»Sie sind ein Künstler«, flüsterte er dann, indem er sich unvermutet Bell zuwandte. »Sie wissen es nicht, aber gerade darum sind Sie einer. Warum haben Sie Ihr natürliches Gebiet verlassen und einen Weg eingeschlagen, der niemals der Ihre sein kann? Zwischen Whitechapel und Westend liegt eine unsichtbare Zome, die doch stärker ist als die dickste Festungsmauer. Es ist gut, ja, es wäre großartig, diese Mauer zu durchbrechen; aber sie übersteigen heißt sich selbst betrügen. Man ist dann zwar auf der anderen Seite … ho, sehr natürlich und logisch …, aber die Mauer ist stehen geblieben, ihre Steine sind kalt und stramm aneinandergekittet wie früher. Man steht ja wohl jenseits, zugegeben; aber man hat seine eigene Postadresse aus dem Diesseits mit hinübergeschleppt, und die bleibt einem, man wird sie nicht los … Sie waren stets diesseits, Bell, und Ihr Aufenthalt auf der anderen Seite war nur ein kurzer Spaziergang ohne Zweck und Bedeutung. Sie wollten eine Schranke übersteigen, die man nicht hinter sich lassen darf, sondern zertrümmern muß. Es gibt im Leben keinen Hohlraum, alles ist Materie und will genommen sein … Da sind Sie nun wieder diesseits der Mauer, Bell, und da bin auch ich. Auf diesen Boden müssen Sie sich mit den Füßen stemmen, wenn Sie mit der Stirn die Grenzmauer brennen wollen. Hier wurden Sie geboren … auf irgendeinem Kontinent, aber in dem Hier, das diesseits der Grenze liegt. Hier haben Sie gelebt und hier leben Sie wieder. Das andere war nur ein Ausflug, nicht wahr? Sie haben sich ein wenig die Welt besehen, die drüben liegt, und jetzt wissen Sie genau, wie es dort steht, nun sind Sie wieder zurückgekommen. Hier habe ich Sie erwartet und reiche Ihnen die Hand zum Willkommensgruß. Ja, wahrhaftig, Sie sind heimgekehrt – wissen Sie es, Bell, daß Sie heimgekehrt sind?«

Bell vernahm all dies wie etwas Unwirkliches, als kämen die Worte aus einem Schalltrichter hervorgekrochen, der irgendwo unsichtbar hinter einem gemalten Horizont aufgestellt war. Sie schienen ihm von keinem fremden Hirn erdacht, von keinem fremden Mund gesprochen … Sie waren das Echo von Gedanken, die ihm gehörten, ohne daß er sich dessen bisher bewußt geworden war.

»Sie wissen das«, ließ Schebekoff sich wieder vernehmen, und er raunte es mit fühlbarem Hauch in Bells Ohr, »Sie wußten das sehr gut, schon in den letzten Tagen und Wochen. Sie wollten es nur nicht glauben, weil Sie es nicht gehört hatten.«

Bell blieb stumm, denn in diesem Moment wurde ihm klar, daß der andere wahr sprach. Darum hatte er nichts zu sagen.

»Aber Sie sind müde, Bell«, redete Schebekoff nun wieder in einer anderen, ganz unverfänglichen Tonart. »Sie sind müde. Ruhen Sie sich getrost noch ein wenig aus. Ich habe Zeit, ich werde warten.«

Als Bell aus festem, herzstärkendem Schlaf erwachte, war er sich nicht gleich darüber klar, wo er sich befand. Er konnte sich nicht entsinnen, jemals in einem Schlaf gelegen zu haben, der eine so völlige Ablösung, ein so reelles Nichts bedeutete. Alles war ruhig und gefaßt und harmonisch in ihm. Zwar bemerkte er gleich darauf den fatalen Schebekoff, der unverändert dastand, aufrecht und wortbereit. Aber selbst das vertraulich-wissende Lächeln des Mannes, das unverkennbar eine Art von Gemeinschaftlichkeit ausdrücken sollte und darum unter anderen Umständen Bell zu sofortigem Widerspruch gereizt hätte, ließ ihn jetzt kalt und gleichgültig. Ohne weiter von dem anderen Notiz zu nehmen, sprang er auf und kleidete sich seelenruhig an. Dann aber, als er sich zum Gehen entschloß, fiel ihm auf, daß der Saal ganz leer war. Die »Särge« öffneten sich fahl dem Zwielicht, ihre Zufallsbewohner waren auf und davon. Nur Bell und Schebekoff befanden sich in der tiefen Wölbung, in der die Verlassenheit von den Wänden zu hallen schien. Und dieses Alleinsein mit Schebekoff verdarb Bell fast augenblicklich die gesunde Morgenlaune. Er witterte eine Absicht, und das ließ ihn instinktiv seine Energie zur Abwehr blasen.

Doch Schebekoff trat – als wüßte er mit mathematischer Genauigkeit, daß jetzt dies und nichts anderes zu tun sein – mit einem langen, herzhaften Schritt an Bell heran und meinte, ganz ölig von argloser Freundlichkeit:

»Es ist sieben Uhr. Gott weiß, daß Sie einen bewundernswerten Schlaf haben. Die Vögel sind alle längst ausgeschwärmt.« Mit plötzlichem Stimmwechsel, rauh und ohne jede Spur von Höflichkeit fügte er sofort hinzu: »Jetzt werden Sie mit mir kommen.«

Bell sah ihn groß an, in einem naiven, fast humoristischen Erstaunen, das aber vor dem harten Blick, der ganz unverschleiert von dem anderen in seine Augen drang, schnell zu Trotz wurde: »Nein«, sagte er … »nein«, wiederholte er halblaut zu sich selbst.

Schebekoffs Mienenspiel reagierte sofort auf diese veränderte Windrichtung; er setzte das Gesicht eines strengen, aber väterlichen Lehrers auf: »Den ungestörten Schlaf haben Sie mir zu verdanken, Herr Bell … ich bitte Sie das zu beachten. In diesem – Lokal werden die Gäste punkt halb sechs ins Freie befördert. Ich habe dem Wächter befohlen, Sie ungeschoren zu lassen.« Beiläufig erklärend fügte er hinzu: »… habe dem Mann mal einen Gefallen erwiesen.« Dann schnitt er jedes weitere Gespräch ab, indem er sich auf seinen mächtigen Stiefeln umwandte und dem Ausgang zuschritt.

Bell mußte ihm wohl oder übel folgen, wenn er aus dem Bereich der lauen Feuchtigkeit gelangen wollte, die sich von allen Winkeln der Wölbung loslöste. Hintereinander stiegen sie die halsbrecherische Treppe empor. Droben passierten sie den dürren Wächter, der wortlos vor Schebekoff zurücktrat und ihnen einen langen Blick nachsandte.

Auf der Straße wirbelte ein unsicherer Nordwind. Rauh und kalt wehte es von der Themse herüber. Schebekoff schritt gleichmäßig aus, ohne in der Richtung zu zaudern, und Bell hielt den Kurs bei, weil es ihm wie ein hartes Stück Brotrinde im Magen lag, daß er dem Kerl da vorne etwas sagen müsse, bevor er ihn seiner ranzigen Würde allein überließ. Er wurde hierin noch dadurch bestärkt, daß Schebekoff Bells ganz sicher zu sein schien, da er es nicht der Mühe wert hielt, auch nur einmal zurückzublicken. Nun gut, Bell ging hinter ihm drein … ho, aber nur weil er, Bell, es wollte.

Allmählich begann Bell sich für diesen Marsch zu interessieren. Es ging kreuz und quer, durch schlüpfrige Gäßchen und stinkende Winkel. Schebekoff schien sich gut auszukennen in diesem Labyrinth; er schritt unentwegt vorwärts, ohne nach rechts oder links zu sehen, ja es war, als sähe er überhaupt nichts, als verfolge er wie ein Blinder eine altgewohnte Tour. Er beschrieb Windungen von unbeschreiblicher Übersichtslosigkeit, er verschwand um Ecken und tauchte stets wieder auf, wie ein Lotsenkutter, der einem fremden, mit gestoppten Propellern dahingleitenden Dampfer in nebliger, bevölkerter Hafeneinfahrt vorauseilt.

Es wurde heller zwischen den Wracks von Häusern … das war der Morgen, natürlich, aber dennoch war nirgends in diesem abgeschiedenen, unsäglich schoflen Stadtende etwas von der belebenden Regsamkeit des Erwachens zu spüren, wie sie an jedem bewohnten Orte, ja selbst in der lautlosen Einsamkeit der Natur allmorgendlich in Erscheinung tritt. In diesem äußeren Bezirk von Whitechapel wird es niemals völlig Nacht, und darum gibt es auch kein richtiges Erwachen. Der kraft- und ziellos dahinschleichenden Zeit fehlen hier die allgemein gültigen Differenzierungen, die Übergänge, deren jedermann – der Arbeitende wie der Genießende – im gewöhnlichen Leben bedarf. Aber hier gab es ja keine Arbeit und keinen Genuß, hier hatte die Zeit zu schlagen aufgehört, hier besaß nur die Gegenwart Geltung und Bestand – ohne Vergangenheit und Zukunft.

Wer wollte von Morgen und Abend sprechen, von Tätigkeit und Erholung – hier, wo nichts war und nichts sein wird? Fensterläden schlugen auf, Hunde ließen sich hören, ein Kind heulte, weil es am Leben war … aber das sollte beileibe kein Erwachen bedeuten, es war nur die fortbrummende Resonanz eines Akkordes, der aus grenzenlosem Überdruß kein Ende nimmt.

Jetzt löste die temperaturlose Sonne den Nebel an einigen Stellen auf, aber auch sie vermochte die Menschen, die hier zu sehen waren, nicht ihrer Farblosigkeit zu entrücken.

Noch immer lavierte Schebekoff unverdrossen vor Bell einher. Schließlich aber stoppte er den gleichmäßigen Maschinentakt seiner Beine und hielt unvermittelt an.

Sie standen vor einem Haus, das wie ein schiefer, rauchgeschwärzter Zahn eine Reihe von Schuppen unterbrach.

Die Welt ohne Hunger

Подняться наверх