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Sechstes Kapitel

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Der kleine Platz in Whitechapel lag schmutzig und verödet. Der Nebel, der seit vier Tagen immer dichter und schwerer geworden war, hing in Fetzen von den angelaufenen Scheiben der Gaslaternen. Drüben, wo der Fluß lag, schwankten abgetakelte Schiffsmasten, Raen und Sparren in dem Grau des Abends, wie die Kreuze eines verfallenen Friedhofes.

Bell lehnte an einem umgestürzten Leiterwagen. Sein Anzug war dünn und abgetragen und bot so gut wie keinen Schutz gegen die kalte Nässe; die Mütze war zerknittert. Bell fror. Seine Hände waren blau und rissig. Der Wind kam in kurzen, abgehetzten Stößen und trieb die herumliegenden Reste des letzten Wochenmarktes vor sich her. Ab und zu drang ein heulender, gedehnter Ton von der Werftseite herüber – wenn einer der Kräne hochgezogen wurde, um ein Lastboot vorbeizulassen.

Bell rückte die Mütze tiefer in die Stirn. Die Wagendeichsel knarrte.

Er zog die Lippen herab.

So weit war es nun, ja!

Er war so ziemlich fertig … Er besaß keine Wohnung, kein Geld; das letzte hatte für die Miete gereicht. Er wußte nicht, wo er sich diese Nacht hinlegen würde. Und seit dem Morgen hatte er nichts gegessen.

Ein dumpfer Hall rollte durch die Schweigsamkeit. Er kam von der anderen Seite des Platzes, aus dem Tunnel, der sich bei den Docks unter die Themse senkt und am jenseitigen Ufer wieder hervorkriecht.

Unschlüssig richtete Bell sich auf. Dann ging er quer über das holprige Pflaster und schritt die abschüssigen Quadern zur Tunnelöffnung hinab. Es wurde dunkler um ihn, die Flämmchen der Notlampen zuckten über gekachelte Mauern. Die Luft war dick und erfüllt von Rauch, der sich ätzend auf die Lungen legte. Aus der Tiefe des Tunnels rollte ein Laut herüber, kam näher, wurde zu einem Dröhnen, das sich betäubend heranwälzte. Bell trat zur Seite. Ein hochbeladenes Lastfuhrwerk donnerte vorbei. Die Hufschläge der mühsam ziehenden Pferde klapperten in mehrfachem Echo nach, Funken sprangen von dem glatten Fahrdamm, die emporgerichteten Hufe blinkten eisenbeschlagen und fielen klingend herab – es war nicht ein Wagen, ein Gespann … es klang wie ein ununterbrochener Zug schwerer Fuhrwerke in diesem Tunnel, der jedes Geräusch verdreifacht, vervierfacht wiedergab.

Bell hatte die Mitte des Tunnels erreicht. Er atmete mühsam in dieser gepreßten Luft, er tastete – an Stellen, die besonders finster waren – die Mauer entlang, und er dachte, daß er nun allein war hier unten, tief unter dem Niveau der Stadt, und daß über ihm das Wasser der Themse floß, mit Barkassen und Kähnen, mit grünlichen Wellen, die aus dem Meer hierher getrieben waren. Er blieb nicht stehen … als hätte der Fluß über ihm sonst die Macht, ihn für immer zurückzuhalten … Manchmal erblickte er eine eiserne Leiter und eine hohe Plattform, von der ein Licht die Tunnelnacht durchdrang – das waren die Wachposten der Hafenpolizei.

Endlich dämmerte es in der Ferne. Ein heller Punkt, der sich weitete, die Fliesen stiegen schräg nach aufwärts, das Dunkel blieb hinter Bell zurück – er hatte es überholt, es konnte ihn nicht halten –, die Mauern hörten plötzlich auf, und dann stand er vor einem Gewirr winkliger Häuschen, zwischen denen zerlumpte Gestalten schlichen, wie Schatten aus einer anderen Welt.

Bell zog mit Bewußtsein die schale Luft ein, die ihn doch frisch und fast klar deuchte nach dem erstickenden Brodem, aus dem er gestiegen war; er blickte hinter sich zu der offenen Höhle des Tunnels zurück; dann folgte er den schattenhaften Gestalten.

Das Nachtasyl lag am Ostende des Hafens. Rissige Mauern, von denen der Kalk abgebröckelt war, ließen ein niedriges Tor frei. Düstere Erscheinungen waren hier versammelt – halbwüchsige Burschen, fast noch Kinder – junge Leute, denen der erste Bart stachlig von den Wangen stand, mit den wissenden, verdeckten Augen Vierzigjähriger – Männer, deren Beine und Arme sich unhörbar bewegten, als müßten sie etwas verbergen – Greise, abgezehrte, von Krankheit entstellte Ruinen, die einst Menschen gewesen waren. Sie alle sammelten sich vor dem Tor – eine geheimnisvolle, stille Gesellschaft. Sie grüßten einander nicht, aber an kurzen Schulterbewegungen, an schnellen, versteckten Blicken, an einem Räuspern, einem Wenden des Oberkörpers sah Bell, daß sie sich kannten, daß eine verborgene Gemeinschaft, eine wortlose Übereinkunft – wie ein von Geschlecht zu Geschlecht vererbtes Freimaurerzeichen – sie verband. Schweigsam und müde ordneten sie sich in zwei Reihen, die allmählich, manchmal stockend, hinter dem Tor verschwanden und doch kein Ende nahmen, weil auf der Straße immer neue Gestalten erschienen, die sich wortlos den Wartenden anschlossen.

Der enge kellerartige Vorraum war durch eine hölzerne Barriere geteilt. Hinter der Barriere stand der Pförtner, ein hochgewachsener, hagerer Bursche, mit einer Habichtsnase und einem Glasauge.

»Oben oder unten?«, fragte er, als Bell herankam. Bell hielt die letzten zwei Pennystücke, die er aus den Taschen gegraben hatte, zwischen den Fingern:

»Unten«, sagte er und ließ das Geld in die geöffnete Hand des Pförtners gleiten.

Mit den anderen – die gleich ihm nicht die drei Pence besaßen, um in der ersten Etage zu übernachten – stapfte er durch einen unbeleuchteten Gang, dann ging es eine morsche Wendeltreppe hinab.

Was der Pförtner »unten« genannt hatte, war eine mittelgroße Halle, deren finstere Ecken sich ins Unendliche verloren. Wände und Decken waren aus porösem Stein, der von Nässe tropfte. Eine rauchende Petroleumlampe verbreitete mattes, unruhiges Licht. Es war hier dumpf wie in einem verlassenen Lagerkeller, der Boden aus hartgestampfter Erde hatte Löcher und Beulen. Im beweglichen Umkreis des Lampenlichts flatterten Spinnwebe von der Decke, die Schatten der Obdachlosen strichen verzerrt und unheimlich vergrößert die Wände entlang. Als Bell den Schlafsaal betrat, streifte eine aufgescheuchte Fledermaus über seinen Kopf hinweg. Modriger Staub flog unter seinen Schritten auf. Allmählich konnte er die Umgebung deutlicher unterscheiden. Er sah endlose Reihen primitiver, offener Kasten, deren helleres Holz aus dem Düster leuchtete. Erst als er näher hinblickte, erkannte er, daß es die Bettstellen des Asyls waren. Er setzte sich auf eines der leeren Lager und stützte müde den Kopf in die Hände.

Es schien ihm, als erlebte er nun noch einmal die ersten Jahre, die er in England verbracht hatte – nicht viel besser als diese bleichen Menschen, die um ihn die Reihen füllten. Aus allen Teilen des Kontinents, aus Ungarn, Galizien, Rußland, aus dem Balkan und dem Orient waren sie herübergekommen – gescheiterte Existenzen allesamt, die zu klein oder zu schwach waren, die Reise über das große Wasser zu unternehmen. Sie waren hier steckengeblieben – einige Straßen weiter floß die Themse, breitete sich zwischen massiven Hafenanlagen, spülte an Speicher und Docks … und weiter südlich lag das Meer, verschwiegen und gleich frei für alle, die es trug. Doch sie vermochten nicht, seine Küste zu erreichen; sie waren weit hergewandert, aber ehe sie den großen Ozean atmen konnten, mußten sie einsehen, daß sie auf diesem fremden Boden ebenso schwer, ebenso gebeugt einherschritten wie daheim – daß sie Juden, Ungarn, Wolgabauern, Armenier geblieben waren und bleiben würden. Sie trugen die Last, die Dürftigkeit, den kraftlosen Hauch ihrer Erde über den Kanal bis hierher, und dann brachen sie zusammen, und ihre Ohnmacht, ihre Makel häuften und drängten sich zu einem Sumpf, der Whitechapel hieß. Ja … das war das europäische »Amerika«, ein verfaulter und aus seiner Fäulnis ewig neu wuchernder Morast. Tausend verschwiegene Leben, tausend ungesprochene Geheimnisse, ungehörte Beichten waren darin versenkt, und seine Tümpel waren mit Blut bespritzt …

Vor Bells Augen bewegten sich unklare, verschlungene Kreise. Er sah gekrümmte Rücken … nackte, ausgemergelte Körper, über die kahle Bettstatt gebeugt … Arme, die sich wie hilflose Trümmer emporstreckten … er hörte abgerissene Teile von Gesprächen, deren Inhalt niemals zutage kommen würde … geflüsterte Sätze … Flüche der Trunkenheit. Nach und nach wurde es stiller um ihn; die Lampe beleuchtete geisternd die Schlafenden, die ausgestreckt in den Kasten lagen.

Bell erhob sich lautlos und begann sich langsam zu entkleiden. Mechanisch legte er jedes einzelne Stück zusammen, er spürte seine Bewegungen wie ziehende Gewichte, als würde er von einer Lähmung befallen …

Bells Füße und Ellenbogen stießen gegen das harte Holz, sein Kopf ruhte auf einer Roßhaardecke, die bei der leisesten Bewegung unter ihm knisterte und stach. Die Flügel der Fledermäuse klatschten raschelnd gegen das Gestein, das Petroleum in der Lampe summte schwelend. Bell konnte keinen Schlaf finden; jeder Knochen wurde ihm bewußt wie ein scharfer Schmerz. Mit offenen Augen lag er da und lauschte den Atemzügen, die von allen Seiten wie das Ächzen unsichtbarer Sägen durch das Dunkel feilten.

Und da schien es Bell mit einem Male, als befinde er sich in einer riesenhaften Gruft, in den Katakomben einer Stadt von Namenlosen – es war der Hauch von Gräbern, der ihn umgab, sie alle waren lebendig Begrabene, ja – die Bettstellen glichen Särgen … offenen Särgen.

Er empfand weder Schmerz noch Grauen mehr, er dachte ganz deutlich und klar, er war bei hellem Bewußtsein … und doch schien ihm alles seltsam und unwirklich.

Er hielt den Atem an, als könnte er damit seine Anwesenheit hier vor sich selbst leugnen, als sei er dadurch isoliert von jeder Berührung. Allmählich lösten sich seine Gedanken, flossen ineinander, er wurde stumpf und gleichgültig. Er verspürte nur noch die Wohltat des stillen Liegens. Er dehnte die Muskeln, etwas löste sich in ihm, das ihn mit unendlichem Gleichmut durchströmte. Er lag in einem weiten Nichts, er fühlte, wie das warme Blut durch seine Adern rann, alles war schwarz ringsum und undurchdringlich …

Ein leises Scharren ließ ihn auffahren; Schritte, die schlurfend näherkamen. Er richtete sich auf … und erblickte in dem Flackern der ersterbenden Lampe … Sergej Schebekoff, hochaufgerichtet zwischen den Reihen der Schlafenden.

Die Welt ohne Hunger

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