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Fünftes Kapitel

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Einige Wochen vergingen, und die staubige Hitze, die der kurze Sommer über die Stadt gelagert hatte, verschwand so unvermittelt, wie sie gekommen war. Die brodelnde Atmosphäre, die wie eine pulverisierte Welle über der City lastete, wich dem Herbst, der von der See herüber wehte.

Bell verbrachte Tage und Nächte – wochenlang – vor dem Schreibtisch, über Papieren, die mit Zahlen und Formeln bedeckt waren. Aber die Arbeit schritt nicht vorwärts. Er verließ kaum das Haus; Frau Trimbles brachte ihm die Mahlzeiten auf sein Zimmer. Er nickte bloß und sprach kein Wort. Auch sie war gegen ihre Gewohnheit stiller geworden, betroffen von soviel starrer Schweigsamkeit. Manchmal dachte sie, Bell müsse entweder auswärts oder gestorben sein, da Stunden vergingen, ohne daß ein Laut aus dem Zimmer kam. Nur nachts, wenn der Schein der Lampe durch die Türritzen auf den Flur fiel, konnte sie wahrnehmen, daß der Mann in der stillen Stube noch am Leben war.

Bell arbeitete mit der halsstarrigen Energie und dem Trotz eines Verzweifelten. Er hatte einen neuen Weg der arithmetischen Analyse eingeschlagen, er versuchte eine Ableitung nach der anderen. Aber – die Arbeit ging nicht vorwärts. Immer wieder kam er auf den toten Punkt, und er mußte einsehen, daß an ein Weiterkommen ohne die erforderlichen technischen Hilfsmittel nicht zu denken war. Den größten Teil der Nächte brachte er damit hin, ruhelos zwischen den öden Wänden auf und ab zu schreiten – er brauchte Geld, Geld, Geld … alles andere war zwecklos!

Er war noch nicht gesonnen, klein beizugeben … aber – das war nicht zu leugnen – es war nicht leicht, weiß Gott! In zwei Wochen würde er Frau Trimbles das letzte Geld bezahlt haben. Was dann? …

Es war Abend. Draußen schlugen die Regentropfen auf das Wellblech vor dem Fenster.

Bell saß auf dem harten Sofa. Sein Blick irrte durch das Zimmer. Die beiden Negerköpfe aus billigem Messing glänzten trübselig aus der dunklen Nische über dem Schrank. Die Vase auf dem Kaminsims war leer, die Lavendel waren schon lange zu nichts zerfallen. In der Ecke neben der Türe stand ein Koffer. Es war ein großer, fester Koffer aus gelbem Leder. Aber jetzt war er verstaubt, und er schien traurig darüber, daß er hier verlassen stehen mußte. Bell betrachtete ihn mit Augen, die nichts zu sehen schienen …

Er war verbissen immer geradeaus gelaufen und wollte es nicht merken, daß er gegen eine Mauer anrannte. Aber jetzt hielt er inne – er mußte rasten – und nun erst wurde er sich dessen bewußt, daß sein Leben während der letzten Wochen einsamer gewesen war als die langen Jahre hindurch, die er in einer Art atemloser Hetzjagd genommen hatte. Eine ungewohnte Weichheit überkam ihn bei dieser Betrachtung; er wurde unmutig darüber, aber es gelang ihm doch nicht gleich, sie abzuschütteln. Halbvergessene Erlebnisse tauchten wieder auf, und in einer unklaren Gedankenverbindung entsann er sich auch Vivian Grahams. Vivian, ja … Er hatte den Palast in Grosvenor Street nicht wieder aufgesucht, trotz ihrer herzlichen Aufforderung. – Unwillkürlich richtete er sich auf. Es schien ihm, als höre er deutlich jene Mahnung wieder, die ihm ein Unbekannter auf der Towerbrücke zugeflüstert hatte. Er fuhr zusammen. Ein flüchtiges Trostgefühl erfaßte ihn, trotzdem das Feuer im Ofen noch glühte. – Es war ganz dunkel geworden. Nichts war vernehmbar. Die verkohlten Holzscheite fielen lautlos zusammen. Jetzt scharrte es an der Türe; das war der Kater von Frau Trimbles … Der Regen lief wie Tränen an den Fensterscheiben herab …

Er sprang auf und beschloß, in eine Concert-Hall zu gehen. Irgendwohin, wo es Licht gab und viele Menschen.

Zwei Minuten später trat er aus der Haustüre. Naßkalter Zugwind fuhr ihm entgegen.

Es war Sonnabend, und die Varietés waren überfüllt; in den großen Häusern gab es nur noch vereinzelte Logenplätze. Doch nun, da Bell auf der Straße war, ließ ihn dies gleichgültig, denn das gewaltsame Bedürfnis nach Zerstreuung quälte ihn nicht mehr. Licht und Menschen – die gab es auch hier übergenug. Er wurde warm und fast gut gelaunt, wie er so in dem Gewühl dahinging, geschoben und gedrängt, und die Federn der Damenhüte wie flotte Wimpel über den Köpfen wehen sah. Aber dann setzte der Regen auf einmal mit ganzer Heftigkeit ein. Der Knäuel der Passanten zerteilte sich, und die triefenden Autos wurden gestürmt. Bell schüttelte sich zuerst unter dem strömenden Wasser, aber der Regen lief ihm hinter den Kragen, und er sah um sich, um irgendwo unterzukommen. Vor ihm stand ein riesenhafter Mann in blauer Portiersuniform mit blanken Knöpfen. Und über der Mütze des Mannes prangte eine bunte, transparente Reklametafel: »Madame Tussaud’s Panoptikum«.

Bell sah die Straße hinab – die Omnibusse hingen von Menschen, die Taxis waren sämtlich besetzt –, er hörte den Ausruf des Portiers (»Come in Gentlemen, the greatest show in the world!«) und trat ein.

Die Treppe zur ersten Etage war matt beleuchtet und wirkte nicht gerade ermutigend. Aber es war doch geheizt hier und trocken, während man draußen den Guß auf das Pflaster plätschern hörte. Bell stieg die Stufen empor. Auf halbem Wege begegnete er einer Dame, die kerzengerade dastand und versonnen vor sich hinstarrte. Er wollte zur Seite treten, aber sie bewegte sich nicht. Da bemerkte er, daß sie aus Wachs war und Glasaugen hatte. Und sofort empfand er jene sonderbar traumhafte, aus Neugier und Abenteuerlichkeit gemischte Stimmung, die derlei Schaubuden anhaftet.

Der erste Saal enthielt das anatomische Museum. Operierte Körperteile, abgeschnittene Gliedmaßen, Adern und Eingeweide starrten in bleichen Farben wie die Ausgeburten eines bösen Albdrucks von den Wänden. Ein Geruch nach Karbol und Äther schien von ihnen auszuströmen, trotzdem die auf Sammet gebreiteten Präparate reines Wachs waren. Bell ging ohne Aufenthalt zwischen den Schaukästen hindurch. Wie alle robusten Menschen, die nie mit Ärzten zu tun gehabt haben, empfand er Ekel vor diesen peinlich naturgetreuen Krankheitsbildern.

Im nächsten Saal befanden sich die historischen Persönlichkeiten. Auf einem großen Podest waren unter einem Thronbaldachin die Oberhäupter der europäischen Staaten in mehr oder weniger merkwürdigen Stellungen vereinigt. Der Zar und der Präsident von Frankreich hielten dem Kaiser von Deutschland die Hände zum Gruß entgegen, während die Königin von England der deutschen Kaiserin liebenswürdig zulächelte. Mit erhobenem Arm, den Fuß zum Schreiten ausgestreckt, den Kopf im Gespräch geneigt, glichen sie einer Gesellschaft, die inmitten angeregtester Unterhaltung durch einen zauberhaften Starrkrampf gebannt worden war. Etwas abseits, auf einem Sockel aus imitiertem Marmor, stand Napoleon einsam und finster, mit verschränkten Armen. Bell blieb vor ihm stehen und betrachtete ihn nachdenklich. Napoleon schielte ein wenig; das kam daher, daß von der einen Augenhöhle etwas Wachs abgeschmolzen war. – »Das ist der« … dachte Bell und wandte sich gleich darauf um, in dem peinlichen Empfinden, daß jemand hinter seinem Rücken stehe. Doch die Person, an deren Ellbogen er fast gestoßen wäre, war niemand anders als der amerikanische Freiheitsheld Washington, der stolz und teilnahmslos über ihn hinwegsah. Hinter Washington aber lag auf einer nicht mehr ganz reinlichen Bahre Iwan der Schreckliche. Sein quadratischer, bartumwallter Schädel war über das Kopfkissen zurückgebeugt, die Lippen waren halb geöffnet, als entließen sie die letzten Atemzüge. Die Brust mit der offenen blutigen Wunde hob und senkte sich mit dem Ächzen eines unsichtbaren Mechanismus. Das war das einzige Geräusch in dieser Halle, in der die Größten der Welt versammelt waren.

Am Ende seiner Wanderung kam Bell vor eine Türe, die ihn nach Entrichtung von zwei Penny Aufgeld in die »Schreckenskammer« einließ. Hier waren alle berüchtigten Verbrecher aufgestellt – von dem Lustmörder Jack the Ripper bis zu dem im Zuchthaus von Reading gestorbenen Professor Galieni, dem Vivisektor, der nicht davor zurückgeschreckt war, seine Experimente vom Tierreich auf die Menschen auszudehnen. Die Kindesmörderin Anne Rochefort grinste leichenhaft aus einer Ecke, mit spitzem Bauch über eine Wiege gebeugt, in der ein neugeborenes Kind sich unter dem Druck ihrer Hände zu Tode krümmte.

Bell machte langsam die Runde, indem er sorgfältig vermied, die Mörderpuppen mit dem Rock zu streifen. In der kalten Luft dieser Kammer wurde er allmählich gegen seinen Willen von einer nervösen Unruhe ergriffen. Es war ihm, als müßte er etwas erwarten, und er wußte nicht, was; es hätte ihn nicht gewundert, wenn plötzlich eine der Wachsfiguren Leben bekommen und ihn angesprochen hätte. Als er zu der letzten Gruppe trat, stieg die Spannung in ihm, er meinte jeden Augenblick, nun müsse etwas geschehen (als sollte er höchstpersönlich seinem Schicksal begegnen, dachte er und versuchte, über sich selbst zu lächeln), er tat noch einen Schritt und fuhr gleich darauf mit einem unterdrückten Laut der Überraschung zurück.

Vor ihm stand die seltsamste Puppe in dieser Sammlung der Absonderlichkeiten. Ein Mann von etwa vierzig Jahren, mit einem Gesicht von grausamer Häßlichkeit. Die grauen Haare waren über der Stirn kurz geschoren, die starken Backenknochen traten eckig unter der gelben Haut hervor. Es war die einzige Figur, an der sich keine Namenstafel befand. Sie trug einen schwarzen Radmantel, und sonderbar – – dieser Mantel war naß von Regen!

Am sonderbarsten aber war, was nun geschah: ein Lächeln veränderte die Züge des wächsernen Gesichts, die Puppe verbeugte sich und sprach mit tiefer Stimme:

»Guten Abend, Herr Bell! … Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Mein Name ist Sergej Schebekoff …«

Bell war nichts weniger als schreckhafter Natur – aber unwillkürlich lehnte er sich doch an den Einbrecherkönig Harald Finn, um seine Bestürzung zu verbergen.

Schebekoff zog die Hände aus den Manteltaschen – große, hagere Hände – und sagte, während er befriedigt die Knöchel aneinanderrieb:

»Es überrascht Sie ein wenig, wie? Der Zufall gestattet mir leider nicht, ein passenderes Lokal zu wählen.«

Bell hatte seine Ruhe völlig wiedergewonnen. Das Bewußtsein, daß er augenscheinlich seit Wochen von diesem Manne verfolgt wurde, und der primitive Maskenscherz, dem er doch für einen Augenblick zum Opfer gefallen war, machten ihn ärgerlich.

»Mein Herr«, sagte er kalt, »was bezwecken Sie eigentlich? Sie folgen mir auf die sonderbarste Weise! Sie drängen sich in meine Angelegenheiten! Wünschen Sie etwas von mir?«

Schebekoff machte eine verbindliche Geste.

»Nicht mehr und nicht weniger, als was Ihnen not tut«, erwiderte er mit einem versteckten Lächeln.

»Ich brauche nichts!« sagte Bell ungehalten.

»Ich denke doch …!« entgegnete Schebekoff und sah dabei Bell mit unangenehmer Vertraulichkeit in die Augen. »Ich denke doch, daß Sie nicht völlig allright sind. Oder wollen Sie behaupten, daß Ihr Besuch bei Bourdier Sie befriedigt hat?«

Bell sah den Anderen scharf an. Auch das wußte diese mysteriöse Erscheinung? … Er hatte ihn also im Green Park nicht zum ersten Male gesehen!

»Sie haben, wie es scheint, viel Übung darin, andere Leute auszuspionieren!« murmelte er.

»Nun …« Schebekoff hob seine Hände, als wollte er eine Schmeichelei abwehren. »Man ist nicht seit gestern auf der Welt. Aber bleiben wir bei Ihnen, Herr Bell. Sie befinden sich sozusagen in einer Sackgasse, nicht wahr? Wie denken Sie Ihr Unternehmen fortzusetzen?«

»Herr! … Bell wollte aufbrausen. »Machen wir ein Ende!« Er wandte sich halb ab, um zu gehen.

»Alfred Bell – –«, sagte Schebekoff, »Sie interessieren mich! Sie verstehen Ihre Zeit … wie Sie sie sehen. Doch ich fürchte, Sie stehen auf einem falschen Aussichtsturm.«

Bell kniff die Mundwinkel zusammen. Er hatte die größte Lust, auf dieses zudringliche Phantom loszuschlagen.

»Bemühen Sie sich nicht! Ich sagte Ihnen schon, daß ich keinerlei Interesse habe …!«

»Das schadet nichts«, erwiderte Schebekoff unbeirrt. »Ich – ich habe Interesse … das genügt mir.«

Er kam näher, Bell spürte seinen Atem, der ihm die Wangen streifte. Schebekoff senkte die Stimme zu einem rauhen Flüstern: »Ich glaube nicht, daß ich Sie überschätzt habe. Sie werden – hoffe ich – nicht mordstoll genug sein, an mir vorbeizugehen. He … Sie können nicht an mir vorbeigehen!«

Er machte eine Pause. Dann: »Kennen Sie das Märchen vom Mann ohne Schatten? Verdammt, wenn Sie nicht eine ganze Menge Ähnlichkeit mit ihm haben! Was Ihnen fehlt, ist das Negative, glauben Sie mir! Sie sind da, gewiß – aber was ist ein Licht ohne Dunkel, ein Schuß ohne Schall?«

Er senkte den Ton noch tiefer herab:

»Ich bin das Dunkel, das Ihnen fehlt, das Schwarz, ohne das alles Weiß eine himmlische Illusion bleibt! Sie und ich – wir könnten erobern … wenn Sie wollten …«

Er stand ganz nahe vor Bell, Gesicht an Gesicht; in seinen Mienen flackerte ein Feuer, das von innen zu leuchten schien.

Dann beugte er sich noch dichter heran, und es klang etwas Feierliches, fast Beschwörendes in seiner Stimme:

»Wie – wenn ich Ihnen gebe, was Sie suchen? Glauben Sie mir – ich allein bin imstande …!«

Er unterbrach sich und fügte dann in gewöhnlichem Tone hinzu:

»Aber davon sprechen wir ein andermal – wenn wir uns wieder treffen.«

Bell wandte sich kühl ab:

»Ich glaube nicht, daß es dazu kommen wird!«

Schebekoff hüllte sich fester in seinen Mantel:

»Ich bin überzeugt davon. – Bei den Särgen sehen wir uns wieder.«

Er nickte und schritt an dem Attentäter Lucheni vorbei zum Ausgang.

Die Welt ohne Hunger

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