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Zweites Kapitel

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Das Kanalboot »Lady Grace« dampfte mit achtundzwanzig Knoten Geschwindigkeit.

Vor dem scharf schneidenden Zug sprang das Wasser in rasenden Schaumwirbeln hoch, die sprudelnd abglitten und zu beiden Seiten siedend die eilende Fahrtrichtung zurückflossen. Der Sturmton johlte um die Antennen des drahtlosen Telegraphen; er fuhr wütend in die schwarze Höhlung des Schlotes, aus der ihm dickquellender Rauch entgegendrang; er platzte mit krachendem Hall an der glatten Holzwehr der Kommandobrücke; er jagte sprühend, durchnäßte Tauenden vor sich herfegend, über Deck. Er sauste rüttelnd um die luftdicht verschlossenen Luken der Bordwände; er knatterte am Heck, während er ohnmächtig das Fahrzeug voranfliehen ließ, eine Sekunde hoch über dem Gischtschweiß der Schrauben und stürzte dann breit auf die Wellen, die sich hochtürmten und mit ihm versanken.

Der Himmel war zerrissen. Ein kupferfarbener Mond beleuchtete düstere Wolken.

Das rote Wachtlicht auf Backbord irrte wie ein erblindeter Funke durch den Nebel.

In zweidrittel Höhe des Vordermastes glaste ein Scheinwerfer im Halbkreis über die Flut, die mit dunkelgrün brausenden Kämmen gegen das Schiff rannte. Der schmale, für schnellstes Tempo gebaute Rumpf rollte schwer; bald schien er nach Steuerbord, bald nach Backbord zu kentern, richtete sich jedoch stets wieder elastisch auf unter dem treibenden Druck der Maschinenkraft.

Das Vorderdeck war durch Seile abgesperrt. Die unaufhörlich über die Planken jachternden Wogen machten den Aufenthalt hier zur Unmöglichkeit. Von der Navigationskammer hinter dem Offizierssteg klangen in kurzen Abständen die Glockensignale durch den langgezogenen Brustton der Sirene.

Die Passagiere, die den Blitzzug Paris–Calais erst vor zehn Minuten verlassen hatten, saßen und lehnten mit schützend zum Festhalten ausgebreiteten Armen im Schiffssalon. Sie stießen an die Wände, an die Tische und Ecksofas und folgten mechanisch jeder Bewegung des schwankenden Bodens. Die an die Decke geschraubten Elektrizitätskörper zitterten unter der Erschütterung über bleiche Gesichter.

Zehn Minuten Fahrt! Und noch doppelt so lange würde es dauern, bis Dover erreicht war.

Noch zwanzig Minuten …

Die Luft war angefüllt von der verdunstenden Nässe der Tücher und Mäntel, vom Ledergeruch der Reisetaschen, von muffigen Sammetbezügen, Möbelholz und Dumpfigkeit.

Auch der rückwärtige Teil des Decks war leer. Niemand wagte sich auf die abschüssige, glitterige Fläche.

Zwischen der Reeling und der das Deck überragenden Außenfront des Salons – in dem schmalen Gang, den der Wind pfeifend durchfuhr – stand ein Mann. Er hielt sich mit beiden Händen an der obersten Stange der Barriere fest. Der Luftzug zerrte an seinem Schal und fegte sein Haar unter der Mütze hervor. Eiseskälte sprühte ihm ins Gesicht und blieb wie spitze Splitter in der Haut stecken.

Er hatte die Arme hart gegen die Reeling gestemmt und starrte in die Brandung, die das Schiff hochwarf und dann wieder einen gurgelnden Abgrund aufriß, um es in die Tiefe zu schlingen.

Bell stand da, vom Sturm umtost, und träumte.

Er sah sich daheim – als Zwölfjähriger – auf dem steinernen Hafenwall, gegen den auch solche grün spritzende Wellen angesprungen waren. Er sah sich im Gewirr der Hafengäßchen, im rußgeschwärzten Hof der Lötwerkstätte. Er hörte den Meister fluchen, und die Erinnerung an Schläge würgte ihn wie ein harter Griff.

Seine Mutter war jung gestorben. Er hatte sie kaum gekannt.

Schritte tappten vorbei. Die von Schweiß und Kohle gefleckte Gestalt eines Schiffsheizers, der heraufgekommen war, um eine Minute Luft zu schöpfen.

Bell blickte ihm sinnend nach. So hatte auch sein Vater ausgesehen, wenn er von seinen monatelangen Seefahrten heimkehrte. Bis er bei den Orkney-Inseln den Seemannstod fand und ihn als Waise zurückließ.

Immer schwerer legte sich dichter Nachtnebel auf den Kanal. Bell träumte weiter. Von nebelerfüllten Straßen der Küstenstadt, in der er seine Kindheit verbracht hatte.

Er schlug den Kragen seines Gummimantels hoch und schritt den schwankenden Gang längs des Schiffssalons hinab. Aus dem Maschinenhaus drang ein Dröhnen herauf. Bell kehrte sich gegen den Wind und blickte durch die angehauchte Scheibe. Im Kesselraum, in dem die Luft vor Hitze sichtbar zu stehen schien, schwangen fetttriefende Kolben um rotierende Achsen. Die Pression steigerte die Energien bis an die Grenze gewaltsamer Entladung, die Glühkohlen stürzten lohend zwischen die Eisenplatten der Heizwände, die Verschlußhauben, Rohre und Ventile sangen von gesättigtem Widerstand. Aus allen Ecken, Tiefen und Fugen des stöhnenden Schachtes tönte der Gang der Maschine.

Ja – das war der Gesang von Metall, dem er so oft gelauscht hatte … als er später als Schiffsjunge auf einem Frachtboot fuhr. Es war ein schmieriger Kahn gewesen, auf den er damals geraten war.

Vergeblich versuchte Bell sich dies Boot, auf dem er seinen ersten Schiffsdienst getan, in seinen Einzelheiten zu vergegenwärtigen. Der große Frachtdampfer, auf dem er bald darauf Dienst genommen und der die Chemikalien von Deutschland nach England beförderte, schob sich gewaltsam dazwischen.

Hamburg–Edinburg! Edinburg–Hamburg! Wie die Zeit vergangen war! Wie der Tag, an dem er seine letzte Schiffslöhnung einsteckte, weit zurück lag! Wie die rote Glut, die aus den Fronten der Edinburger Fabrikblocks schlug, ihn damals gelockt und gerufen hatte! Ja, er war allein gewesen, weiß Gott! Aber er hatte die Zähne zusammengebissen und war seinem inneren Drang gefolgt! …

Bell wandte sich von dem Maschinenhaus ab und ging wieder über das rollende Deck. Er sah nicht mehr die Mastlichter der »Lady Grace«, wußte nichts vom Heulen des Windes. Nach innen gekehrt, die Hände auf dem Rücken, durchwanderte er weiter die Vergangenheit.

Dann war die Anstellung in der Raffinerie zu London gekommen. Die Zeit, da er von jäh erwachtem Wissensdurst getrieben zum erstenmal erfuhr, daß es mit der bloßen Körperkraft ohne Kenntnisse kein Vorwärtskommen gab in dieser Welt.

Schwer, aber schön war es gewesen … tagsüber im Fabriksaal, am Abend das Studium der geliebten Bücher, bis ihn der Schlaf übermannte. Und dann war aus dem Wirrwarr all der Wissensgebiete, mit denen er sich, jede Feiertagsstunde nutzend, herumschlug, die Chemie als sein ureigenstes Gebiet herausgetreten. Bis ihn der leitende Chemiker der Fabrik eines Tages »entdeckte«.

Bell lächelte.

Entdeckt! Bis der Entdecker merkte, daß er ihm über den Kopf wuchs. Bis sie schließlich dahinter kamen, daß er über Wege nachsann, die ihre ganze geldbringende Fleisch- und Gemüsekonservierung gefährden konnten. Bis sie ihm, aus Furcht vor drohender Konkurrenz, lieber zwei kontraktlich ausstehende Jahresgehälter bezahlten und ihm rieten, die Chemie an den Nagel zu hängen.

Bell fuhr mit der Hand über seine Brusttasche. Einige hundert Schilling! Das war der Rest. Dann aber …

Eine breite Sturzwelle schlug über Bord; ihre Schaumketten klirrten an die Oberlichtfenster des Schiffssalons.

Bell ließ die Reeling los und lavierte zum Mitteldeck.

Er beugte sich über die Kajütentreppe und wollte hinabsteigen, als ein zuckender Lichtstreif über die Stufen zu ihm emporlief. Unwillkürlich trat er einen Schritt zur Seite; in der Helle, die aus dem sich erweiternden Spalt drang und gelbe Reflexe auf das Holz der Stufen warf, erblickte er eine Hand, die sich mit ruhigem Griff auf das Treppengeländer legte. Es war eine schmale Hand, und sie wuchs weich aus dem Gelenk, mit dünngliedrigen Fingern von einem außerordentlich zarten, fast durchscheinenden Weiß … die Hand einer Frau. Und gleich darauf tauchte unter dieser Hand ein Kopf empor, blond, schlank und aufrecht … Bell trat in das Dunkel neben der Treppenmündung und ließ die junge Dame vorbei. Sie trug einen Reisemantel, der sich eng um den Rücken legte. Es war ihm unmöglich, das Gesicht zu erkennen. Er sah nur ihre Schultern, die rund schienen von Jugend und Wärme. Das Licht aus dem Salon, das hinter die zufallende Türe zurückglitt, glänzte mit einem letzten Schimmer auf den Absätzen ihrer kleinen Stiefel. Bell sah ihr nach – wie sie auf dem Holzboden stehen blieb vor den ersten Stößen des Windes … Atem holend und mit den Füßen Halt suchend … und wie sie dann den Kopf aufwarf und tapfer weiterging, voran in die stürmende Seeluft. Er bemerkte, während sie im Nebel sacht seinem Blick entglitt, ihren Gang mit dem leichten Wiegen der Hüften; es schien viel Frische und Kraft in dieser Bewegung, und eine stumme Zärtlichkeit. Und als die Nebelwand sich hinter ihr zusammenschloß, undurchdringlich wie zuvor, da war es ihm, als hätte sie – mit einem kurzen Neigen des Kopfes – sich umgewandt.

Die Welt ohne Hunger

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