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Siebentes Kapitel
ОглавлениеDas Lokal, in das Bell von Schebekoff geführt wurde, war höchst primitiv, aber ohne abenteuerlichen Anstrich. Ein vierkantiger Raum wenig über Straßenhöhe, kahl, mit einem Feldbett in einer Ecke. Ein roh gezimmerter Holztisch und drei Rohrstühle standen in der Mitte; das einzige Fenster – ohne Gardinen – wirkte nackt und fremd. An einer im übrigen leeren Wand stand eine Kiste mit aufgesprungenem Deckel, die anscheinend als improvisierter Schrank diente. Sonst gab es nichts, was der Beachtung wert gewesen wäre.
Schebekoff ließ seinen Gast ohne weitere Förmlichkeit stehen und verschwand hinter dem Vorhang, der ein paar abgetretene Kellerstufen verdeckte. Bell trat an das Fenster und stellte fest, daß der einzige Riegel sich sehr leicht zurückschieben ließ, und daß es niedrig genug war, um einen gefahrlosen Sprung ins Freie zu gestatten. Allerdings wirkte das graue Wetter draußen nicht gerade einladend, und überdies verspürte Bell die Lust, vorläufig noch ein wenig auszuharren, um zu sehen, wie weit dieses Original Schebekoff es treiben würde. Er war ehrlich gespannt, und außerdem gab es ja auch weiß Gott nichts, was für ihn jetzt dringender gewesen wäre.
Neben dem Fenster bemerkte Bell zu seiner Überraschung ein Bücherregal. Augenscheinlich bildete es ein Lieblingsstück seines Besitzers, denn es war aus gutem Holz und sorgfältig mit schwarzer Farbe gestrichen. Auf den Bücherrücken waren die Namen Karl Marx und Friedrich Nietzsche zu lesen. Es waren hauptsächlich Werke sozialphilosophischer Natur, aber … sieh an, auch ein Roman befand sich darunter – der »Raskolnikoff« von Dostojewski. In diesem verborgenen Zimmer in einer Baracke am Ende eines düsteren Viertels wirkten die einfachen Bände wie die geheim vorbereiteten Explosionswerkzeuge eines Verschwörers.
Bevor Bell weiteren Betrachtungen nachhängen konnte, hörte er ein Klirren, und als er sich umwandte, sah er Schebekoff, der lautlos wieder eingetreten war, beladen mit einem Teller und einer Flasche, die er schwungvoll auf den Tisch setzte. Auf dem Teller lag ein Stück Brot und kaltes Fleisch, und die verstaubte Flasche sah ganz so fragwürdig aus, als ob sie jene Sorte »Gin« enthielte, die einen nicht völlig abgehärteten Mann unweigerlich nach kurzer Zeit zu Boden wirft. Aber Bell hatte schon zu lange gehungert und gedurstet, um wählerisch zu sein. Erst jetzt entsann er sich der Not der letzten Tage, und diese Erinnerung ließ ihn die Leere im Magen mit so starker Plötzlichkeit verspüren, daß ihm fast übel wurde. Er drängte das Bedürfnis, Schebekoff auf seiner noch immer verschleierten Absicht festzunageln, bis auf weiteres zurück und begann wortlos zu essen. Schebekoff blickte ihm aufmerksam zu. Es war wirklich der Mühe wert, Bell bei der Arbeit zu sehen. Dann aber, als Bell so weit mit sich in Ordnung war und aufsah, schob Schebekoff mit einer Armbewegung den Teller beiseite, als wollte er damit ausdrücken, daß dies nun erledigt sei und man getrost zu etwas anderem übergehen könne. Es war klar, daß Bell jetzt mit einer begreiflichen Frage herausrücken würde, aber Schebekoff hielt es offenbar noch nicht an der Zeit, ihn nach Belieben reden zu lassen. Er setzte sogleich kräftig ein, und man konnte feststellen, daß er trotz der kurzen Unterbrechung gut im Fahrwasser war.
»Es freut mich, Herr Bell, Sie bei mir zu sehen«, begann er seinen Sermon mit einer Dosis anzüglicher Gutmütigkeit, als handle es sich um die Fortsetzung einer verständnisinnigen Erörterung zwischen zwei alten Bekannten.
»Ich weiß nicht, ob Sie an Schicksalsfügungen glauben. Aber ich halte es für möglich, denn Sie sind – dies wollen wir als feste Voraussetzung betrachten – ein Mann mit Idealen. Darum habe ich nichts dagegen, wenn Sie die Meinung gewinnen, das Schicksal habe uns zusammengeführt.« Er beugte sich vor, langte eine Riesenpfote über den Tisch und legte sie jovial auf Bells Schulter.
Aber das passte Bell durchaus nicht. Er wollte gerne noch eine Portion Geschwätz anhören, die diesen merkwürdigen Fuchs veranlaßte, aus seiner Reserve herauszutreten. Aber keine Berührungen bitte – das war völlig überflüssig. Er hob den Kopf und rückte ein Stück vom Tisch ab. Diese unscheinbare Bewegung konnte Schebekoff, der gleichsam alle Sinne auf Horchposten geschickt zu haben schien, nicht entgehen. Er parierte schnell und gewandt, indem er ein sehr korrektes und höfliches Lächeln zwischen seine brutalen Backenknochen hängte und glatt den winzigen Mißton übersprang.
»Es ist kein Zufall, daß Sie hier mit mir an einem Tisch sitzen«, sagte er dann gewichtig, fast belehrend; »ich habe es so gewollt. Und auch Sie müssen es gewollt haben, ohne es zu wissen. Da Sie von Ihrem kleinen Ausflug zurückkehrten, konnte Ihnen nichts Besseres passieren, als einen Führer zu finden, der seine Sache versteht. Ich will mich beileibe nicht überheben – ganz gewiss nicht. Meine Kenntnisse liegen nur auf einem anderen Gebiet und darum meine ich, daß beide Teile profitieren müßten.«
Er machte eine kleine Atempause, und nun dachte er wohl, daß Bell gut seine Frage anbringen könne. Aber Bell rührte sich nicht. Jetzt, da man von ihm ein Wort erwartete, schwieg er sich mit einer Gründlichkeit aus, in der deutlich ein obstinates Reagieren erkennbar war. Doch Schebekoff war offensichtlich ein sehr geübter Steuermann. Er räusperte sich nicht einmal in dieser auf ihn gemünzten Pause, sondern zog mit frischer Bravour den ersten Trumpf aus seinem Spiel:
»Sie brauchen mich, Herr Bell«, sagte er trocken und obenhin. »Sie sind, rundheraus, auf mich angewiesen! Aber da ich keine schmutzigen Karten mag, will ich gut und gerne bekennen, daß auch ich bis zu einem gewissen Grade Ihrer bedarf.«
Nun wollte Bell wirklich etwas sagen – und sicherlich keine besondere Liebenswürdigkeit –, aber Schebekoff ließ dies nicht zu. Da Bell vorher nicht den Mund aufgemacht hatte, als eine Äußerung der Neugier oder zumindest des Interesses am Platz gewesen wäre, sollte er seine kleine Strafe erhalten. Und darum ging Schebekoff ohne Unterbrechung hochtrabend weiter:
»Sie haben sich verrannt, Herr Bell, wollen wir dabei bleiben. Aber ich strecke Ihnen die Arme entgegen. Das ist mehr, als Sie billig erwarten konnten.«
»Ich wüßte nicht«, bemerkte Bell kühl. Er saß und strömte Kälte aus – in seinem Dunst unbewegter Reserve.
»Aber ich weiß es!«, fuhr Schebekoff auf, und er zeigte sich zum ersten Male von seiner cholerischen Seite. Da ihn aber ein schneller Seitenblick davon überzeugte, daß Bell für laute Geräusche durchaus unempfindlich war, fand er ohne Übergang seinen gemäßigten Ton wieder:
»Sie werden es schon noch glauben, Mann Gottes, das werden Sie! … Oder haben Sie bereits eine neue Fährte für Ihre Weltbeglückungspläne?«
Nun war es an Bell, sich wenigstens scheinbar zu fügen; denn hier gab es etwas … diese klebrige Eingebildetheit des »ich weiß alles« … etwas, das er erfahren mußte.
»Na also«, sagte Schebekoff rauh, ganz als ob Bell ihm kräftig beigestimmt hätte. Dann erhob er sich mit einem hörbaren Knacken in seinen breiten Hüftgelenken und schritt quer über den fleckigen Estrich.
Draußen kämpfte der Nebel mit dem Wind, es war ein wogender, prustender Kampf im Zwielicht, und einige harte Wassertropfen schlugen wie Sandkörner an das Fenster. Schebekoff ließ den Roll-Laden herab, der knatternd niederfiel. Sogleich wurde es dämmrig in dem Zimmer, die Wände traten zurück, die Schrankkiste verkroch sich hinter einen breiten Schattenstreifen. Aber dieser tiefe Dämmer gab dem Raum etwas Wohnliches, indem er die Kahlheit verbarg, und das Jammern der Windstöße über den Dächern der Schuppen tönte aus einem Draußen, von dem man hier drinnen angenehm getrennt war.
»Na also!«, wiederholte Schebekoff vom Fenster her. Er kam lautlos zurück und setzte sich wieder, wobei er die Beine von sich streckte und man sehen konnte, daß seine großen Füße in plumpen Filzpantoffeln steckten. Darum also war er früher so lautlos über die Kellerstufen hereingeschlichen! Da saß er nun mit großväterlichen Filzpantinen anstelle der knarrenden Stiefelungetüme. Das nahm ihm das sonore Auftreten und machte ihn zu einem Biedermann in einer schmucklosen, dunklen Stube.
Bell bemerkte zum ersten Male, daß Schebekoff trotz seiner Boxermaße kein kräftiger junge Mann mehr war.
»Herr Bell!«, ließ Schebekoff sich nun in einer neuen Tonart vernehmen, in der etwas Beschwörendes fast melodisch mitzitterte. »Herr Bell, Sie sind ein bedeutender Kopf! … Ich sage frei heraus, daß ich mir dessen bewußt bin, und sonst säßen Sie ja auch nicht hier in meinem Haus. Sie haben weiterhin, wie schon einmal bemerkt, Ideale – und das ist gut so. Ich habe nichts dergleichen, wenn ich mich auch nicht immer von einer gewissen Sentimentalität frei fühle – und das ist auch gut so. Spannen wir Ihr Aktivum mit meinem Passivum zusammen, und wir erzielen einen Akkord, der aus dem Buch der vortrefflichsten Orgel kommen könnte, die jemals ihre Schäflein zum Festgottesdienst rief … Wo aber sind diese Schäflein, diese gläubigen Gemüter kurzsichtiger Denkungsart? Sie sind in den Bankshops, in den Bureaus und Magazinen der City, in den Palästen des Westends und in den Gassen von Whitechapel. Ganz besonders in Whitechapel, mein Herr! Es gehört zu den paradoxen Wahrheiten, daß der Mensch umso glaubensfreundlicher wird, je tiefer er im Dreck versinkt. Stellen Sie das Tier mit zwei Beinen auf ein spiegelglatt gescheuertes Parkett, und es wird die Nase in die Luft recken vor gemästeter Aufgeblasenheit, und in der Sonntagsgebetstunde Gott mit einem feierlichen Seufzer danken. Das ist dann, was es seinen Glauben nennt. Stecken Sie denselben Kerl in einen Sumpf wie Whitechapel, lassen Sie das Morastwasser über seinem Kopf hochschlagen – und er wird Ihnen mit »gottverdammich« und anderen unflätigen Redensarten versichern, daß er bei dieser netten Behandlung seinen Glauben völlig, aber auch wirklich völlig mit allem Drum und Dran eingebüßt habe … Das aber ist gerade der echte Glaube.«
Schebekoff blies kräftig die Luft von sich und schraubte sich stimmlich zu prophetischer Höhe empor:
»Erst wenn das Durchschnittsindividuum überzeugt ist und es nicht genug versichern kann: daß es nichts, rein gar nichts mehr glaubt, erst dann glaubt es wahrhaftig! … Sie, junger Bell, wissen nichts von alledem; denn Sie haben eine Seele mit geölter Außenseite, an der alles herabrinnt, wie der Tau an einem Maimorgen von den feuchten Gräsern. Wir anderen, wir kennen das höllische Vergnügen, wenn es beißt und zwickt, wenn man aufatmen möchte vor Verderbnis und Schadenfreude, wenn das Böse einem zum Halse herauskriecht wie ein blendender entpuppter Schmetterling.«
Schebekoff atmete tief, als schwelgte er in wunderbaren Erinnerungen.
»Haben Sie schon einmal gestohlen, Herr Bell?«, platzte er dann unversehens heraus, »haben Sie schon einmal genommen, was vor Gott und den Menschen nicht Ihnen gehörte? Haben Sie etwas getan, was Sie sehr wohl als ein Unrecht empfanden, und haben Sie gefühlt, wie schön es war, es zu tun? Haben Sie schon einmal gewußt, daß es das Böse ist, das Brennende, Stechende, Sengende, wodurch das Leben in Wahrheit versüßt wird? Haben Sie etwas geplant, was Sie banal für »schlecht« hielten, haben Sie es in sich getragen und gewiegt und genährt wie ein Kind, wie ein Sohn, einen herrlichen Sohn, der wuchs, immer wuchs und immer größer wurde, größer als Sie … bis er Sie anpackte mit seinen Fäusten, die Blut sind aus Ihrem Blut, Kraft aus Ihrer Kraft, … und vorwärts stieß, um es zu vollbringen? Und dann haben Sie gefühlt, wie Ihre Hand zitterte von glücklichem Fieber, wie es in Ihrem Kopf rauschte und dröhnte von Urgesängen, von den Wäldern, in denen die wilden Tiere sich zerrissen und fraßen, von den Wäldern der Urzeit, auf deren schlammigem Tropengrund es nach Fäulnis roch und Gärung, die nichts ist als der Prozeß des Befruchtens und Werdens. Und Sie waren mit dabei, Ihr Kopf war dabei und Ihre Hand, Sie taten etwas – und es war so erlösend, so befreiend, daß Sie es getan hatten, Sie waren so erfüllt, von dem Vollendeten, nicht wieder Gutzumachenden, Sie hatten Ihren Teil geleistet, und nun richteten Sie sich auf und betrachteten die Bescherung. Sie hatten zerstört, wie die Allmutter zerstört, weil sie muß … Sie waren Gott gewesen, einen Augenblick lang, und nun wischten Sie sich aber und leckten sich die Lippen … Und dann wurde Ihnen bewußt, was Sie getan hatten. Sie waren wieder allein, ganz allein zwischen Himmel und Erde, so einsam daß Sie Ihre Knochen, Ihre Haut, Ihr ganzes körperliches Selbst als Gewicht und als Schmerz empfanden. Sie waren zurückgeblieben mit dem Geschmack Ihrer Tat, Sie schmeckten es auf der Zunge, auf dem Gaumen, Sie schluckten es bis in die Herzgrube hinab, und nun begann das Bohren, das in die Tiefe geht wie ätzender Höllenstein. Dann waren Sie froh … ho, wie man zu sagen pflegt … Sie hatten, wonach Sie sich sehnten, es saß in Ihnen fest und konnte nicht heraus. Es mußte sich erst ganz durchdrängen, um als Schlacke auf dem Grund Ihres Wesens liegen zu bleiben bei – bei allem anderen, was schon da lag.«
Schebekoff sprach bewegt, in vibrierenden Brusttönen, er holte die Worte zwischen den Rippen hervor und befühlte sie gleichsam noch schnell mit den Lippen, wie ein gewiegter Feinschmecker, ehe er sie Schall werden ließ. Er hatte sich weit vorgebeugt, die langen affenartigen Arme vor sich ausbreitend, die Handflächen fest an die Kanten des Tisches gelehnt.
»Ach nein, Bell«, hauchte er nach einer kurzen Pause, die ihn aus Zeit und Raum entrückt zu haben schien, »ach nein, das können Sie ja nicht wissen! Sie sind der Sonnenvogel mit den leuchtenden Schwingen, Sie fliegen, wo ich wandere. Glauben Sie – oh, glauben Sie heiß und hell an Ihren Gott der himmelblauen Engel, wie ich an Beelzebub glaube!«
Schebekoff schnob wie ein Arbeitspferd, das eine schwere Last über die Steigung gebracht hat und nun die Beine hinstemmt, wie Säulen, zwischen denen die Flanken zucken. Er schnob warme Luft, und Bell konnte heraushören, daß er aufrichtig war.
»Nun, aber wollen wir von dem sprechen, was Sie interessiert«, kam es wieder fest und ruhig über den Tisch. »Von dem, was Ihnen … am Herzen liegt.«
Schebekoff unterbrach sich von neuem, aber diesmal war es nur eine Kunstpause, wie sie jeder Redner gebraucht, um seinem Publikum Zeit zu lassen, sich bereitzuhalten und empfänglich zu machen für das kommende.
»Es ist gut, auf die Jagd zu gehen, Herr Bell, oh, es ist vortrefflich … aber man muß Gewehr, Proviant und Munition besitzen, wenn man nicht bestenfalls auf halbem Weg liegen bleiben soll. Ich kenne Ihren Willen – er ist ganz in Ordnung, und er ist Ihr wesentlichster Besitz. Ich kenne auch meine Kraft – und wie es sich damit verhält, werden Sie selbst beurteilen können. Ich kenne Ihre Gedanken, denn ich habe mit Ihnen gedacht und mit Ihnen gearbeitet. Ich war mit Ihnen in der heißen Welle Ihres Entschlusses – obwohl ich es damals selbst noch nicht wissen konnte. Ich war mit Ihnen in den Träumen von künftiger Vollendung, die sich wie ein betäubender Duft um das Hirn legen, in den Qualen des Zweifels und dem knabenhaften Trotz, der so recht zu Ihrem schlanken Körper und schlanken Geist paßt. Sie aber merkten nichts von alledem. Erst ging ich auch um Ihr Revier herum, obwohl Ihr aufrichtiges Gemüt die Tür beständig weit offen hielt. Dann aber trat ich ein, und ich blieb gerne bei Ihnen zu Gast. Sie müssen es gefühlt haben, daß ich bei Ihnen war, daß Ihr Schritt mit dem meinen klang, Ihr Blick in den meinen traf. Aber erst sollten Sie sich selbst müde laufen, bis Sie wohl oder übel einsehen mußten, daß es genug war; erst sollten Sie Ihr eigenes Stop formulieren. Ich wußte ja so genau, daß ich bloß zu rufen brauchte, und Sie würden mir folgen wie der abgehetzte Wanderer dem winkenden Licht. Aber Sie sollten es nicht zu leicht haben, Sie, der einzig und allein am Hindernis seine Muskeln stählt. Sie sollten den Ruf herbeiwünschen, Sie sollten von selbst nach Hause gehen. Und erst da wollte ich Sie erwarten, in meiner Heimat, die auch die Ihre ist.«
Schebekoff sprach mit bewußter Schlichtheit, wie jemand, der mit bescheidenem Behagen seinen eigenen Worten lauscht:
»Nun brauchen Sie die Maschine, die Sie sicher trägt, und nun, da Sie ratlos sind, schon jenseits aller Grübeleien – nun, da Sie es am wenigsten vermuten, sollen Sie diese Maschine haben.«
Schebekoff zog die Hände gleitend über den Tisch zurück und richtete den Oberkörper gravitätisch auf, wie ein Prediger über der Kanzelbrüstung.
»Die Zeit der Propheten ist vorbei. Heute zieht man keine Wechsel mehr auf ein Konto im Jenseits. Man ist längst dahinter gekommen, daß eine mäßige Gegenwartsmusik mehr taugt als das empfindsamste Sphärenkonzert. Seligkeit, gewiß, sehr schön … aber noch hier auf unserer höckerigen Erde, wenn ich bitten darf! Ich will zugeben, daß es vielleicht schade ist, Herr Bell … Sie würden wirklich einen wunderschönen Propheten abgeben mit Ihrem leichten Gang und den dunklen Augen, die sich jetzt so angestrengt bemühen, abweisend dreinzublicken. Unter anderen Umständen brauchten wir weder Ihre geniale Erfinderkraft noch die Chemie. Aber man will kein Manna mehr, man will Brot. Behalten wir darum die für uns einzig gültige Wahrheit im Auge, daß Sie mit den Leuten gehen müssen, denen Sie helfen wollen. Die Sonne muß mitten aus dem Sumpf steigen – das und nichts anderes ist vonnöten … Nicht Sie allein können und dürfen die Medizin brauchen, und auch die Leute in der City dürfen nicht helfen … Die Massen, denen Ihr Mittel gilt, müssen es selbst schaffen, die Massen müssen in Ihre Dienste treten, die Massen müssen die große Fabrik bauen, die das Präparat erzeugt. Nur dann hat es Wirkung, nur dann ist es vollkommen … Das Elixier, das Ihrem Hirn entspringt, muß von der Masse hergestellt werden. Der Pöbel braucht Musik, er will spielen. Und Sie sind das Instrument dazu. Sie sind der Gedanke, die schweißige Menge aber ist die Tat … Begreifen Sie jetzt, daß Sie inmitten Ihrer Arbeiter stehen, die nur darauf warten, Ihnen dienstbar zu sein? Sie sollen nicht helfen und nicht schenken; Sie sollen nur befehlen. Ja, nun sind Sie in Ihrem Haus … und Ihr Handwerkszeug liegt vor der Tür. Hier ist alles, was Sie brauchen und nirgends sonst erhalten konnten. Die Mittel, derer Sie bedürfen – oho, da liegen Sie vor Ihnen ausgebreitet, das Heer der Elenden, das Volk der Arbeitslosen, die Menge will sie Ihnen geben!«
Schebekoff hatte den Schädel in den Nacken geworfen, sein Kopfhaar schien sich borstig in Büscheln hochzusträuben.
»Aber vergessen Sie niemals – und hören Sie gut auf das, was ich jetzt sage – vergessen Sie niemals, daß ich es bin, dem dieses dunkle Heer gehorcht!«
»Ich glaube, mich Ihnen deutlich genug vorgestellt zu haben, Herr Bell, um jetzt von der Unterhaltung zum Geschäft übergehen zu können.«
Schebekoff kam wieder mit seinem breiten Oberbau über den Tisch vor. Er stützte sein blaurasiertes Kinn auf eine Handfläche, die in dem Dämmer der Stube weiß zu schimmern schien.
»Wir wollen uns verbünden, Bell«, sagte er, und zum ersten Mal ließ er das förmliche »Herr« ostentativ beiseite. »Sie haben Ihr Talent, Ihre Kenntnisse, den Apparat der Wissenschaft, die uns nützen sollen. Ich aber verfüge über die Möglichkeit, durch die allein Ihre Theorie in die Praxis umgesetzt werden kann … Sie sind im Schatten von Whitechapel groß geworden, mit einem heißen und feuchten Blick nach jenem London, das sich jenseits der Towerbridge mit Kuppeln, Türmen und hohen Dächern in den Widerschein seines eigenen Glanzes aufschwingt. Was sich hier bei uns zwischen Verfall und Moder fortschleppt, haben Sie wohl betrachtet und mitgefühlt, aber nicht verzehrt und verdaut … dazu hatten Sie keine Zeit, Sie sahen nach vorne, über das Gewimmel hinweg, das Sie vom Boden aufheben wollen. Ich aber bin zwischen den anderen gekrochen … oh, ich bin im Schoße der Erde gewesen und habe in die glimmende Asche geblasen, bis sie sich zu jener Glut rötete, die auf mein Geheiß zur verzehrenden Flamme wird. Und ich will Ihnen dieses Feuer bringen, Sie sollen der Gott des Feuers werden, der Herr über das Meer von Feuer, das ich Ihnen schaffe … Ich weiß nicht, ob Sie all die verdeckten Zusammenhänge kennen, die auch hier in den niedrigsten Menschheitsquartieren bestehen. Man muß gute Augen haben, um diese Dunkelheiten zu durchforschen, gute Ohren, um das Ungesprochene zu vernehmen. Es sind schlüpfrige Wege, die durch Whitechapel führen, Wege ohne Richtungstafel und ohne Echo. Doch wer die Wege kennt und doch nicht an sie gebunden ist, vermag alles. Glauben Sie nicht, daß Whitechapel machtlos ist, glauben Sie nicht, daß es arm ist. Geeinigt durch einen Gedanken, beseelt von einem Verlangen, geordnet unter einer Führung, bedeutet die Gesamtheit eine unüberwindbare Potenz. Es ist das Geheimnis der Massensuggestion, Bell, vor dem das mächtigste Einzelwesen erzittern muß! … Wer den Ruf kennt und ihn erschallen läßt, besitzt in Wahrheit den Stein der Weisen.«
Schebekoff öffnete den Mund weit und zog die ganze Luft ein, die er zu erreichen vermochte. Er sättigte sich an einem langen, innigen Atemzug, er füllte sich wie ein Pumpwerk mit Betriebsstoff, und jetzt rauschten seine Worte machtvoll über Bell hin:
»Ich besitze den Schlüssel, der die schweigenden Tore öffnet, ich kenne das Wort, das in alle Schlupfwinkel dringt und die Menge in ihrer ganzen primitiven Glorie um uns versammelt. Nicht umsonst habe ich mich geduckt und gewartet, nicht umsonst bin ich in diese Seelen gekrochen, die so wild und kindlich sind. Ich habe ganz Whitechapel in meiner Faust, und ich öffne sie, um es Ihnen als Morgengabe darzubringen. Hier sollen Sie Ihren Tempel bauen, der Armseligste soll daran beteiligt sein. Im Herzen von Whitechapel muß das Laboratorium stehen, aus dem das neue Heil hervorgehen wird … Sagen Sie, daß Sie es wollen, Bell – sagen Sie, daß Sie meine Hand ergreifen! Oh, Sie können ja nicht wissen, wie ich mich nach Ihnen gesehnt habe, Tage und Nächte, im Wachen, im Traum und selbst im traumlosen Schlaf. Sehen Sie mich nicht an, Bell – bitte, sehen Sie mich jetzt nicht an. Sie sollen nicht sehen, daß ich häßlich bin, daß ich den Fluch und die Krankheit von Generationen mit mir trage. Sind Sie nicht der junge Held, von dem die Sagen erzählen, sind Sie nicht die Umformung meines Wollens in körperliche Wirklichkeit, die Inkarnation, die Wiedergeburt? Ich will nichts für mich … keinen Ruhm, keinen Namen, in Ihnen will ich sein, weil ich es in mir nicht kann!«
Schebekoff sprach jetzt wirklich gut. Alles Falsche und Schleichende, alle Überlegung und List war von ihm gefallen. Er war nur noch Schwung, Bewegung und Schall, es strömte aus seinen innersten Kammern voll und rund heraus und breitete sich aus, füllte das kleine Zimmer bis an die Decke, wie ein elektrischer Starkstrom in Berührung mit dem Kontakt, der ihn auslöst in seiner ungehemmten, knatternden Wucht. Der ganze Mann war eine einzige Energiequelle, für die es – da nun einmal der aufgespeicherte Überdruck das letzte Hemmnis gesprengt hatte – keinen Widerstand mehr gab. Er saß unbeweglich und erzeugte nur ohne Pause rasende Kraftmengen, die selbständig wurden und dann keiner Kontrolle mehr unterlagen.
Er selbst aber blieb hinter diesem Gewitter zurück. Er konnte wohl die Windsbraut erzeugen und loslassen … mochte sie stürmen wohin sie wollte. Aber er konnte nicht selbst mit, er klebte am flachen Erdboden mit allen Knochen und Fibern seines klappernden Körpers. Er komponierte das Lied, aber keine Macht der Welt konnte ihn bewegen, es selbst zu singen. Er mußte es frei im Raum tönen lassen und brauchte einen anderen, einen Bell, der es einfing und mit menschlicher Kehle erst wirklich sang. Er aber, Sergej Schebekoff, blieb zurück und lauschte dem Choral, der aus ihm geholt hatte, was zu holen war. Er blieb zurück als ein häßlicher, nicht mehr junger Mann, mit plumpen Gliedmaßen an einem hageren Rumpf, mit schütterem Haar, trüben Augen und einer fahlen, knitterigen Haut.
Wohl eine Minute verging, bis alles verdampft und verraucht war und der aschgraue Alltag wieder die Stube füllte.
Dann erst fand Schebekoff die Kraft zu neuer Rede:
»Ich werde rufen«, wiederholte er gedämpft und heiser, »ich werde rufen, und sie werden kommen.«
Es war eine abgenützte Stimme, die diese Worte sprach, eine Stimme, die noch im Kampf lag mit dem verhallenden Brausen aus einer anderen Welt.
Bell führte leise die Hand an die schmerzende Schläfe. In dem Krampf, dem er ohne den Schutz kalter Überlegung Einlaß gewährt hatte, wurde nur eine Frage völlig automatisch zu Schall – eine Frage, die er seit dem Morgen in sich getragen hatte:
»Woher wissen Sie? …«
Schebekoff war aufgestanden. Er beugte die Arme wie nach einer anstrengenden Turnübung.
»Das …«, erwiderte er und gähnte fast, »… das sage ich Ihnen ein andermal.«
Er war jetzt wieder der alte – ein robuster Bursche mit schiefem Blick und nicht abzuschätzender Haltung, von dem man alles erwarten kann.